Evangelische Frauenklöster und Stifte in Niedersachsen
Von Jens Reiche
„Kloster“ und „evangelisch“ sind zwei Konzepte, die in landläufiger Vorstellung nur schwer zusammengehen. Tatsächlich existieren in Niedersachsen aber siebzehn Klöster und Stifte, die bis heute von Frauen evangelischen Glaubens bewohnt werden. Niedersachsen steht damit weltweit nahezu allein, da die wenigen andernorts bestehenden evangelischen Damenstifte oder Frauenklöster fast nirgendwo mehr ein gemeinsames Leben mit Residenzpflicht kennen.
Evangelische Klöster und Stifte unterscheiden sich von den katholischen Klöstern in einigen Punkten ganz wesentlich. So gibt es kein bindendes Gelübde, und eine als solche erkennbare Klostertracht wird fast überall nur zu besonderen Anlässen angelegt, man nennt sie daher „Ornat“. Die Frauen werden nicht als Nonnen, sondern als „Konventualinnen“ (in den Stiften: „Kapitularinnen“) bezeichnet. Die meisten der Frauen haben oder hatten einen Beruf außerhalb des Klosters, viele waren verheiratet und haben Kinder. Auch sind die Konventualinnen beim Klostereintritt längst erwachsen. Sie führen auch im Kloster einen eigenen Haushalt. Mit den katholischen Klöstern übereinstimmend ist der Wunsch der Frauen, sich für eine Gemeinschaft einzusetzen und den christlichen Glauben aktiv zu leben. Auch evangelische Klöster und Stifte sind hierarchisch organisiert, denn eine Äbtissin leitet den Konvent.
Die evangelischen Klöster und Stifte Niedersachsens sind mit einer Ausnahme keine evangelischen Gründungen, sondern gehen in mittelalterliche und damit vorreformatorische Zeit zurück. Unter ihnen sind ehemalige Kanonissenstifte, Augustinerchorfrauenstifte, Benediktinerinnenklöster und Zisterzienserinnenklöster; ihre Gründungen liegen zwischen dem 9. Jahrhundert und dem frühen 13. Jahrhundert. In den meisten Territorien des heutigen Niedersachsen führten die Landesherren im 16. Jahrhundert die Reformation ein, nur die geistlichen Gebiete blieben zum Teil katholisch. Unter den welfischen Gebieten machte das Fürstentum Lüneburg(-Celle) 1527 den Anfang, gefolgt 1542 vom Fürstentum Calenberg-Göttingen und 1569 vom Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Die Landesherren gestalteten die Einführung des neuen Glaubens im Einzelnen unterschiedlich aus, in keinem der welfischen Territorien jedoch wurden die Klöster aufgelöst – anders als z. B. in der Grafschaft Oldenburg. Wichtig war allen Landesherren aber der Zugriff auf klösterliche Einkünfte, sodass sich die finanzielle Lage der Klöster sehr schnell und dauerhaft verschlechterte. Dies ist sicher ein Grund dafür, dass in den folgenden zwei Jahrhunderten dann doch die meisten der Klöster aufgehört haben zu existieren – ganz abgesehen davon, dass von den Reformatoren das Lebensmodell „Mönch“ oder „Nonne“ ganz grundsätzlich in Frage gestellt worden ist. Die in den Klöstern lebenden Frauen wurden mit der Reformation – nicht selten gegen heftigen Widerstand – zur Annahme des neuen Glaubens gezwungen und mussten auch ihre Lebensweise in der Folge langsam umstellen. Konventualin in einem Kloster zu werden, blieb jedoch über lange Zeit für junge Frauen, die nicht heiraten konnten oder wollten, eine attraktive Alternative; heute sind es dagegen überwiegend ältere Frauen, die ins evangelische Kloster eintreten.
Von den Frauenklöstern in Calenberg-Göttingen bestehen bis heute fünf (Barsinghausen, Mariensee, Marienwerder, Wennigsen und Wülfinghausen), von denen in Lüneburg sechs (Ebstorf, Isenhagen, Lüne, Medingen, Walsrode und Wienhausen) und in Braunschweig-Wolfenbüttel zwei weitere, St. Marienberg in Helmstedt und das Kloster zur Ehre Gottes in Wolfenbüttel. Die vier Stifte schließlich gehörten ursprünglich zu nichtwelfischen Territorien – Bassum zur Grafschaft Hoya, Börstel zum Hochstift Osnabrück, Fischbeck und Obernkirchen zur Grafschaft Schaumburg –, in denen ebenfalls zu unterschiedlichen Zeitpunkten die Reformation eingeführt wurde. Für diese vier Gemeinschaften hat sich der Begriff „Stift“ eingebürgert, inhaltlich ist der Unterschied zu den Klöstern gering.
