Das Fagus-Werk in Alfeld – UNESCO Weltkulturerbe
Ein Industriebau wird Welterbe
Im Jahr 2011 schrieb die UNESCO das Fagus-Werk aufgrund seines Outstanding Universal Value (OUV), d.h. des außerordentlichen universellen Werts, in die Liste des Erbes der Menschheit ein. Seit dem ersten Tentativvorschlag von 1978 in Wartestellung, hatte das Land Niedersachsen den vom Landesamt für Denkmalpflege erarbeiteten Antrag 2009 bei der UNESCO eingereicht. Mit der Eintragung in die Welterbeliste erkannte die UNESCO an, dass das Fagus-Werk eine Initiale der modernen Baukunst im 20. Jahrhundert ist und als solche eine weltweite Wirkung hatte.
Aber was ist mit dieser weltweiten Bedeutung im Einzelnen gemeint? Architekturgeschichtlich stand das Fagus-Werk, in dem seit Produktionsbeginn Schuhleisten hergestellt werden – und ursprünglich auch die dafür gebräuchlichen Stanzmesser – nicht nur am Beginn der Bauhausbewegung bereits kurz vor dem Ersten Weltkrieg; es symbolisierte darüber hinaus eine Synthese von europäischen und nordamerikanischen Innovationsbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Beispielhaft bildete es in der Anordnung der Gebäude die Funktionalität der industriellen Arbeitsabläufe ab und markiert damit auch einen epochalen Wandel in der Industrieproduktion, der bis heute Gültigkeit besitzt.
Das innovative Belichtungskonzept der Architektur spiegelt außerdem eine richtungweisende industrielle Ästhetik und damit einhergehend die Humanisierung der industriellen Arbeit wider. Der Unternehmensgründer Carl Benscheidt hatte sich von der maximalen Gewinnorientierung der Industriearbeit abgewandt, um die Betriebsproduktivität in seinem Unternehmen auf einem ethisch verantwortlichen und sozial verträglichen Kurs zu steuern. Bis heute wird dieses unternehmerische Bewusstsein im Fagus-Werk gelebt und gepflegt. Da der ursprüngliche Baubestand nahezu unverändert erhalten ist und alle Reparaturen an den ursprünglichen Gebäuden mit Respekt vor dem Original erfolgten, sind auch die hohen UNESCO-Anforderungen an die Unversehrtheit (Integrity) und an die Echtheit (Authenticity) der Werksanlage erfüllt.
Die unter dem Markennamen Fagus, dem lateinischen Wort für Buchenholz, bekannte Schuhleistenfabrik in Alfeld ist ein im Kernbereich rechteckig konzipierter Gebäudekomplex mit unterschiedlich dimensionierten Funktionsbauten, die überwiegend zwischen 1911 und 1915 errichtet und bis 1925 in Teilen erweitert und ergänzt wurden. Zwischen Herbst 1910 und Frühjahr 1911 von dem Hannoverschen Industriearchitekten Eduard Werner auf einem Grundstück zwischen Reichsbahnanschluss und Straßenzugang entworfen sowie in den Rohbauten begonnen, ersetzte der Firmengründer Carl Benscheidt seinen Planer bereits im Winter 1911 durch Walter Gropius, den jungen Architekten aus Berlin, der vorher im renommierten, durch die Firma Continental in Hannover bekannt gewordenen Atelier von Peter Behrens gearbeitet und sich mit einer überzeugenden Initiativbewerbung bei ihm empfohlen hatte. Mit diesem Erfolg suchenden Architekten geriet Benscheidt in eine kongeniale Zusammenarbeit zur Überplanung, Nutzung und Gestaltung der Schuhleistenfabrik, die 100 Jahre nach der Grundsteinlegung schließlich das namhafte Prädikat Erbe der Menschheit von der UNESCO verliehen bekam.
Bei einer Reise zu verschiedenen Industrieunternehmen im Osten der Vereinigten Staaten, die Benscheidt auf der Suche nach Geldgebern für die Gründung des Fagus-Werks im Herbst 1910 unternommen hatte, war er auf die dort entwickelten Konzepte zu Betriebsabläufen und ihrer Berücksichtigung in der Bauplanung gestoßen. Mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen ging er für die Planung des zentralen Bereichs seiner neuen Fabrik ans Werk. So entstand die eingeschossige Sägerei an einem Ende des rechteckigen Kernbereichs der Produktionsstätte, gefolgt vom fünfgeschossigen, mit Holzlamellenfenstern belüfteten Lagerhaus, in dem die Holzrohlinge gedämpft und desinfiziert wurden, um sodann mehrere Jahre natürlich zu trocknen. Vor der eigentlichen Bearbeitung wurden die Werkstücke einem weiteren, künstlichen Nachtrocknungsprozess unterzogen, der im anschließenden Trockengebäude in ca. 30 beheizten, schachtartigen Trockenkammern erfolgte. Sägerei, Lagerhaus und Trockengebäude sind leicht erkennbar noch in der konventionell-schlichten Architektursprache Eduard Werners gehalten, auf die Gropius kaum noch Einfluss nehmen konnte.
