Monumentale Erdwerke zwischen Weser und Leine
Von Alexandra Philippi
Allgemein werden in der Archäologie Wall-Graben-Anlagen unterschiedlicher Größe und Zweckbestimmung als Erdwerke bezeichnet. Allen gemeinsam ist ein Grabensystem, das von unterschiedlicher Form und Größe sein kann. In vielen Fällen treten Palisaden und Wälle hinzu, von denen letztere bei steinzeitlichen Anlagen seltener sicher nachgewiesen sind. In der archäologischen Forschung werden die Termini „Erdwerk“, „Grabenwerk“ und „Einhegung“ zumeist synonym verwendet.
Erdwerke sind seit der ältesten Bandkeramik in Mitteleuropa bekannt und bilden ein Phänomen, das sich nahezu in allen Abschnitten des europäischen Neolithikums wiederfindet. Eine besondere Hochzeit erlangte die Errichtung der Erdwerke mit den Trägern der Michelsberger Kultur ab der Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr. Die mit der Michelsberger Kultur eng verbundenen Erdwerke des Jungneolithikums treten in ihrem gesamten Verbreitungsgebiet – vom östlichen Pariser Becken, den südlichen Niederlanden bis Mitteldeutschland und Nordwestböhmen – auf (Geschwinde/Raetzel-Fabian 2009, 185ff.). Es handelt sich um aufwendig konstruierte Graben- und Wallsysteme, die sich von den zuvor errichteten Anlagen durch ihren Umfang und die Länge der Gräben abheben. In der Forschung wird oftmals vom Typ des „monumentalen“ Erdwerkes gesprochen. Dieser Typ ist durch die Kombination von Gesamtfläche und Grabenlänge definiert (Geschwinde/Raetzel-Fabian 2009, 207ff.). Die Grabenanlagen weisen zumeist einen bis drei Gräben auf, die eine Innenfläche von mehreren Hektar umschließen und durch Erdbrücken unterbrochen werden (Einen allgemeinen Überblick über die Erdwerke der Michelsberger Kultur geben Meyer/Raetzel-Fabian 2006). Auf der Innenseite des inneren Grabens finden sich in seltenen Fällen indirekte Hinweise für eine Wallschüttung. Es kann sich um befundfreie Flächen oder die Schichtung der Sedimente innerhalb der Gräben handeln.
Wenngleich über die Konstruktionsweise dieser Grabenanlagen nach über 100 Jahren intensiver Forschung einiges bekannt ist, gibt ihre Funktion bis heute Rätsel auf. Zahlreiche Deutungs- und Interpretationsmöglichkeiten wurden diskutiert: Häuptlingssitze, Burgen, befestigte Hauptorte, Sitze führender Familien (Clans), befestigte Siedlungen, Viehkraale, Fliehburgen, Versammlungsplätze mit politischer und sozialer Mittelpunktfunktion, Marktplätze, Handels- und Austauschzentren, Gerichtsorte, saisonale „Heiratsmärkte“ für zerstreute Siedlungsverbände, Kultstätten, Heiligtümer, Tabuorte, astronomische Observatorien – bei entsprechenden Konstruktionsmerkmalen – und Gräberfeldumgrenzungen bzw. Aufbahrungsorte (weiterführend u.a. Geschwinde/Raetzel-Fabian 2009, 241ff.). Allen aufgeführten und teils exotischen Interpretationen gemeinsam, ist die herausgehobene gesellschaftliche Bedeutung der Erdwerke. Es ist auch zu bedenken, dass ein Erdwerk womöglich mehrere Funktionen innehatte und es während der Nutzungszeit auch funktionalen Änderungen unterworfen war.
Heute sind diese ehemals eindrucksvollen Anlagen zumeist nicht mehr obertägig sichtbar. In der Regel werden jungsteinzeitliche Erdwerke durch Bewuchsanomalien oder Bodenmerkmale auf Ackerflächen entdeckt (Abb. 1). Die Gräben können bei günstigen Bedingungen so aus einem Flugzeug oder mittels einer Drohne beobachtet werden.
