Universitäten in Niedersachsen
Von Katja John
Die moderne Hochschullandschaft Niedersachsens umfasst eine Vielzahl von höheren wissenschaftlichen Institutionen, die durch den Oberbegriff „Hochschule“ zusammengefasst werden können. Dazu zählen neben den Volluniversitäten auch spezialisierte Hochschulen wie Medizinische und Pädagogische Hochschulen, Technische Universitäten, Hochschulen für Musik und Kunst sowie Berufsakademien und anderweitig orientierte Fachhochschulen. Hochschulen sind in Fakultäten, das heißt in Lehr- und Verwaltungseinheiten zusammengehörender Wissenschaftsgebiete, gegliedert und ermöglichen es den Studierenden akademische Titel zu erwerben. Durch die als Bologna-Prozess bekannte Hochschulreform zur Vereinheitlichung der europäischen Hochschulstandards forciert, wurden in Deutschland seit 2002 zunehmend und seit 2016 vorrangig die Titel Bachelor und Master für den Abschluss von Grund- und Aufbaustudium verliehen. Der zusätzliche Erwerb eines Doktortitels hingegen ist nur an Universitäten sowie Hochschulen mit Universitätsstatus möglich, denen das Privileg des Promotionsrechts verliehen wurde.
Seit der jüngsten Universitätsgründung in Vechta im Jahr 2010 gibt es insgesamt neun namentlich als Universitäten geführte Hochschulen in Niedersachsen. Alle entwickelten in ihrer Bestandsgeschichte individuelle Profile und tragen zur vielfältigen Hochschullandschaft bei. Insbesondere die technisch-naturwissenschaftlichen sowie ingenieurswissenschaftlichen Fächer prägen das moderne Lehr- und Forschungsspektrum. Niedersachsen stellt mit Braunschweig und Hannover gleich zwei der insgesamt neun Universitäten in dem 2006 gegründeten Verband der TU9, der „Allianz führender Technischer Universitäten in Deutschland“. Zugleich decken die zumeist jüngeren Universitäten die interdisziplinäre Lehre und Forschung durch die Etablierung aller klassischen Fakultäten ab. Die Analyse der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichten der Universitäten ermöglicht es, die Effekte der Bildungs- und Hochschulreformen verschiedener Zeitspannen aufzuzeigen und einen prägnanten Entwicklungsstrang in der allgemeinen Hochschulentwicklung näher zu beleuchten. Die Universitäten in Niedersachsen sind, mit einer Ausnahme, aus bereits bestehenden höheren akademischen Bildungseinrichtungen des pädagogischen oder technischen Hochschulsektors heraus gegründet wurden.
Die Pädagogischen Hochschulen als Vorreiter der Volluniversitäten
Die Academia Julia Carolina in Helmstedt geht als älteste Universitätsgründung im heutigen Land Niedersachsen auf das 1571 in Gandersheim gegründete und 1574 nach Helmstedt verlegte Pädagogium Illustre zurück, eine höhere Schule mit bereits überdurchschnittlichen Leistungsanforderungen und einem vollakademischen Lehrbetrieb. Am 6.Juli 1574 wurde die Universität Helmstedt als erste protestantische Universität Norddeutschlands aus dem Pädagogium heraus gegründet und bezog die neuen, auf dem Bestand des Marientaler Stadthofs errichteten Universitätsflügel. Das als Juleum bekannte repräsentative Hauptgebäude wurde zwischen 1592 und 1612 am Collegienplatz errichtet und zählt heute zu den bedeutendsten Vertretern der norddeutschen Weserrenaissance. Die Universität musste ihren Lehrbetrieb aufgrund der Verwaltungsreform von Johannes von Müller, Direktor des öffentlichen Unterrichts im napoleonischen Königreich Westphalen, im Jahr 1810 einstellen. Dieses Schicksal ereilte ebenso die Universität Rinteln, die auch darüber hinaus eine vergleichbare Entwicklungsgeschichte aufweist. Seit 1610 bestand in Stadthagen das Gymnasium Illustre als Verbindung von Lateinschule und akademischem Gymnasium im ehemaligen Franziskanerkloster. Zwei Jahre nach der Gründung der Academia Ernestina im Jahr 1619 wurde diese nach Rinteln verlegt und hatte ihren Sitz im ehemaligen Jakobskloster, bis auch sie aufgrund der Reorganisation der französisch besetzten Gebiete an Ostern 1810 geschlossen wurde.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden aus einer Vielzahl von Lehrerseminaren Pädagogische Hochschulen und Akademien. 