Typisch Niedersachsen: Die „Braunschweiger Schule“

Von Jan Lubitz

Der Begriff „Braunschweiger Schule“ steht für eine Architekturlehre, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg an der Technischen Hochschule in Braunschweig entwickelt hat. Als eine der einflussreichsten Architekturschulen der Nachkriegszeit hat sie das bauliche Erscheinungsbild der Städte im ganzen norddeutschen Raum stark geprägt. Bereits 1961 stellte Ulrich Conrads in der Bauwelt fest, „daß ganz in der Stille so etwas wie eine „Braunschweiger Schule“ Umriß gewinnt“, die zwischen Bensberg und Kiel „Bauten von ganz besonderer Qualität“ hervorbringt. Mit dem Etikett als „Schule“ fügt sie sich in eine Reihe namhafter Architekturschulen wie der „Hannoverschen Schule“ des späten 19. oder der „Stuttgarter Schule“ des frühen 20. Jahrhunderts ein. Die Bezeichnung „Schule“ charakterisiert dabei ein Phänomen, bei dem an einem bestimmten Ort und in einem klar umgrenzten Zeitraum prägende Lehrpersönlichkeiten tätig sind, die spezifische Ideale vertreten.

Die „Braunschweiger Schule“ entfaltete ihre Wirkung in der Nachkriegszeit an der Technischen Hochschule in Braunschweig, ihre prägenden Lehrer waren Friedrich Wilhelm Kraemer, Dieter Oesterlen und Walter Henn. Ihre spezifischen Ideale waren eng mit den gesellschaftlichen und baulichen Themen der Zeit verbunden. Durch ein Anknüpfen an Prinzipien der Moderne versprach sie eine sichere architektonische Orientierung, die sich auch vom Bauen im Dritten Reich abgrenzte.

Mit ihrer Gründung 1745 als „Collegium Carolinum“ gehört die Schule in Braunschweig zu den ältesten technischen Bildungseinrichtungen in Deutschland. Im Zuge der Einrichtung einer „technischen Abteilung“ wurde 1835 die „Baukunde“ als eigenständiges Lehrgebiet etabliert. 1862 in eine Polytechnische Schule umgewandelt, entwickelte sich bereits gegen Mitte des 19. Jahrhunderts ein breiter Themenkanon mit unterschiedlichen Fächern wie Baukonstruktionslehre und Baugeschichte. 1878 erfolgte mit der Umwidmung als Technische Hochschule eine Gleichstellung mit den Universitäten.

Die Braunschweiger Architekturlehre im Deutschen Kaiserreich war mit einer Fokussierung auf die beiden Entwurfslehrstühle für antike und mittelalterliche Baukunst noch den Konventionen des Historismus verhaftet. Erst nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte Carl Mühlenpfordt Pläne für eine  Reform der Architektenausbildung, die in der kurzen Phase der Weimarer Republik aber nur teilweise umgesetzt werden konnten. In Friedrich Wilhelm Kraemer, der bei Mühlenpfordt studiert und ab 1932 als Assistent gearbeitet hatte, wirkten diese Reformgedanken aber weiter fort

Geistige Grundlagen und ideelle Hintergründe der „Braunschweiger Schule“

Anfang 1946 wird Kraemer (1907-1990) als Professor an die TH Braunschweig berufen, die sich unter seiner Ägide zu einem Zentrum moderner Architektur in Deutschland entwickelt. Die Anfangsphase der „Braunschweiger Schule“ ist geprägt von den Entbehrungen der frühen Nachkriegsjahre, im Kollegium sind noch überwiegend Professoren aus der Vorkriegszeit tätig. Mit den Neuberufungen von Dieter Oesterlen (1911-1994) und Walter Henn (1912-2006) entwickelt sich ab 1953, im Umfeld des zeitgenössischen Wirtschaftswunders, die Kernphase der „Braunschweiger Schule“, in der das Kollegium durch weitere Neubesetzungen personell erneuert und erweitert wird. Die Spätphase der „Braunschweiger Schule“ setzt in den späten 1960er Jahren in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche ein, in die 1968 die Umwandlung der Hochschule in eine Technische Universität fällt.

Kraemer, der mit seiner Gebäudelehre vorrangig funktionale Aspekte des Entwerfens fokussiert, Henn, dessen Baukonstruktionslehre die technisch-konstruktiven Aspekte des Bauens behandelt, und Oesterlen, der sich vor allem mit Fragen der Baugestaltung beschäftigt, decken den klassischen Dreiklang der Architektur aus Funktion, Konstruktion und Form ab. Zwar vertreten sie verschiedene thematische Schwerpunkte, die beim Entwerfen aber eine Einheit bilden. Oesterlen beschreibt das als „Homogenität“, unter der er „die Übereinstimmung der inneren und äußeren Erscheinung in Grundriß, Konstruktion, Aufriß und zwar vom Großen bis ins kleinste“ versteht.

Wesentliche ideelle Grundlage der „Braunschweiger Schule“ ist ein abstraktes Raumverständnis, das die Auflösung fester Raumgrenzen vorsieht. Kraemer definiert „Raum als Lagebeziehung von Körpern“ als ein geistiges Prinzip: „in bestimmte Zuordnung gebrachte Körper heben durch die Beziehung ihrer Lage zueinander aus dem umgebenden Allraum ein bestimmtes Raumstück erkennbar heraus“. Dies korrespondiert mit dem zeitgenössischen Städtebau, für den Johannes Göderitz, der seit 1945 diese Disziplin als Professor an der TH Braunschweig vertritt, den Begriff „Die gegliederte und aufgelockerte Stadt“ prägt.