Die zweite Hälfte des rechteckigen Kernbereichs trägt demgegenüber deutlich erkennbar die Handschrift von Walter Gropius. Unmittelbar am Trockenhaus ist der mit einem ungewöhnlich breiten Fensterband ausgestattete sowie mit Sheds überdachte Arbeitssaal angefügt, der mit seinen Markisen und den Shedluken eine in dieser Art bei Fabriken vorher niemals installierte Belichtungs-, Lüftungs- und Wärmesteuerung an den Arbeitsplätzen erlaubt. Zweiseitig den Arbeitssaal rahmend schmiegt sich das dreigeschossige Hauptgebäude an, in dem unten Modell-, Pack- und Versandräume, oben Verwaltungs- und Büroräume untergebracht sind. Dieser L-förmige Fabriktrakt ist mit seinen vorgehängten Fensterbahnen und den blauweißen Markisen das weltberühmt gewordene Wahrzeichen des Fagus-Werks. Mit einer charakteristischen, wandhohen Glasfassade versehen ist das weiterhin zur Bahnseite hin ans Trockengebäude angebaute Maschinenhaus zur Erzeugung von elektrischer Energie mit dem 1916 errichteten hohen Schornstein, der das Fagus-Werk als ‚landmark‘ weithin sichtbar macht.
Zu den Arbeitsabläufen der Fabrik gehören schließlich mehrere dezentral vom Kernbereich abgesetzte Funktionsbauten. Zu nennen ist das Gebäude der sogenannten Stanzmesserabteilung mit Schmiede, Außenschornstein, Schlosserei und Härteraum. Den konventionell gestalteten Baukörper unter zwei parallel verlaufenden Satteldächern führte man noch nach den Plänen von Eduard Werner aus, die überaus reizvolle, von Gropius überarbeitete Variante eines vollverglasten Pavillons wurde verworfen. Dafür konnte sich Gropius 1911 mit dem Entwurf des flach gedeckten, Zyklon bekrönten Spänehauses an der Bahnseite durchsetzen, das 1923/24 von seinem Büro zum – begrifflich harmlos wirkenden – Späne- und Kohlenbunker erweitert wurde. Immerhin sind die Bauformen dieses Gebäudes aber so charakteristisch in Gropius‘ Sinne ausgefallen, dass man nach der UNESCO-Entscheidung von 2011 eines der in Deutschland frühesten und gleichwohl sehenswertesten UNESCO-Besucherzentren darin einrichtete. In unmittelbarer Nähe entstand 1921 das kleine einräumige Gleiswaagehäuschen, ebenfalls aus einer Feder des Gropiusbüros, vor dem Eisenbahnwaggons mit ihrer Ladung genau positioniert und gewogen wurden. Das 1924-25 an der Straßenseite erbaute Pförtnerhaus mit Werkstor und Einfriedung sowie die am abgewinkelten hinteren Grundstücksrand erbauten Garagen gehen ebenfalls auf das Büro Gropius zurück, das zu dieser Zeit von Ernst Neufert geführt wurde.
Neben der bahnbrechenden künstlerischen Bedeutung kommt dem Fagus-Werk in Alfeld eine außergewöhnlich hohe geschichtliche Bedeutung zu, die sich facettenreich in der wissenschaftlichen Rezeption niederschlägt. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Fagus-Werk als erstrangiges Kunstwerk im Industriebau, als eins der epochalen Schlüsselwerke der jüngeren Architekturgeschichte, als Lehrstück zu Erforschung und Verständnis von Kunst und Baukunst im 20. Jahrhundert angesehen – insgesamt Wesenszüge, die das öffentliche Interesse an seiner Erhaltung hinlänglich begründen. Die gesamte Werksanlage ist nach § 3 Absatz 3 des 1978 in Kraft getretenen Denkmalschutzgesetzes, als Gruppe baulicher Anlagen ins Denkmalverzeichnis des Landes Niedersachsen eingetragen. Um einst der Demontage nach dem Zweiten Weltkrieg zu entgehen, genießt sie jedoch bereits seit 1946 gesetzlichen Schutz für alle ihre Bestandteile im Äußeren wie im Inneren.