Für das Leine-Weser-Gebiet sind – im Gegensatz zum Braunschweiger Land (Geschwinde/Raetzel-Fabian 2009) – die jungneolithischen Erdwerke bislang nicht systematisch bearbeitet und erforscht worden. Lediglich einzelne Vorberichte wurden publiziert.
Am Beginn der niedersächsischen Erdwerksforschung steht die prominente Beusterburg bei Betheln im Landkreis Hildesheim, die schon in den 1930er Jahren durch K. Tackenberg archäologisch untersucht wurde (Tackenberg 1951). Im Gegensatz zu anderen Grabenanlagen des Neolithikums ist die Beusterburg noch heute gut im Gelände sichtbar und vermittelt ihren Besuchern einen imposanten Eindruck von der Monumentalität dieser Grabenanlagen (Abb. 2).
Zu den bekannten nördlichsten jungneolithischen Erdwerken in Niedersachsen zählt die Doppelgrabenanlage bei Müsleringen, Ldkr. Nienburg (Weser), die sich heute nur noch im Luftbild beobachten lässt (Abb. 3). Das Erdwerk wurde 2008 durch H.-D. Freese bei einer Befliegung entdeckt und konnte in den nachfolgenden Jahren u.a. durch die Universität Hamburg und den Freundeskreis für Archäologie in Niedersachsen e.V. archäologisch untersucht werden (Abb. 3; Freese 2010; Ramminger/Sedlaczek/Kegler-Graiewski 2013).
Das in der Nähe zur Weser gelegene Erdwerk ist am nördlichsten Ausläufer des Niedersächsischen Berglandes zu lokalisieren, das hier in das Norddeutsche Tiefland übergeht. Aus der Grabenverfüllung gewonnene 14C-Daten an Holzkohlen datieren die Nutzungszeit der Anlage zwischen 4100 und 3900 v. Chr., sodass das Erdwerk von Müsleringen in den älteren Konstruktionshorizont der jungneolithischen Grabenanlagen einzuordnen ist. Auch die aus den Erdwerksgräben geborgene Gefäßkeramik weist in diesen Horizont, wobei sie einige Besonderheiten aufweist, die für die Michelsberger Kultur nicht charakteristisch sind. Neben typischen Gefäßformen wie bspw. sogenannte Arkadenrandgefäße sind es vor allem zahlreiche Trichterrandgefäße mit umlaufender Stich-, Eindruck-, oder Fingernagelzier unterhalb des Randes, die dem Fundensemble einen ganz anderen Charakter verleihen, als für zeitgleiche Komplexe bekannt (Abb. 4 und Abb. 5). Entsprechungen finden Formen und Verzierung in der frühtrichterbecherzeitlichen Keramik des südwestlichen Ostseeraumes, deren Entstehung mit der Neolithisierung der Norddeutschen Tiefebene einhergeht. In Müsleringen liegt ein Keramikensemble vor, das sowohl klassische Michelsberger Formen umfasst, wie auch solche, die mit jenen Formen der frühen Trichterbecherkultur verschmolzen, aber auch parallel zueinander bestanden haben. Auch ist die Nordausdehnung des Michelsberger Komplexes mit der Existenz eines Erdwerkes der ersten Konstruktionsphasen zwischen 4200 und 3900 v. Chr. an der Mittelweser von weitaus dynamischerem Charakter gewesen, als bislang angenommen. Die Flusssysteme Leine und Weser mit ihren zahlreichen kleineren Nebenflüssen begünstigten sicherlich diese Entwicklung − und ermöglichten den Austausch von Rohstoffen, Gütern und Ideen, wie etwa der „Erdwerksidee“ −, die am Ende des 5. Jahrtausends v. Chr. mit der Neolithisierung des Nordens schließlich ihren Höhepunkt erreichte.