1969 wurden acht von ihnen zur Pädagogischen Hochschule Niedersachsen (PHN) zusammengefasst. Die Standorte in Göttingen, Hannover, Braunschweig, Hildesheim, Lüneburg, Oldenburg, Osnabrück und Vechta sollten dadurch gleichmäßig ausgelastet werden. Die Studienordnungen wurden dafür vereinheitlicht, die ehemals selbstständigen Hochschulen wurden sinngemäß zu Abteilungen der PHN umstrukturiert. In den 1970er Jahren wurden die Standorte wieder in eigenständige Hochschulen und Universitäten umgewandelt oder integriert. 1973 wurden die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und die Universität Osnabrück auf Grundlage der jeweiligen Abteilungen der PHN neu gegründet. Die Universität Osnabrück bezog das 1675 errichtete Barockschloss, in dem die Universitätsverwaltung noch heute ihren Hauptsitz hat. In Hildesheim und Lüneburg entstanden 1978 eigenständige Wissenschaftliche Hochschulen, die beide 1989 zu Universitäten ernannt wurden und seit 2003 von Stiftungen des öffentlichen Rechts getragen werden. Das Gebäude des ehemaligen Lehrerseminars Lüneburg wird noch heute von der Leuphana Universität genutzt. Die Pädagogischen Hochschulen in Göttingen, Hannover und Braunschweig wurden 1978 in die bestehenden Universitäten integriert. Die Pädagogische Hochschule in Vechta wurde 1974 zunächst in die Universität Oldenburg eingegliedert, 1995 als Hochschule Vechta wieder herausgelöst und besteht seit 2010 als Universität Vechta.
Die 1732 gegründete Georg-August-Universität Göttingen überstand die Verwaltungsreform von 1809/10, der die Universitäten in Helmstedt und Rinteln zum Opfer gefallen waren, und gilt dadurch als älteste noch existierende Universität Niedersachsens und bildet als tatsächliche Neugründung eine Ausnahme innerhalb der niedersächsischen Universitätslandschaft. Seit der offiziellen Eröffnung 1737 entwickelte sie sich innerhalb kurzer Zeit zu einer großen Volluniversität mit breit gefächertem Studienangebot, das aufgrund der Eingliederung der Pädagogischen Hochschule Göttingen um eine 1978 bis 1999 bestehende Erziehungswissenschaftliche Fakultät erweitert wurde. Als zweitgrößte Universität Niedersachsens liegt ihre besondere Bedeutung heute in der Grundlagen- und anwendungsorientierten Forschung sowie der Universitätsmedizin, im Rahmen der „Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder zur Förderung von Wissenschaft und Forschung an deutschen Hochschulen“ wurde sie von 2007 bis 2012 gefördert. Seit 2003 wird die Universität Göttingen von einer Stiftung des öffentlichen Rechts getragen.
Von der Polytechnischen Schule zur Technischen Universität
Im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau und dem Wirtschaftsaufschwung durch die zunehmende Industrialisierung nahm die Bedeutung der Technischen Schulen im Laufe des 19. Jahrhunderts enorm zu. Die dafür benötigten Fachleute bildete man in Gewerbeschulen, Baugewerkschulen und Bergakademien aus, die zu Polytechnischen Schulen und Technischen Hochschulen fortentwickelt und ausgebaut wurden. Niedersachsens universitäres Wissenschaftsprofil wird in hohem Maße durch die Forschung und Lehre der drei Technischen Universitäten in Hannover, Braunschweig und Clausthal-Zellerfeld definiert, deren Entstehungshistorie den vorher beschriebenen Entwicklungsstrang widerspiegelt.
Die Gottfried Wilhelm Leibnitz Universität Hannover ist Niedersachsens größte Universität und zugleich eine der führenden Technischen Universitäten Deutschlands. Ihre Entstehungsgeschichte beginnt mit der 1831 eröffneten Höheren Gewerbeschule, die bereits auf Fächer wie Baukunst, Mathematik, Maschinenbau und Chemie spezialisiert war. Die Schüleranzahl der Gewerbeschule nahm kontinuierlich zu, die Lehrfächer wurden zunehmend erweitert und 1847 wurde sie zur Polytechnischen Schule umbenannt. Der Schwerpunkt des 1745 gegründeten Collegium Carolinum in Braunschweig lag zunächst in der Vermittlung geisteswissenschaftlicher Fächer. Die zunehmende Bedeutung der Technischen Schulen wirkte sich wie in Hannover ab den 1830er Jahren auch auf das Collegium aus, das 1835 um eine technische und eine merkantilistische Abteilung erweitert und 1862 ebenfalls zur Polytechnische Hochschule umbenannt wurde.