In den Jahrhunderten nach der Reformation war die wirtschaftliche Lage der Calenberger Klöster von allen die beste, weil dort schon von der Reformatorin, Herzogin Elisabeth, die klösterliche Güterverwaltung vom Landeshaushalt getrennt worden war und allmählich vereinheitlicht wurde. 1818 entstand hieraus die Klosterkammer Hannover als staatliche Stiftungsverwaltung mit eigenen Einkünften aus ihrem Land- und Forstbesitz. Das Modell der Klosterkammer Hannover wurde in der Folge so erfolgreich, dass 1937 auch die Lüneburger Klöster und 1946-1949 die vier Stifte unter ihre Aufsicht kamen; 1963 übernahm die Klosterkammer dann sogar vom Land die Leistungsverpflichtungen für die Lüneburger Klöster. Eine ähnliche Aufgabe nimmt im ehemaligen Land Braunschweig die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz wahr.
Die mittelalterlichen Klosteranlagen
Der frühen Gründung der Frauenklöster und Stifte und der kontinuierlichen Nutzung der Anlagen bis heute ist es zu verdanken, dass fast alle von ihnen auch wichtige Baudenkmale aus mittelalterlicher Zeit sind. Nur das Kloster zur Ehre Gottes in Wolfenbüttel ist eine evangelische Neugründung. Fünfzehn der sechzehn im Mittelalter gegründeten Klöster haben ihre mittelalterliche Kirche bewahrt und acht zusätzlich auch wesentliche Teile der Klostergebäude. Nicht selten blieben auch umfangreiche Teile der mittelalterlichen Kirchen- und Klosterausstattungen an Ort und Stelle erhalten: Altäre, Skulpturen, Wand- und Glasmalereien, Möbel und Textilien, aber auch Bücher, Archivalien und sogar Alltagsgegenstände. Besonders die Lüneburger Klöster Ebstorf, Isenhagen, Lüne und Wienhausen sind für die immense Zahl und die Qualität ihrer Ausstattungsstücke aus dem 13. bis 16. Jahrhundert in der ganzen Welt berühmt.
Zurück zur Architektur: Bedingt durch die strengen Klausurvorschriften durften die Nonnen im Mittelalter nicht bei der Gemeinde sitzen, sondern erhielten einen eigenen, erhöhten Bereich mit sehr eingeschränkter Hör- und Sichtverbindung zur Kirche. Diese Empore wurde auch später in den evangelisch gewordenen Frauenklöstern fast überall beibehalten und wird bis in die Gegenwart für die (allerdings heute selteneren) gemeinsamen Gebete genutzt. Die Mehrzahl der Klosterkirchen hat nur ein einziges Schiff, sind also Saalkirchen, bei denen im Westen eine Nonnenempore eingebaut ist. Etwas seltener ist eine Empore im Querhaus. Neben den Saalkirchen gibt es aber auch mehrschiffige Kirchen, insbesondere bei den Damenstiften, die ohnehin oft größere und aufwendigere Kirchen als die Frauenklöster haben, zum Teil mit mächtigen Westtürmen. Entsprechend den allgemeinen regionalen Trends des Kirchenbaus sind die älteren der mehrschiffigen Kirchen Basiliken mit höherem Mittelschiff, die jüngeren seit dem 13. Jahrhundert Hallenkirchen. Die Kirchen spiegeln in ihrer typologischen und gestalterischen Vielfalt die Strömungen des Kirchenbaus ihrer Zeit und Region wider, aber auch die spezifischen Anforderungen eines Frauenkonvents.
Bei den Klostergebäuden (der „Klausur“) führte die Regelhaftigkeit klösterlichen Lebens schon im Mittelalter dazu, dass bestimmte Räumlichkeiten und ihre Anordnungen immer wiederkehren. Wegen der Häufigkeit der Stundengebete, die bereits vor Einbruch der Morgendämmerung begannen, bot es sich an, den gemeinsamen Schlafsaal (Dormitorium) unmittelbar neben die Nonnenempore ins erste Obergeschoss der Klausur zu legen. Im Spätmittelalter wurden die Dormitorien dann in Zellen unterteilt. Erst weit nach der Reformation, im fortgeschrittenen 17. oder im 18. Jahrhundert, bekam jede Konventualin eine eigene Wohnung. Zu etwa der gleichen Zeit gab man in den evangelischen Klöstern den gemeinsamen Tisch auf. Damit entfiel auch die Notwendigkeit eines Speisesaals (Refektorium oder Remter), jedoch ist der Raum in mehreren Klöstern noch vorhanden. Praktischerweise lag er stets neben der Küche. Nach Möglichkeit stand vor dem Refektorium ein Brunnen. Schließlich muss noch der Raum erwähnt werden, in dem die Nonnen unter dem Vorsitz der Äbtissin Besprechungen abhielten, der Kapitelsaal. Im Allgemeinen lagen all diese Räume in regelmäßiger Anordnung um einen rechteckigen Hof, der auf allen vier Seiten von einem überdeckten Gang umgeben ist, dem Kreuzgang.
Bisher wurden nur Baulichkeiten aufgeführt, die von den Nonnen unmittelbar benutzt wurden. Allerdings wäre ein Leben im Kloster unmöglich gewesen, wenn nicht um diese herum weitere, der Versorgung dienende Gebäude gelegen hätten: Werkstätten wie die Mühle, die Bäckerei oder die Schmiede, Wohnungen für das Dienstpersonal und den Propst bzw. Verwalter, landwirtschaftliche Gebäude, Speicher und vieles mehr. Für eine Nonne vor der Reformation waren diese Gebäude in der Regel gar nicht zugänglich, sondern bereits ein Teil der Außenwelt. Trotz des überall reduzierten und vielfach erneuerten Baubestands ist der Klosterhof in den meisten Klöstern noch heute ablesbar, und oft blieb sogar die Funktion als Klostergut erhalten.
