Jüdische Friedhöfe in Niedersachsen

Von Birgit Nelissen und Ulrich Knufinke

Nur wenige Einrichtungen jüdischer Kultur in Niedersachsen haben die Zeit des Nationalsozialismus überdauert. Dazu gehören die jüdischen Friedhöfe, die im Rahmen der Verfolgung zwar vielfach beschädigt oder der Verwahrlosung preisgegeben, bis auf wenige aber nicht völlig zerstört wurden. Heute bilden sie oftmals die einzigen noch sichtbaren Zeugnisse der vernichteten jüdischen Gemeinden.

In Niedersachsen sind derzeit ca. 220 jüdische Friedhöfe als Kulturdenkmale ausgewiesen, darunter auch Begräbnisplätze, auf denen keine Grabsteine oder Gräber mehr erkennbar sind. Für ihre Unterschutzstellung sind vor allem geschichtliche und wissenschaftliche, mitunter auch künstlerische und städtebauliche Gründe ausschlaggebend.

Die Friedhofsanlagen, die Grabstätten und die gelegentlich vorhandenen Gebäude bilden kulturhistorische Entwicklungen, Kontinuitäten und Wandlungen ab und erlauben Rückschlüsse auf das religiöse Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaften. Die Grabsteine mit ihren Inschriften geben Auskunft über die Lebens- und Glaubenswelt der einzelnen Mitglieder, ihre familiäre Zugehörigkeit und soziale Stellung. Außerdem dokumentieren die Begräbnisplätze in besonderer Weise nationale, regionale und lokale Geschichte. Auf einzelnen jüdischen Friedhöfen finden sich Denkmäler bzw. Gräber für jüdische Gefallene des Ersten Weltkriegs, für Kriegsgefangene, jüdische wie nicht-jüdische Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, so dass die Erhaltung der Begräbnisplätze auch als Gedenkorte und dauerhafte Ruhestätten für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft im öffentlichen Interesse liegt. Die meisten Friedhöfe zeigen zudem Spuren mutwilliger Zerstörung durch die nichtjüdische Bevölkerung. Viele jüdische Begräbnisstätten sind als sichtbar erhaltenes Erbe der jüdischen Kultur in die lokale Erinnerungskultur eingebunden. Oft erinnern Gedenksteine oder Mahnmale an die jüdischen Gemeinden und das Schicksal ihrer Mitglieder.

Im Judentum gehören die Einrichtung des Friedhofs und die Bewahrung der Grabstätten zu den wichtigsten Aufgaben jeder Gemeinde. Die Friedhöfe, hebräisch bet kwarot (Haus/Ort der Gräber), bet olam (Haus der Ewigkeit) oder bet chajim (Haus des Lebens) und im deutschen Sprachraum Guter Ort genannt, sind für die Ewigkeit angelegt. Ziel ist es, die Ehre und Ruhe der Toten sicherzustellen. Das Grab wird als unveräußerliches Eigentum des Verstorbenen angesehen, das nicht angetastet werden darf. Infolgedessen waren und sind die Kultusgemeinden bemüht, das Friedhofsgelände als Eigentum zu erwerben, es zu schützen sowie die Grabstellen durch ein Erinnerungsmal oder einen Grabstein zu kennzeichnen.

Von den mittelalterlichen jüdischen Friedhöfen, die es auch auf dem Gebiet Niedersachsens gab, sind keine Anlagen überliefert. Nach den Pogromen und Vertreibungen des ausgehenden Mittelalters konnten die sich später allmählich neu bildenden jüdischen Gemeinden nicht mehr auf den alten Friedhöfen bestatten. Der wohl älteste erhaltene neuzeitliche Friedhof ist der an der Oberstraße in Hannover aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Erst Ende des 17. Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert kam es vermehrt zur Anlage neuer Begräbnisstätten, als in verschiedenen Orten zunächst wenigen Familien die Ansiedlung gegen Geldzahlungen gestattet wurde.

