Die Hochschullandschaft in Niedersachsen
von Jan Lubitz
Niedersachsen zeichnet sich durch eine große und vielfältige Hochschullandschaft aus, die sieben Universitäten, zwei Technische Universitäten sowie vier weitere Hochschulen mit Promotionsrecht umfasst. Hinzu kommen sieben staatliche Fachhochschulen und neun Fachhochschulen in privater Trägerschaft, außerdem zwei staatliche und sieben private Berufsakademien, die auch als duale Hochschulen bezeichnet werden. Diese insgesamt 38 Hochschulen bilden ein breites Angebot unterschiedlichster Lehrstätten.
Der Begriff der Hochschule beschreibt allgemein wissenschaftliche Einrichtungen, die Lehre und Forschung betreiben. Er umfasst sowohl Universitäten und gleichgestellte Hochschulen einerseits, die über das Promotionsrecht verfügen, sowie andererseits Fachhochschulen und Berufsakademien ohne Promotionsrecht. Im deutschen Bildungssystem, das zwischen schulischer Allgemeinbildung und beruflicher Ausbildung differenziert, stellen die Hochschulen den tertiären Bildungsbereich für die berufliche Ausbildung dar. Dieser schließt an den primären Bereich (mit den Grundschulen) und den sekundären Bereich (mit den weiterführenden Schulen) an. Die berufsqualifizierenden Abschlüsse der Hochschulen werden in Form von akademischen Graden vergeben.
Die 38 Hochschulen in Niedersachsen lassen sich auf sechs historische Ursprünge zurückführen. Als ältester, schon seit dem Hochmittelalter bestehender Typus, wurde die Universität mit dem Ideal der Einheit von Lehre und Forschung zum Leitbild aller nachfolgenden Hochschulen. Neben diesem Modell einer geisteswissenschaftlichen Gelehrtenschule entwickelte sich im 19. Jahrhundert das Polytechnikum als Lehranstalt für technische und naturwissenschaftliche Disziplinen. Ein drittes Schulmodell stellen die Lehrerseminare dar, die seit dem späten 18. Jahrhundert vielerorts zur Ausbildung von Lehrern gegründet wurden. Auf ähnlich lange Traditionslinien können auch die Kunstakademien als viertes Schulmodell zurückblicken. Ein fünfter Typus entstand im 19. Jahrhundert mit den Baugewerkschulen, die der akademischen Weiterbildung von Handwerkern dienten. Schließlich bilden technische Fachschulen wie Bergakademien oder Navigationsschulen den sechsten historischen Kern der niedersächsischen Hochschulen.
Die historische Entwicklung der Hochschullandschaft
Die Ursprünge der europäischen Hochschullandschaft reichen bis zur Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert zurück, als in Bologna und Oxford die ersten Universitäten entstanden. Der Begriff Universität, der sich vom lateinischen „universitas litterarum“ (Gesamtheit der Wissenschaften) ableitet, spiegelt ihren umfassenden Bildungsanspruch wider. Auf der Basis des antiken Kanons der „septem artes liberales“ (sieben freie Künste) – Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie – werden dort die geisteswissenschaftlichen Fächer Theologie, Jura und Medizin gelehrt. Diese Disziplinen kennzeichnen eine sogenannte „Volluniversität“.
Im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, der Epoche des Absolutismus, entstanden Universitäten als Gründungen lokaler Regenten. Die ersten Universitäten im heutigen Niedersachsen, die 1574 in Helmstedt gegründete Academia Julia sowie die seit 1619 in Rinteln ansässige Academia Ernestina, wurden beide 1810 während der Napoleonischen Besatzungszeit wieder geschlossen. Die älteste bestehende Hochschule in Niedersachsen ist daher die 1732 in Göttingen gegründete Georg-August-Universität. Nur wenig jünger ist das 1745 in Braunschweig gegründete Collegium Carolinum, das den Ursprung der heutigen TU Braunschweig bildet. Im 18. Jahrhundert hatte das Collegium Carolinum allerdings noch nicht der Rang einer Hochschule, sondern diente als „Gymnasium illustre“ vielmehr der Vorbereitung zum Besuch einer Universität.
Im 19. Jahrhundert kamen zur Förderung von Handel und Gewerbe neuartige Hochschulmodelle auf. Im heutigen Niedersachsen, das im 19. Jahrhundert noch in mehrere Kleinstaaten unterteilt war, entstanden gleich zwei von deutschlandweit neun Polytechnischen Hochschulen. 1831 wurde in der Hauptstadt des Königreichs Hannover die Höhere Gewerbeschule gegründet, ab 1835 entwickelte sich auch das Braunschweiger Collegium Carolinum infolge der Einrichtung einer technischen und einer merkantilistischen Abteilung zur Polytechnischen Schule. Parallel dazu entwickelte sich das Schulmodell der Baugewerkschule, die als Winterbauschule der akademischen Weiterbildung von Handwerkern diente. Die beiden 1830 in Holzminden und 1831 in Nienburg an der Weser eröffneten Schulen zählten zu den deutschlandweit frühesten Institutionen dieser Art. Ein norddeutsches Spezifikum stellten dagegen die Navigationsschulen dar, die 1832 in Elsfleth, 1842 in Papenburg, 1846 in Timmel und 1854 in Leer zur Ausbildung von seemännischem Nachwuchs eingerichtet wurden.