Evangelische Frauenklöster des Barock
Die evangelischen Klosterneubauten der Barockzeit in Niedersachsen sind weltweit ein absoluter Sonderfall, denn in den evangelisch gewordenen Territorien Mittel- und Nordeuropas wurden zwar viele ältere Klöster weitergenutzt, komplette Neubauten sind aber nur in unserem Raum entstanden. So wurden die fünf Calenberger Klöster alle im Barock neu erbaut. Den Anfang machte dabei Marienwerder ab 1688, gefolgt von Barsinghausen, Wennigsen, Mariensee und als letztem Wülfinghausen, das 1740 fertig wurde. Die Bauzeiten folgen aufeinander, ohne sich zu überschneiden, wahrscheinlich aufgrund der Ertragslage der Klosterkasse. Die barocken Calenberger Klöster sind schlichte, wenn auch großzügig bemessene, vierflügelige Anlagen von zwei Geschossen. Die Flügel sind um einen rechteckigen Hof angeordnet, um den in beiden Geschossen ein Gang geführt ist – also ähnlich wie ein Kreuzgang, doch ist die Wand zum Hof geschlossener und zeigt, dass der Gang mehr ein Korridor zur Verbindung der Wohnungen ist als ein echter Kreuzgang. Der Bauschmuck beschränkt sich auf Fensterrahmen und Eckquaderungen, selbst die Eingänge blieben schmucklos. Immerhin wurde als Baumaterial fast überall Stein gewählt, nur einzelne Bauteile sind in Fachwerk ausgeführt.
Eine ganz ähnliche Anlage wurde im Lüneburger Kloster Isenhagen errichtet, doch beschränkte man sich dort auf den Neubau von etwas mehr als zwei Flügeln, der Rest der mittelalterlichen Anlage blieb stehen. Der Neubau von Walsrode, ebenfalls eins der Lüneburger Klöster, besteht nur aus zwei eingeschossigen Flügeln, die im rechten Winkel zueinander stehen, ist also wesentlich bescheidener. Da der dort vorhandene Platz nicht ausreichte, wurden später Einzelwohnhäuser hinzugebaut. Das Stift Bassum riss ebenfalls die mittelalterlichen Stiftsgebäude ab und ersetzte sie durch Neubauten von separat stehenden Häusern, darunter die Abtei, ein Fachwerkbau mit Wohnungen für die Äbtissin und den Propst sowie einem Kapitelsaal. Schließlich sticht im Lüneburgischen der Neubau des Klosters Medingen hervor. Das mittelalterliche Kloster brannte 1781 ab, und mit Unterstützung des Landesherrn wurde ein großzügiger Neubau errichtet, der in jeder Hinsicht mit dem Hergebrachten bricht: Zentrum der Anlage ist die Kirche, ein Zentralbau nach modernsten liturgischen Vorstellungen, an den auf beiden Seiten lange, zweigeschossige Flügel angebaut sind, in denen insgesamt 27 fast identische Wohnungen sowie der Kapitelsaal und der Festsaal untergebracht sind. Der Neubau des Klosters Medingen ist darauf ausgelegt, den Konventualinnen ein komfortables Wohnen zu ermöglichen, unter gleichzeitiger Bereitstellung von Räumen für das gesellschaftliche Leben und für den Glauben. Der hohe Anspruch drückt sich auch in der noblen, wenngleich zurückhaltenden Außengestaltung aus. Mit Medingen ist ein anspruchsvoller, schlossartiger Typenentwurf für ein evangelisches Frauenkloster geschaffen worden, der allerdings nie eine Nachfolge gefunden hat.
Auch nach dem 18. Jahrhundert sind die Klöster den sich wandelnden Bedürfnissen immer weiter angepasst worden, wenn auch behutsam. Klosterarchitektur ist kein statisches Phänomen, sondern über die Zeiten bis heute einem ständigen Wandel unterworfen gewesen. Als globale Tendenz lässt sich dabei ein Individualisierungsprozess konstatieren, der sich in einer Zunahme der Wohnbereiche und einem Rückgang der Gemeinschaftsräume ausdrückt. Doch kein einziges Kloster verzichtet auf gemeinschaftliche Räume ganz, denn die Gemeinschaft gehört zum Klosterleben.
Zum Weiterlesen:
- Evangelische Klöster in Niedersachsen, Rostock 2008.
- Dolle, Josef (Hrsg.): Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, 4 Bde., Bielefeld 2012.
- Lembke, Katja; Reiche Jens (Hrsgg.): Schatzhüterin. 200 Jahre Klosterkammer Hannover, Ausstellung im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover, 20.4.-12.8.2018, Kat., Dresden 2018, darin u. a.: Reiche, Jens: Die Klostergebäude, S. 68-81.