Im 18. Jahrhundert etablierten sich in vielen Regionen des heutigen Niedersachsen kleine und kleinste Gemeinden, die entsprechende Begräbnisplätze benötigten. Wo jüdische Einwohner keine Friedhöfe einrichten durften – Grunderwerb wurde Juden nur ausnahmsweise gestattet –, mussten sie ihre Toten zu manchmal weit entfernten Friedhöfen transportieren. Das Phänomen der „Verbandsfriedhöfe“, das in Süddeutschland mit Beispielen mit hunderten Grabstellen zu beobachten ist, gab es in kleinerem Maßstab auch in Niedersachsen. So diente der Friedhof in Hoyerhagen den in zahlreichen umliegenden Orten verstreut lebenden Familien als Bestattungsplatz.

Charakteristisch ist die Lage vieler jüdischer Friedhöfe. Traditionell werden sie außerhalb der Städte und Dörfer angelegt. Landwirtschaftlich kaum nutzbare Flächen (steile Hänge, sandige Hügel etc.) waren zum einen wohl preiswert und zum anderen konnte die Gefahr einer späteren Zerstörung durch Ackerbau als gering erachtet werden. Antijüdische Haltungen könnten aber ebenfalls eine Rolle gespielt haben, wenn Friedhöfe auf abgelegenen, womöglich verrufenen Arealen angelegt werden mussten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden jüdische Friedhöfe aber auch häufiger in unmittelbarer Nachbarschaft zu oder sogar als Teil von neu angelegten christlichen bzw. kommunalen Friedhöfen.

Für die Belegung der Friedhöfe haben sich verschiedene, teils religionsgesetzlich begründete Gewohnheiten entwickelt. Die Gräber sind üblicherweise in Ost-West-Richtung angelegt, so dass der Verstorbene nach Jerusalem blickt, wobei es seit dem 19. Jahrhundert – bedingt durch ungünstige topographische Gegebenheiten – auch zu Abweichungen kommen kann. Zwischen den Gräbern soll ein Abstand von mindestens sechs Handbreit eingehalten werden. Die Setzung der Grabsteine erfolgt seit der Neuzeit in Reihen, oft in zeitlicher Abfolge des Ablebens. Separate Gräberreihen werden gelegentlich für Rabbiner, Mitglieder der Beerdigungsgesellschaften (hebr. chewra kadischa), Märtyrer, Frühgeburten und Kinder, selten für Kohanim (Nachfahren der Priester des Jerusalemer Tempels) eingerichtet.

Mit dem Anwachsen der (groß-) städtischen jüdischen Gemeinden im Laufe des Prozesses der so genannten „Verbürgerlichung“ der Juden im 19. Jahrhundert wandelte sich die Begräbniskultur. Rechtliche Gleichstellung und Teilhabe am bürgerlichen Leben waren Ziele, die auch in Norddeutschland allmählich erreichbar wurden. Ein für den deutschen Sprachraum wegweisender jüdischer Friedhof, der diese Entwicklungen widerspiegelt, entstand ab den 1860er Jahren in Hannover An der Strangriede, entworfen vom jüdischen Architekten Edwin Oppler. Die Anlage – ein ummauertes, durch Alleen in mehrere Felder gegliedertes Gräberfeld mit einem Vorbereich, in dem eine Trauerhalle, ein Leichenhaus und ein Wächterwohnhaus ihren Platz fanden – wurde vorbildlich für viele weitere (groß-) städtische jüdische Friedhöfe. Noch vor seiner Synagoge in Hannover gestaltete Oppler die Trauerhalle im von ihm für jüdische Bauten propagierten romanisch-gotischen „deutschen Styl“. Er sah diese historistische Einkleidung eines jüdischen Bauwerks als Ausweis der Teilhabe der jüdischen Bevölkerung am „deutschen Staate“. Die zahlreichen Grabsteine und die Familiengrabstätten an den Mauern geben einen Eindruck der jüdisch-bürgerlichen Begräbniskultur zwischen Historismus und Moderne.

Gärtnerisch gestaltete Anlagen mit Alleen blieben in Niedersachsen aber seltene Ausnahmen. So zeigt der Friedhof in Sulingen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts noch Reste einer Mittelallee. Andere Beispiele entstanden in größeren Städten, u.a. in Hildesheim (Peiner Straße) oder Braunschweig (Helmstedter Straße). Dort wurden, wie in Lüneburg und Osnabrück, Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts Trauerhallen errichtet. Sie umfassen sowohl Räume für die rituelle Leichenwaschung als auch für Trauerfeiern.