Die in der Gründerzeit etablierte Hochschullandschaft konsolidierte sich nach Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871. Die beiden Polytechnischen Schulen in Braunschweig und Hannover wurden in Technische Hochschulen umbenannt und durch die Verleihung des Promotionsrechts mit den Universitäten rechtlich gleichgestellt. Zudem entstanden, im Zuge des zeitgenössischen Baubooms, drei neue Baugewerkschulen in Buxtehude, Oldenburg sowie in Hildesheim. Im Lehrerausbildungswesen wurden durch die Einrichtung etlicher Lehrerseminare neue Grundlagen geschaffen.
Die moderne Hochschullandschaft im 20. und 21. Jahrhundert
Nach dem Ersten Weltkrieg wandelte sich die Hochschullandschaft nur wenig. In der Weimarer Republik kam es zur Neuordnung der Lehrerausbildung in den preußischen Provinzen. Die bestehenden Lehrerseminare wurden in einer 1925 gegründeten Pädagogischen Akademie in Hannover zusammengefasst, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1934 in eine Hochschule für Lehrerbildung umgewandelt wurde. Im benachbarten Freistaat Braunschweig wurde 1937 mit der Bernhard-Rust-Hochschule eine weitere zentrale Lehrerbildungsstätte eingerichtet. Neben diesen beiden Pädagogische Hochschulen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg im 1946 neu gebildeten Land Niedersachsen weitere Lehrerausbildungsstätten in Göttingen, Lüneburg, Oldenburg, Celle, Alfeld, Vechta und Wilhelmshaven gegründet, die 1969 zusammengefasst wurden.
Die Hochschullandschaft in der jungen Bundesrepublik geriet nach den Wirtschaftswunderjahren in eine neue Phase, als der Pädagoge Georg Picht 1964 das Schlagwort der „Bildungskatastrophe“ prägte. Damit prangerte er die im internationalen Vergleich zu geringen Zahlen der Abiturienten und Studierenden an, und warnte vor langfristigen Gefahren für die junge Demokratie. Infolge dessen wurden zahlreiche Reformanstrengungen unternommen, die vor allem in der Zeit der sozial-liberalen Regierungskoalition zu tiefgreifenden Umbrüchen im Bildungswesen führten. Bundesweite Folgen waren unter anderem die Einführung der Gesamtschule als neuem Schulmodell, das 1971 verabschiedete Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAFöG) oder das 1976 in Kraft getretene Hochschulrahmengesetz.
In Niedersachsen kam es im Zuge dessen 1968 zur Umwandlung der drei Technischen Hochschulen in Hannover, Braunschweig und Clausthal in Technische Universitäten. 1969 fusionierten acht Lehrerausbildungsstätten zur Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, 1971 wurden mehrere technische Fachschulen zu sieben Fachhochschulen zusammengelegt. Zum Winter 1973/74 wurden in Oldenburg und Osnabrück auf der Basis der dort bestehenden Pädagogischen Hochschulen zwei Universitäten gegründet. 1978 wurde die Pädagogische Hochschule Niedersachsen wieder aufgelöst, die vier Standorte in Hannover, Braunschweig, Göttingen und Vechta wurden in die benachbarten Universitäten eingegliedert. Zugleich wurden die Pädagogischen Hochschulen in Lüneburg und Hildesheim in Hochschulen umgewandelt, die beide schließlich 1989 in den Rang von Universitäten erhoben wurden.
In den 1980er und 1990er Jahren kamen diese Reformprozesse weitgehend zum Erliegen. Erst mit dem 1999 initiierten Bologna-Prozess zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums sowie den 2001 vorgestellten Ergebnissen der Pisa-Studien nahm die Entwicklung der Hochschullandschaft wieder neue Fahrt auf. Der Staat als alleiniger Hochschulträger zog sich teilweise zurück, damit Hochschulen flexibler auf neue Anforderungen reagieren können. Dafür wurden 2003 fünf niedersächsische Hochschulen in Stiftungen öffentlichen Rechts umgewandelt, parallel dazu entstanden vier neue Fachhochschulen in privater Trägerschaft. Im Zuge des Bologna-Prozesses wurden die Studienabschlüsse auf das internationale Bachelor-Master-System umgestellt. Außerdem gründete sich Anfang 2006 in Braunschweig der Verband TU9 als eine Allianz traditionsreicher deutscher Technischer Universitäten, von denen mit der Leibniz Universität Hannover und der TU Braunschweig gleich zwei Einrichtungen aus Niedersachsen stammen. Seit 2005 wurden mit der Exzellenzinitiative deutschlandweit mehrere Zukunftskonzepte und Exzellenzcluster gefördert, darunter auch einige Hochschulstandorte in Niedersachsen. Als Nachfolger dieser 2012 ausgelaufenen Förderung wurde 2016 das Programm der Exzellenzstrategie aufgelegt, von der wiederum auch Niedersächsische Hochschulen profitieren konnten.
Die Hochschullandschaft in Niedersachsen präsentiert sich somit heute überaus vielfältig. Die hier ansässigen 38 Hochschulen decken ein breites Spektrum ab, das von der Berufsqualifikation bis zur internationalen Spitzenforschung reicht. So haben mehr als ein Dutzend Nobelpreisträger in Niedersachsen studiert oder an einer der Hochschulen gelehrt und geforscht. Mit ihren langjährigen Traditionen sowie ihrer Innovationskraft stellen die Hochschulen einen wichtigen Bestandteil für den Reichtum der Kulturlandschaft in Niedersachsen dar.