Das römisch-augusteische Marschlager von Wilkenburg
Wenige Kilometer südlich der Landeshauptstadt Hannover konnte der Luftbildarchäologe Otto Braasch bei mehrfachen Befliegungen im Sommer 1991 am westlichen Rand der Leineniederung auffällige Geländebefunde entdecken. Direkt südlich der L 389 von Wilkenburg nach Arnum, Stadt Hemmingen, war anhand von positiven Bewuchsmerkmalen in einem Getreidefeld eine einfache, relativ schmale Grabenführung erkennbar, die sich in NW–SO-Ausrichtung auf einer Länge von circa 500 m beiderseits der feuchten Bachniederung „Dicke Riede“ erstreckte. Sowohl das nordwestliche wie auch das südöstliche Ende der Grabenverfärbung bogen gleichmäßig gerundet im rechten Winkel nach NO um. Nach einer etwa 400 m langen Unterbrechung zeigte sich östlich der "Dicken Riede" eine Fortsetzung der Grabenführung mit einem rundlich in stumpfem Winkel abbiegenden Grabenverlauf an deren NO-Ende. Aufgrund dieser charakteristischen Form der Ecken deutete Braasch den Befund als fragliches „Römer-Kastell“ und meldete es umgehend der archäologischen Inventarisation des damaligen Instituts für Denkmalpflege und der Bezirksregierung Hannover als seinerzeit zuständiger oberer Denkmalschutzbehörde. Es folgte zeitnah die Begehung einer westlich der Dicken Riede gelegenen Teilfläche. Die ohne Metalldetektor durchgeführte Prospektion ergab außer dem üblichen spätmittelalterlichen bis neuzeitlichen Fundschleier eine Streuung von wenigen stark abgerollten eisenzeitlichen Keramikfunden, die auf eine Besiedlung in den Jahrhunderten vor bzw. um Chr. Geb. hindeutete. Da Anfang der 1990er Jahre ein Antrag auf großflächige Auskiesung gestellt worden war unternahm die Bezirksarchäologie Hannover im August 1993 zur Überprüfung des Denkmalcharakters eine Testgrabung mit fünf kleinen Sondageschnitten im Bereich des im Luftbild erkennbaren Grabenverlaufs westlich der Dicken Riede. Die Grabung verlief leider ergebnislos und hernach fanden über gut 20 Jahre keine weiteren Aktivitäten im Bereich der Grabenanlage und der mutmaßlich eisenzeitlichen Siedlung statt, da erfreulicherweise der Sand- und Kiesabbau nicht durchgeführt wurde.
Im Jahre 2014 wurde erneut der Antrag auf Sand- und Kiesgewinnung auf den betroffenen Fluren Eulenkamp, Müggenwinkel und Pastorenkamp im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens bei der Region Hannover gestellt. Zur Vorbereitung einer qualifizierten denkmalrechtlichen Stellungnahme aus bodendenkmalpflegerischer Sicht war zunächst eine erneute Sichtung der bisher bekannten Quellen erforderlich. Hier kam die im Winter 2014/15 von dem ehrenamtlichen Luftbildarchäologen Pastor H. D. Freese aus Martfeld durchgeführte Auswertung der Luftbilder zu Hilfe, deren Ergebnisse von A. Niemuth vom Referat Denkmalinventarisation des Niedersächsischen Landesamts für Denkmalpflege weiter für das GIS bearbeitet wurden. Er nahm eine Entzerrung der üblicherweise in Schrägaufnahmen aus etwa 200 m Flughöhe erstellten Luftbilder vor und übertrug sie in das GIS. In der Rekonstruktion ergibt sich so eine annähernd quadratische bis rechteckige Grabenanlage von etwa 500 x 600 m Fläche, die nur in ihrem nördlichsten Randbereich von einer Einfamilienhaus-Siedlung überbaut ist. In der östlichen Hälfte wird der Bereich von der Bachniederung Dicke Riede durchzogen, die in die in etwa 1,3 km Entfernung verlaufende Alte Leine entwässert.