Wie die Friedhofsanlagen als Ganzes, zeugen auch die einzelnen Grabstätten und ihre Grabsteine von jüdischer Geschichte und Kultur. Ihre Gesamtzahl kann für Niedersachsen derzeit nur geschätzt werden. Legt man die Angaben des Zentralarchivs zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland (Heidelberg) zugrunde, befinden sich heute auf ca. 50 der jüdischen Friedhöfe Niedersachsens keine Grabsteine mehr. Die Hälfte der ca. 200 belegten Friedhöfe weist weniger als 30, etwa ein Viertel weniger als zehn Grabsteine auf. Lediglich 32 der Friedhöfe sind mit mehr als 100, fünf mit mehr als 500 Grabsteinen belegt. Die ältesten hierzulande erhaltenen Steine stammen aus dem 17. Jahrhundert und zeigen meist eine recht schlichte, einheitliche Gestaltung in zeittypisch barocken Formen. Aufwändige Schmuckformen sind ebenso selten wie symbolische Darstellungen, die dann aus dem Kontext der jüdischen Tradition entstammen. Hebräische Inschriften nennen die Namen der Verstorbenen und rühmen ihre Tugenden und Verdienste für die jüdische Gemeinschaft, schließend mit einem Segensspruch. Die allermeisten Steine wurden als Stelen ausgeführt, was der aschkenasischen Tradition der jüdischen Gemeinden entsprach. Auf wenigen Friedhöfen im Südosten und Süden Niedersachsens finden sich jedoch auch liegende Platten – die Gründe für diese ungewöhnliche Erscheinung, sonst üblicherweise auf sefardischen Friedhöfen anzutreffen, sind bislang unklar.

Das 19. Jahrhundert brachte einen Wandel in der Grabsteingestaltung: Die Formen und Materialien wurden vielfältiger, die Grabmale individueller – je nach Vermögen der Familien auch größer. Allmählich kamen nun deutsche Inschriften zu den hebräischen hinzu, in manchen Fällen verschwand das Hebräische gänzlich. Doch nicht nur die Steine wurden im bürgerlichen Zeitgeschmack gestaltet, auch die Grabkultur wandelte sich: Die einzelnen Gräber wurden eingefasst und mit Zierpflanzen individuell bepflanzt, was zuvor nicht üblich war und von orthodoxen Jüdinnen und Juden bis heute abgelehnt wird. Ein neues Element war schließlich die Familiengrabstelle.

Dass jüdische Begräbnisplätze eines besonderen Schutzes bedürfen, ist offenbar keine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Seit dem Mittelalter gab es mutwillige Zerstörungen von Grabsteinen und Friedhofseinfriedungen. Immer wieder traten auch Schäden infolge unbefugter Nutzung des Friedhofsareals durch die nichtjüdische Bevölkerung auf. Um die Friedhöfe vor Schändungen zu sichern, wurden sie mit Hecken, Zäunen oder Mauern gesichert. Am Friedhof an der Oberstraße in Hannover findet sich noch heute eine Inschrift von 1671, mit der die jüdische Gemeinde auf den fürstlichen Schutz der Anlage und auf Strafen für Beschädigungen hinwies.

Der Antisemitismus machte die Friedhöfe schon vor der Zeit des Nationalsozialismus immer wieder zum Ziel für Zerstörungen und Schändungen. Seit dem späten 19. Jahrhundert verstärkten sich die Angriffe auf die jüdischen Friedhöfe, in der Weimarer Republik nahm die Zahl der Schändungen erheblich zu. In der Zeit des Nationalsozialismus und insbesondere nach 1938 verschärften sich die Übergriffe. Grabsteine wurden umgeworfen und zum Teil zertrümmert, mancherorts wurden Gräber eingeebnet und Beisetzungsbücher verbrannt, seit 1940 wurden systematisch Metallteile von Gräbern, Einfassungen, Zäunen und Toren entwendet. Betroffen waren ca. 80 bis 90 Prozent der Friedhöfe. Der Friedhof in Diepholz wurde beispielsweise komplett zerstört, die zertrümmerten Grabsteine zum Teil für den Straßenbau verwendet. Wiederaufgefundene Bruchstücke sind heute Teil eines 1997 errichteten Mahnmals.