1877 erfolgte der aus Kapazitätsgründen dringen notwendige Umzug der Schule in das neue Hauptgebäude in der Pockelstraße. Ein Jahr später, 1878, wurde die Polytechnische Schule zur „Technischen Hochschule Carolo-Wilhelmina“ ernannt. In Hannover trieb der Bauingenieur Wilhelm Launhardt als neuer Direktor der Polytechnischen Schule ebenfalls die Entwicklung zur Technischen Hochschule voran, nicht zuletzt durch die Reformierung des Studienplans. Als „Königliche Technische Hochschule“ bezog sie 1879 das Welfenschloss, welches eigens für die Hochschulnutzung aus- und umgebaut worden war.
Die Eröffnung der „Clausthaler montanistischen Lehrstätte“ im Jahr 1775 begründet sich in der Bedeutung der Rohstoffgewinnung aus den regionalen Erzlagerstätten. Zu Beginn beschränkte sich das Lehrangebot auf einen einjährigen Kurs für Berg- und Hüttenleute, welcher seit 1811 durch die „Bergschule für die Harzdivision“ gelehrt wurde. Nach dem kurzen Bestehen als Berg- und Forstschule wurde die Forstlehranstalt abgespalten und die Bergschule 1864 zur Königlichen Bergakademie erhoben. Zunächst blieb die Akademie mit der Bergschule verbunden, trennte sich 1906 von dieser und löste sich zwei Jahre später zudem aus dem Oberbergamt heraus. Ab 1966 trug sie den Namen „Technische Hochschule Clausthal“.
Vorangetrieben durch die steigenden Ansprüche der Industrie mussten die Technischen Hochschulen ihr akademisches Lehrangebot sukzessiv erweitern, die dafür dringend benötigten Seminargebäude, Forschungsinstitute, Labore und die zugehörigen Infrastrukturen führten zu etlichen Neubauten und Umnutzungen bereits vorhandener Gebäude an den Standorten. Als Reaktion erhob man die drei Technischen Hochschulen zu Hannover, Braunschweig und Clausthal, die ja bereits Universitätscharakter besaßen (Hannover hatte 1899 das Promotionsrecht erhalten, die Technische Hochschule Braunschweig im Jahr darauf, und Clausthal 1920), 1968 zu Technische Universitäten und strukturierte die Fakultäten. Bedingt durch die Eingliederung der ehemaligen Pädagogischen Hochschule Hannover wurde die Technische Universität Hannover 1978 zur Universität umbenannt. Seit 2006 trägt sie zu Ehren des Gelehrten Gottfried Wilhelm Leibnitz seinen Namen.
Die zunehmende Anzahl von Universitätsgründungen verkörpert eine Reaktion auf die moderne Bildungsrevolution, deren Anfänge im frühen 19. Jahrhundert liegen und die bis heute fortschreitet. Die Entwicklung des dreigliedrigen Bildungssystems, Bildungsreformbestrebungen, die Verfolgung Humboldt’scher Grundprinzipien und damit das Streben nach einer Einheit von Lehre und Forschung sowie die Modernisierung der Standorte und zunehmende Kooperationen mit außeruniversitären Einrichtungen und Forschungsinstituten begünstigte die Ausweitung des Fächerspektrums auf der einen und den Ausbau der Schwerpunktdisziplinen auf der anderen Seite; Entwicklungen, die noch heute am Gebäudebestand ablesbar sind.
Während sich der grundlegende Charakter der Universität selbst seit der frühen Neuzeit wenig verändert hat, wurden strukturelle und organisatorische Änderungen vorgenommen um der durch den Bologna-Prozess forcierten Vereinheitlichung der europäischen Hochschullandschaft zu entsprechen. Den erstrebten Vorteilen, wie die länderübergreifende Qualitätssicherung und Beschäftigungsfähigkeit der Absolventinnen und Absolventen, gegenüber steht die Kritik an dem schleichenden Verlust der studentischen Freiheit und Selbstbestimmung durch die zunehmende Anzahl obligatorischer Lehrveranstaltungen und die damit steigende Auslastung.