Auch die Gestaltungslehre der „Braunschweiger Schule“ basiert nicht auf romantischen Ideen, sondern auf rationalen Kriterien. Kraemer charakterisiert die Form als ein „Urphänomen, dessen strenge Gesetzmäßigkeit der Beliebigkeit menschlicher Willkür sternweit entzogen ist“. Aus der Analyse historischer Bauwerke entwickelt er eine Proportionslehre, mit der die „Gesetzlichkeiten der Zahlen und Zahlenverhältnisse“ zur Entwurfsgrundlage erklärt werden. Die Auseinandersetzung mit der Baugeschichte wird dadurch zu einem zentralen Bestandteil der „Braunschweiger Schule“.

 

Bauen als Teil des Lehrkonzepts

Die von den Lehrern in der „Braunschweiger Schule“ vermittelten Prinzipien und Ideale werden von ihnen auch in zahlreichen eigenen Entwürfen in die Tat umgesetzt. Architektonische Vorbilder finden sie vor allem in der zeitgenössischen Moderne in Skandinavien und im International Style in den USA. So weist das nach einem Entwurf von Kraemer 1953/54 erbaute Kaufhaus Flebbe eine der ersten Curtain-Wall-Konstruktionen nach amerikanischem Vorbild auf. Die Fassade ist in auf dem Modul des Quadrats aufbauenden Proportionen gegliedert, die an Renaissance-Bauten des Markts von Arezzo angelehnt sind.

Gerade die Braunschweiger Hochschulbauten werden zu einem Teil des Lehrkonzepts der „Braunschweiger Schule“. Das ab 1957 entstandene Hochschulforum setzt das Konzept vom Raum als Lagebeziehung von Körpern exemplarisch um. Drei streng geometrische Kubaturen rahmen einen öffentlichen Platzraum ein, auf dem die Fassade des Altbaus von 1877 als vierte Platzwand zur Geltung kommt. Deren herrschaftlicher Habitus wird bewusst gebrochen, indem ihre Mittelachse zu einer Randachse des Platzes degradiert wird. Solch ein abstrahierender Umgang mit historischer Bausubstanz ist kennzeichnend für die „Braunschweiger Schule“. Oesterlen prägt dafür den Begriff „Der gebundene Kontrast“, der eine sinngemäße Weiterentwicklung historischer Formen in eine zeitgemäße Gestaltung beschreibt. Insbesondere seine Entwürfe für den Niedersächsischen Landtag oder das Historische Museum in Hannover spiegeln diese geistige Haltung wider.

Insgesamt studieren von der frühen Nachkriegszeit bis in die Mitte der 1970er Jahre rund 1.500 Studenten an der „Braunschweiger Schule“. Aus ihr gehen zahlreiche namhafte Architekten hervor. Die Absolventen der Frühphase, darunter Jürgen Marlow (Studium 1943-48), Rudolf Gerdes (1946-52), Bert Ledeboer (1948-53), Gerhart Laage (1948-53) oder Rüdiger Hoge (1948-53), werden im gesamten norddeutschen Raum tätig. Aus der Kernphase der Schule, in der u.a. Hans-Joachim Pysall (1950-55), Horst von Bassewitz (1953-59), Hinrich Storch (1954-61), Walter Ehlers (1956-62), Meinhard von Gerkan (1956-64), Volkwin Marg (1956-64), Eckhard Gerber (1959-66) oder Peter Stahrenberg (1959-66) ihr Studium absolvieren, erwachsen einige bis heute weltweit agierende Architekturbüros. Die Absolventen der Spätphase, darunter Heiko Vahjen (1966-71), Joachim Lepper (1965-72), Carsten Henze (1967-75) oder Hartmut und Ingeborg Rüdiger (beide 1969-75), erlangen vorrangig im lokalen Braunschweiger Raum Bedeutung.

Das Werk dieser Braunschweiger Schüler ist als Zeugnis der Architekturgeschichte überwiegend erst noch zu entdecken. Zu gegenwärtig sind uns die meisten ihrer Bauten, als dass wir sie schon als Spuren unserer Geschichte betrachten können. Dabei künden die Bauten der „Braunschweiger Schule“ bis heute vom architektonischen Aufbruchsgeist, der ab 1946 unsere Städte durchwehte.


Literatur:

Roland Böttcher / Kristiana Hartmann / Monika Lemke-Kokkelink:
Die Architekturlehrer der TU Braunschweig 1814 – 1995. Braunschweig, 1995.

Holger Pump-Uhlmann: Wiederaufbau und Ausbau der Hochschule nach 1945.
In: Walter Kertz (Hg.): Technische Universität Braunschweig. Vom Collegium Carolinum zur Technischen Universität 1745-1995, S. 733 – 779. Göttingen, 1995.

Anne Schmedding: Lehre in Braunschweig.
In: Wilhelm / Gisbertz / Jessen-Klingenberg / Schmedding: Gesetz und Freiheit. Der Architekt Friedrich Wilhelm Kraemer (1907-1990), S. 102 – 110. Berlin, 2007.

Olaf Gisbertz: Marke und Mythos – „Braunschweiger Schule“.
In: Philipp / Renz (Hg.): Architekturschulen – Programm, Pragmatik, Propaganda, S. 159 – 171. Tübingen / Berlin, 2012.

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