Trotz Vorstößen auf kommunaler Ebene, die auf eine Entwidmung und Übernahme der jüdischen Friedhöfe abzielten, verzichtete das NS-Regime auf eine reichsweite gesetzliche Regelung. Weiterhin galt das Bestattungsrecht der Länder, das eine Entwidmung nur bei Überbelegung und gesundheitspolizeilichen Gefahren vorsah. Mit der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember 1938, die den Zwangsverkauf jüdischer Immobilien ermöglichte, erwirkten einige Kommunen eine Genehmigung zur Entwidmung und Auflassung für die Friedhöfe, die schon seit längerem nicht mehr neu belegt wurden. Die meisten jüdischen Friedhöfe blieben jedoch bis Anfang der vierziger Jahre staatlicherseits weitgehend unangetastet. Nach der bis 1941 erfolgten Eingliederung der jüdischen Kultusgemeinden in die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ gingen die Friedhöfe formal in deren Eigentum über. Auf Weisung des Reichssicherheitshauptamtes musste sie die Friedhöfe ab 1942 den politischen Gemeinden zum Verkauf anbieten. Das Interesse war insgesamt aufgrund der Kosten und anderer Auflagen eher verhalten, sodass die Friedhöfe nicht systematisch zerstört wurden.

Nach Kriegsende hatten die meisten Friedhöfe die Zeit des Nationalsozialismus zwar überdauert, sie waren jedoch stark beschädigt und verwahrlost. Die jüdischen Gemeinden, die sich zuvor um die Unterhaltung der Friedhöfe gekümmert hatten, waren zum Großteil ausgelöscht. Mit der Frage, wie in Zukunft mit den jüdischen Friedhöfen verfahren werden sollte, beschäftigte sich in den 1940er Jahren ein rabbinischer Senat. Er legte fest, dass nicht belegte Teile verkauft werden dürften, Umbettungen ebenso wie der Verkauf belegter Friedhofsflächen allerdings unzulässig seien.

1950 ordnete der niedersächsische Minister des Innern die Instandsetzung der Friedhöfe an. Bis 1959 konnten insgesamt 170 Anlagen erneuert werden. Mit der laufenden Betreuung und Pflege der verwaisten Friedhöfe ist seit 1955 der fünf Jahre zuvor gegründete Landesverband der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen betraut, dem 1959/60 die pflegeverwaisten niedersächsischen jüdischen Friedhöfe übertragen wurden.

Die öffentliche Hand sah und sieht sich in besonderer Verantwortung für die jüdischen Friedhöfe. Ein drängendes Problem stellten die in der Nachkriegszeit sogar noch zunehmenden Friedhofsschändungen dar. Bis heute kommt es immer wieder zu Übergriffen. Allein für die Jahre 1999 bis 2020 verzeichnete der Landesverband der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen 117 Schändungen.

Die historischen jüdischen Friedhöfe sind ein in vielfacher Hinsicht aussagekräftiger Teil der jüdischen Topographie. Sie im historischen und räumlichen Kontext der weiteren jüdischen, aber auch der allgemeinen kulturellen Landschaft zu verorten ist das Ziel ihrer Präsentation im Denkmalatlas Niedersachsen. Die hier recherchierbaren Informationen werden durch laufende Forschungen stetig ergänzt und mit anderen Quellen vernetzt, zum Beispiel mit der Inschriftendatenbank Epidat des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts, Essen, dem Kulturerbeportal Niedersachsen und dem Bezalel Narkiss Index of Jewish Art, Jerualem. Die tiefere Kenntnis der jüdischen Friedhöfe als vielschichtige, komplexe Denkmale wird, so ist zu hoffen, auch zu größerer allgemeiner Aufmerksamkeit und damit zu ihrem anhaltenden Schutz führen.


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