Als weitere Maßnahme zur endgültigen Klärung des Denkmalcharakters wurde im April 2015 von der Bezirksarchäologie Hannover des NLD eine erneute Ausgrabung mithilfe zweier Sondageschnitte im südlichen Lagerbereich vorgenommen. Sie ergab einen Spitzgraben von etwa 1,3 m Tiefe unter der heutigen Geländeoberfläche, der in seinem unteren Bereich durch den hier anstehenden Hochflutlehm der Leine bis in den anstehenden Sand eingetieft war. In der Grabenverfüllung wurden mehrere eisenzeitliche Keramikfragmente entdeckt, die neben der typischen Form des Grabenprofils einen weiteren Beleg für eine prähistorische Datierung der Grabenanlage lieferten. Ergänzend wurde dann Ende September 2015 in Kooperation mit Prof. Dr. S. Ortisi vom Seminar für Alte Geschichte „Archäologie der römischen Provinzen“ der Universität Osnabrück, heute am Institut für Vor- und frühgeschichtliche und Provinzialrömische Archäologie der LMU München, eine einwöchige Ausgrabung durchgeführt. Ziel war vor allem, im Bereich des im Luftbild erkennbaren westlichen Torbereiches den Lagergraben und die Torsituation zu dokumentieren. Zusätzlich wurden noch zwei kleinere Flächen in Richtung zur Dicken Riede aufgedeckt. In allen Teilflächen gelang der Nachweis des Spitzgrabens, der im Abschnitt nördlich des Lagertores zusätzlich einen sogenannten Reinigungsgraben von etwa 20 cm Breite an der unteren Grabensohle aufwies.
Ab Herbst 2015 führen die Mitarbeiter der Bezirksarchäologie Hannover E. und H. Nagel, V. König und C.-G. Kullig mit zeitweiser Unterstützung der Kollegen M. Brangs und M. Schenk von der Bezirksarchäologie Braunschweig nahezu ganzjährig eine engmaschige systematische Metalldetektorprospektion durch. Auf diese Weise wurden bis Ende 2019 ausschließlich aus der Pflugschicht über 3400 Buntmetallobjekte geborgen. Hierzu zählen als bisher älteste Stücke mehrere zusammenpassende Fragmente einer bronzezeitlichen Dolchklinge, ein Bruchstück eines Randleistenbeils und ein Randfragment eines jüngerbronzezeitlichen Tüllenbeils. Zahlreiche Funde datieren in das Mittelalter und die frühe Neuzeit; hierzu zählen neben mehreren frühmittelalterlichen Scheibenfibeln vor allem Schnallen, Ringe verschiedener Größen, Beschläge, Knöpfe, Münzen und Münzgewichte, Bleiplomben, Bleigeschosse u. v. a. Die jüngsten Stücke stammen aus dem letzten Jahrhundert. Das Gewicht des abgesammelten neuzeitlichen Metallschrotts beträgt inzwischen über 100 kg. Obwohl die Mitarbeiter auch auf nichtmetallische Funde achteten, fand sich keine nennenswerte Anzahl prähistorischer Keramikfragmente; einige Flintartefakte wie Kratzer und Klingen zeigen eine älteste Begehung des Geländes in der Jungsteinzeit an. Über 200 Buntmetallobjekte wurden bisher an der Leibniz-Universität Hannover archäometrisch untersucht. Dabei ergaben sich wichtige Datierungshinweise für die einzelnen Stücke, v. a. auch auf die römische Herkunft von etwa 70 Buntmetallobjekten, z. T. mit Oberflächenvergoldungen. Hierzu zählen Anhänger vom Pferdegeschirr, Teile von Gürtelgarnituren, unterschiedliche kleine Applikationen und Beschläge, eine Messingpinzette mit Versilberung, mehrere verzierte Doppelknöpfe aus Messing sowie ein mit Tremolierstichen verziertes Fragment einer Panzerschließe. Hervorzuheben ist ein kleiner vollplastischer Wolfskopf, der vermutlich zu einem offenen Armring (armilla) gehörte. Die Metallanalyse ergab hier eine sehr biegsame und leicht zu gießende Bleibronze mit hohen Antimon- und Arsengehalten.
