1960+ in Hannover - Denkmalgeschützte Objekte, Bauten und Anlagen der Zeit 1960-1980
Beschäftigt man sich mit Architektur und Städtebau der Epoche der 1960er und 1970er Jahre in Hannover, wird deutlich, dass in dieser Zeit bauliche Entwicklungen abliefen, die ohne Beachtung der geschichtlichen Hintergründe – der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, des Zweiten Weltkriegs mit den großflächigen Zerstörungen durch Bombenabwürfe und schließlich des demokratischen Neustarts und der damit verbundenen Gründung des Bundeslandes Niedersachsen – nicht verstanden werden können. Einerseits sind Diktatur und Krieg als schreckliche Hintergrundfolie des Geschehens, andererseits die damals noch neue, freiheitlich demokratische Gesellschafts- und Staatsform als positiver Startpunkt vieler wichtiger Entwicklungslinien zu begreifen.
In Folge des Kriegs und der damit einhergehenden zentrums-, verkehrwegs- und industrienahen Zerstörungen, wurden in Hannover, als Hauptstadt des jungen Bundeslandes, zahlreiche Neu- und Ersatzbauten für verschiedene Verwendungszwecke benötigt. Die starke Kriegszerstörung der Stadt wird für den aufmerksamen Betrachter auch heute noch eindrücklich an einigen Kulturdenkmalen sichtbar. Hier beispielsweise an der als Mahnmal in ruinösem Zustand belassenen Aegidienkirche in der Innenstadt. Die Ruine wurde erst 1960-61 mit Kunstwerken und Gedenktafeln bestückt, darunter erstaunlicherweise auch Werke des ostberliner Metallgestalters Fritz Kühn (1910-1967), der trotz der mit dem Mauerbau 1961 einsetzenden „absoluten Eiszeit“ in der Epoche des „Kalten Krieges“ – über den „Eisernen Vorhang“ hinweg – Aufträge in der Bundesrepublik ausführen konnte.
Nach dem politischen Neuanfang kam ein – alle Bauaufgaben umfassender – unvergleichlicher Bauboom durch technische und gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, den in den 1950er Jahren einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung, die politische und gesellschaftliche Stabilisierung und den Zuzug von Flüchtlingen und ländlichen Bevölkerungsgruppen in Gang, der erst mit der einsetzenden Rezession in den späten 1960er Jahren und mit der Ölkrise 1973-74 langsam abebbte.
Die Landeshauptstadt Hannover entwickelte sich zum zentralen Standort für den Verwaltungs- und Dienstleistungssektor des neuen Bundeslandes. In den Bereichen Städtebau und Architektur macht sich hier bei den entsprechenden Bauaufgaben ein Gestaltungswandel hin zu großen Maßstäblichkeiten bemerkbar: Verwaltungsbauten aus den 1950er Jahren verfügen in Niedersachsen im großstädtischen Bereich an den Außenfassaden beispielsweise zumeist noch über Natursteinplatten-, Klinker-, Spaltklinker- oder Mosaiksteinverkleidungen. Die Fassadengliederung dieser Bauten weist meist noch die fein gegliederte „klassische“ Betonung tragender und lastende Bauteile auf. In den 1960er Jahren begann die Ära der Architektur, die sich auch im Äußeren durch Kunststein- oder Betonfassadenmaterialitäten auszeichnet. Zudem tendieren Fassadengestaltungen bis in die 1970er Jahre hinein zur Ausbildung durchlaufender Fensterbänder, flächiger oder bandartig gestalteter Fassaden. Es treten kontrastreiche Gestaltungen, neue Materialien wie Corten-Stahl, Bekleidungen aus Metall, getönte Scheiben oder Betonfertigteilplatten (Struktur-Waschbeton) beispielhaft für die Architektur der Spätmoderne auf. Auch im Städtebau werden die Maßstäblichkeiten mit der Zeit größer und gröber.
In Folge der bereits erwähnten Kriegszerstörungen blieb die Wohnungsnot bis in die späten 1960er Jahre ein drängendes Problem. In der Landeshauptstadt wurden bereits in den ersten Flächennutzungsplänen der Zeit um 1950 umfangreich neue Wohngebiete ausgewiesen. Folgt die Gestaltung neuer Wohnsiedlungen in den peripheren Randbereichen um 1960 noch dem Leitbild der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“, sehen Konzepte der späten 1960er Jahre komplexe Baumassenanhäufungen gemäß der Prämisse „Ästhetik und Urbanität durch Dichte“ vor.