Künstlerisch ist das Fagus-Werk ein Sinnbild des Aufbruchs und der radikalen Erneuerung in der Baukunst des 20. Jahrhunderts. Besonders in den berühmten Fassaden des Hauptgebäudes dominieren monumentale Glasflächen, die querrechteckig unterteilt sind und an den Gebäudeecken eindrucksvoll aufeinanderstoßen. Massive Wände sind derweil auf ein Minimum reduziert. Rahmend treten sie beispielsweise in den langgestreckten Sockel- und Attikazonen in Erscheinung. Ungewöhnlich ist, dass die Fensterbahnen in der vordersten Bauflucht liegen, während die dahinter zurücktretenden, schmalen Wandpfeiler aufsteigend leicht nach innen geneigt sind. Bei den auf Gropius zurückgehenden Gebäuden der Werksanlage ersetzen flache Dächer die sonst üblichen, traditionell geneigten Dachformen. Alle Baukörper erscheinen als relativ schlichte Baukuben mit klaren Kanten und schönen Proportionen. Konsequent verzichten die Außenansichten auf Baudekor und Schmuckformen. Im Vergleich zu zeitgenössischen Arten urbaner oder ländlicher, gewerblicher oder industrieller Architektur sind die Gebäude des Fagus-Werks aus der Gropiuszeit auf die wesentlichen tektonischen Elemente reduziert, die kantengerade mit nur wenigen Ausdrucksprinzipien aus der klassischen Architektursprache wie dem goldenen Schnitt oder der sich verjüngenden Stütze auskommen. Auch in Material und Farbigkeit sind die Gestaltungselemente streng sortiert. Nikolaus Pevsner, einer der großen Architekturhistoriker des 20. Jahrhunderts, äußerte 1949 zum Fagus-Werk aus seinem künstlerisch bewertenden Betrachtungswinkel: „Es liegt etwas Erhabenes in dieser mühelosen Beherrschung von Material und Gewicht. Niemals seit der Ste. Chapelle und dem Chor von Beauvais hat die menschliche Baukunst derart über die Materie triumphiert“ (Pevsner „Wegbereiter der modernen Formgebung“, Seite 118).
Wie die nach 1900 aufbegehrenden Innovationskräfte in Malerei und Musik, in Technik und Wissenschaft waren Walter Gropius als Architekt mit den eigenwillig-stimmigen Gestaltungsideen und der ihm zur Seite stehende Bauingenieur Adolf Meyer mit seinen darauf eingespielten Konstruktionsfähigkeiten durch die Ideen für das Fagus-Werk über die zahllosen Reformdebatten der Architektenschaft in Deutschland hinausgewachsen. Mit ihrem Höhenflug hatten sie die technisch und gestalterisch erfindungsreiche, aber immer noch in formalen Konventionen verhaftete Baukunst des frühen 20. Jahrhunderts konsequent hinter sich gelassen. Damit markierten sie einen exzeptionellen Traditionsbruch.
Man darf im Rückblick sagen, dass Gropius und Mayer mit ihren richtungweisenden Ideen das jahrzehntelang schwergängige Tor für eine neue Architekturepoche endgültig aufstoßen konnten. In einer immer freieren Geisteshaltung, die das von Gropius ab 1919 geführte Bauhaus ausstrahlte, folgten Scharen junger Architekten diesen Denkweisen für eine neue Kunst und für das Neue Bauen in ganz Europa, ja auch in Nordamerika und später weltweit. Damit setzte die jüngere Architektengeneration neue Maßstäbe für einen unaufhaltbaren Wandel in der Architekturgestaltung. Begleitet wurde die rasante Entwicklung dabei von den extremen Folgen des Ersten Weltkriegs, die als wirtschaftliche Rahmenbedingungen den dauerhaften Anlass zum Um- und Neudenken im gesamten Bauwesen setzten.
Zum Weiterlesen:
Hintergründe zum UNESCO-Welterbe in Niedersachsen
Walter Gropius in Selbstzeugnissen
- Gropius, Walter: Die Entwicklung moderner Industriebaukunst, Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 2, 1914, S. 17-22.
- Gropius, Walter: Der stilbildende Wert industrieller Bauformen, Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 3, 1914, S. 29-32.
- Gropius, Walter: Internationale Architektur, München 1925.
- Gropius, Walter: Glasbau, in: Die Bauzeitung, H. 23 vom 25.5.1926, S. 159-162.
- Herbote, Arne: Carl Benscheidt auf der Suche nach der idealen Fabrik, Eine Bauherrenbiographie, Worms 2019.
- Jaeggi, Annemarie: Fagus, Industriekultur zwischen Werkbund und Bauhaus, Berlin 1998.
- Kimpflinger, Wolfgang, Wolfgang Neß, Reiner Zittlau: Das Fagus-Werk in Alfeld als Weltkulturerbe der UNESCO, Dokumentation des Antragsverfahrens, Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen 39, Hameln 2011.
- Müller-Wulckow, Walter: Bauten der Arbeit und des Verkehrs, Königstein 1925.
- Nerdinger, Winfried: Walter Gropius, Berlin 1985.
- Pevsner, Nikolaus: Wegbereiter moderner Formgebung, London 1936, deutsche Ausgabe Hamburg 1957.
- Sharp, Dennis: Architektur im zwanzigsten Jahrhundert, München 1973.
- Wilhelm, Karin: Walter Gropius, Industriearchitekt, Braunschweig/Wiesbaden 1983.