Literatur zum Weiterlesen:
Freese 2010
H.-D. Freese, Ein neolithisches Erdwerk an der Weser nahe Stolzenau im Landkreis Nienburg (Weser). Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 79, 2010, 3–10.
https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/nnu/article/view/68034/61324
Geschwinde/Raetzel-Fabian 2009
M. Geschwinde/D. Raetzel-Fabian, EWBSL – Eine Fallstudie zu den jungneolithischen Erdwerken am Nordrand der Mittelgebirge. Beiträge zur Archäologie in Niedersachsen 14 (Rahden/Westf. 2009).
Grote 1996
K. Grote, Das neolithische Erdwerk von Seulingen im Untereichsfeld, Ldkr. Göttingen. Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 65/1, 1996, 21–35.
https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/nnu/article/view/47714/41309
Knoche 2018
B. Knoche, Jungneolithische Erdwerke. Forschungsperspektiven in Niedersachsen aus Sicht des F.A.N. FAN-Post 2018 – Mitteilungsblatt des Freundeskreises für Archäologie in Niedersachsen e.V., 2018, 23–27.
https://noa.gwlb.de/receive/mir_mods_00001587
Meyer/Raetzel-Fabian 2006
M. Meyer/D. Raetzel-Fabian, Neolithische Grabenwerke in Mitteleuropa. Ein Überblick. Journal of Neolithic Archaeology, [S.l.], dec. 2006. ISSN 2197-649X. <http://www.jna.unikiel.de/index.php/jna/article/view/20>. Letzter Zugriff: 16 mar. 2020.
https://doi.org/10.12766/jna.2006.20.
Ramminger/Sedlaczek/Kegler-Graiewski 2013
B. Ramminger/H. Sedlaczek/N. Kegler-Graiewski, Vorläufige Ergebnisse zum neolithischen Erdwerk aus Müsleringen, Ldkr. Nienburg/Weser. Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 82, 2013, 3–26.
Rinne 2017
C. Rinne, Ein jungneolithisches Erdwerk aus Südniedersachsen – Der „Kleine Heldenberg“ bei Salzderhelden, Stadt Einbeck. In: C. Rinne/J. Reinhard/E. Roth-Heege/S. Teuber (Hrsg.), Vom Bodenfund zum Buch – Archäologie durch die Zeiten. Festschrift für Andreas Heege. Sonderband Historische Archäologie 2017 (Onlineversion), 63–82 <doi.10.18440/ha.2017.105>.
https://www.histarch.uni-kiel.de/sb01/HASB2017_105_63.pdf
Rinne/Heege 1993
C. Rinne/A. Heege, Ein Erdwerk der Michelsberger Kultur bei Einbeck, Ldkr. Northeim. Bericht über die Ausgrabungskampagne 1992. Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 62, 1993, 3–18.
https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/nnu/article/view/49650/43204
Siegmund 1993
F. Siegmund, Das jungneolithische Erdwerk am Northeimer Kiessee. Vorbericht über die Ausgrabung 1992. Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 62, 1993, 19–56.
https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/nnu/article/view/49651/43205
Tackenberg 1951
K. Tackenberg, Die Beusterburg. Ein jungsteinzeitliches Erdwerk in Niedersachsen (Hildesheim 1951).
Zum Sehen und Hören:
Alexandra Philippi: Zwischen Michelsberg und früher Trichterbecherkultur. Neue Forschungen zum Erdwerk von Müsleringen, Ldkr. Nienburg (Weser). Montagsvorträge des Niedersächsischen Landesamts für Denkmalpflege mit der Gesellschaft für Denkmalpflege in Niedersachsen e.V., dem Freundeskreis für Archäologie in Niedersachsen e.V. und dem Landesverein für Urgeschichte e.V.
https://youtu.be/MZmgX-8_uSI .