Für die genaue zeitliche Einordnung spielen die aktuell mehr als 90 römischen und keltischen Bronze- und Silbermünzen eine entscheidende Rolle. Das Spektrum umfasst elf Silberdenare und einen Silberquinar der Römischen Republik und der Frühzeit des Augustus. Der älteste Denar wurde 113/112 v. Chr. geprägt; die Schlussmünze bildet ein so genannter Gaius/Lucius-Denar des Kaisers Augustus, der zwischen 2 und 1 v. Chr. geprägt wurde. Des Weiteren fanden sich acht vollständige, zehn halbierte und zwei geviertelte Bronze-Asse, darunter ein halbiertes Vienne-As aus dem Jahr 36 v. Chr., zwei Münzmeister-Asse aus den Prägejahren 15 bzw. 8 v. Chr. ,mehrere halbierte und ein vollständiges Nemausus-As, geprägt 28–10 v. Chr. sowie mehrere vollständige Lugdunum-Asse der ersten Altarserie, geprägt zwischen 7 und 3/2 v. Chr. Hinzu kommen weitere Stücke, die aufgrund der schlechten Erhaltung erst nach der Restaurierung genauer bestimmt werden können.
Interessant ist auch der relativ hohe Prozentsatz von keltischen Kleinmünzen, z. T. mit Pferdedarstellung auf der Vorderseite und Vierfuß auf der Rückseite, die offensichtlich vom römischen Militär als Kleingeldersatz verwendet wurden. Das aus dem Marschlager Wilkenburg bisher vorliegende Münzspektrum unterscheidet sich deutlich sowohl von dem bisher bekannten Bestand des zu Beginn der römischen Okkupation unter Drusus (12–9 v. Chr.) angelegten römischen Lagerkomplexes Hedemünden wie auch von den Münzfunden aus dem varuszeitlichen Kalkriese-Kontext. Da in Wilkenburg bisher keine Münzen mit Gegenstempel des Varus entdeckt wurden und auch das Verhältnis von älteren und jüngeren Buntmetall- und Silberprägungen zueinander signifikant differiert, weist der Münzbestand des Wilkenburger Lagers in die Zeit nach den Drususfeldzügen und vor der Einsetzung des Oberbefehlshabers Varus im Jahre 7 n. Chr. hin. Am wahrscheinlichsten ist eine zeitliche Einordnung der Anlage in die Jahre zwischen 1 und 6 n. Chr., also in die Zeit des „immensum bellum“, in der unter dem Oberbefehl des späteren Kaisers Tiberius Aufstände der Cherusker, Brukterer und weiterer Stämme im Gebiet des heutigen Niedersachsens niedergeschlagen wurden. Das römische Marschlager in Wilkenburg stellt damit den ersten eindeutigen archäologischen Nachweis dieser aus der römischen Überlieferung des Velleius Paterculus bekannten Auseinandersetzung zwischen Römern und Germanen in Niedersachsen dar.
Zum Weiterlesen:
- H. Haßmann, S. Ortisi, F.-W. Wulf: Luftbild mit Überraschung. Ein römisches Marschlager bei Hannover-Wilkenburg, in: Varus-Kurier 22 (2016), 21–23.
- H. Haßmann, S. Ortisi, F.-W. Wulf: Römer vor Hannover. Das augusteische Marschlager von Wilkenburg, in: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen. 36 (2016), 4, 190–193.
- F.-W. Wulf: Im Luftbild erkannt. Das römische Marschlager von Wilkenburg, in: Archäologie in Niedersachsen 21 (2018), 102–105.