Parallel dazu wird der Bedarf an wohngebietszugehörigen Einrichtungen wie Schulen, Kindertagesstätten und Kirchen ermittelt und festgelegt. Beispielsweise wurden 75 Schulneubauten geplant, davon waren bis 1963 in großer Geschwindigkeit bereits 50 erstellt worden. Durch die langjährige restriktive Baupolitik der Nationalsozialisten waren jedoch zeitgenössische Schulbaukonzepte in Deutschland nicht mehr leitbildhaft vorhanden. Nach wegweisenden Bauten und Konzepten wurde daher im Ausland gesucht. Hier ging der Blick beispielsweise nach England, Schweden, Dänemark, in die Schweiz und in die Vereinigten Staaten von Amerika. Dort vorzufindende eingeschossige Pavillonbauten, der Verzicht auf äußerliche Repräsentation, Modulbauweisen, roh und einfach verwendete Materialien und aufgelockert-funktionale Grundrissstrukturen wurden für die weiteren Schulbauentwicklungen in Hannover und Niedersachsen vorbildhaft. Sorgfältige konzeptionelle Überlegungen und der Anspruch wandel- und erweiterbare Systeme zu entwickeln, der Wunsch dem freien und menschenwürdigen Zusammenleben in einem demokratischen Staat baulich Ausdruck zu verleihen und die Schulkinder mit diesen Prinzipen vertraut zu machen, führten unter der Ägide des Stadtbaurats Rudolf Hillebrecht (1910-1999) im Hochbauamt der Stadt zur Gründung einer eigenen Entwurfsabteilung für Schulbau unter der Leitung von Werner Dierschke (1906-1983). Planungshinweise und Richtlinien für Schulneubauten in der Landeshauptstadt wurden beschlossen und veröffentlicht. Die überwiegende Mehrzahl an Schulneubauten wurde bis 1959 im Hochbauamt von dortigen Teams selbst entworfen. Später wurde der Anteil der Beauftragung freischaffend tätiger Architekten erhöht. Konzeptionelle Weiterentwicklungen mündeten dann ab 1970 in der Einführung der Gesamtschulen. Der erste Bau einer Integrierten Gesamtschule (IGS) in Niedersachsen war im Jahre 1971 die IGS in Hannover-Linden.
Alleine in der Zeit von 1960 bis 1964 wurden auf dem Gebiet der Landeshauptstadt sage und schreibe 18 evangelisch-lutherische Kirchen gebaut. Der Bedarf dafür war einerseits aufgrund der Kriegszerstörung alter Kirchen, andererseits aufgrund der Rückkehr der evakuierten Bevölkerung sowie durch Zuzug infolge des Flüchtlingszustroms und des damit verbundenen Gemeindemitgliederzuwachses dringend gegeben. Gleichzeitig wurde der Wunsch nach diverser nutzbaren kirchlichen Räumen für verschiedene Arten der Zusammenkunft der Gemeinde formuliert. Zudem wollte sich die Nachkriegsgeneration nicht mehr alleine auf die überlieferten kirchlichen Bautraditionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts berufen. Neue Materialien und Baukonstruktionen, neue Formen künstlerischen Ausdrucks sollten dem gelebten Glauben in einer jungen demokratischen Gesellschaft Ausdruck verleihen. Zur Erfüllung der zahlreichen Bauaufgaben wurden formal und konzeptionell unterschiedliche Wege eingeschlagen. Auch die diversen Anwendungsmöglichkeiten des Baustoffs Beton wurden in Skelett- und Fertigteilbauweise oder in freier, skulpturaler Formgebung in Szene gesetzt.
Mit dem vermehrten Bau von Kindertagesstätten reagierte die Stadt auf die nach dem Zweiten Weltkrieg stark angestiegenen Geburtenzahlen, die 1964 ihren Höchststand erreichten. Von allen Kindertagesstätten in Hannover, die in den späten 1960er Jahren vorwiegend als Typenbauten realisiert wurden, nimmt der im Gegensatz dazu stehende, außergewöhnliche Entwurf am Sylter Weg im Architekturschaffen dieser Zeit eine Sonderstellung ein. Die Kindertagesstätte Sylter Weg wurde im Zeitraum von 1966 bis 1967 nach einem Entwurf von Rolf-Dieter Ramcke (1933-2020) errichtet. Über dreißig Jahre war Ramcke als entwerfender Architekt für öffentliche Bauten im Hochbauamt der Stadt tätig und schuf wichtige Werke innerhalb der Stadtbaugeschichte der niedersächsischen Landeshauptstadt.
Im Kontext eines zunehmenden motorisierten Verkehrsaufkommens, sowie einer damit verbundenen im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rapiden Ausdehnung der Infrastruktur für fließenden und ruhenden Verkehr, steht die in jener Zeit aufgekommene Bauaufgabe des Parkhauses. Unter ihren Ausprägungen in Westdeutschland nimmt der Bau des Architekten Heinz Wilke (1927-1992) in der Osterstraße, durch Konzeption, Konstruktion und Ausdrucksform, eine besondere Stellung ein und vermittelt anschaulich die Rolle Hannovers als bundesdeutsches Beispiel der autogerechten Stadt und der damit verbundenen städtebaulichen Entwicklung der Nachkriegszeit.
Die Bebauung prominenter, kriegszerstörter innerstädtischer Grundstücke für Einrichtungen der Kultur und der Bildung wurde schließlich zur vornehmsten städtischen Bauaufgabe: Am östlichen Ufer der Leine errichtete Dieter Oesterlen (1911-1994) nach einem langjährigen Prozess der Standortfindung, die 1949 mit der Erarbeitung des Aufbauplans für die Innenstadt begonnen hatte, einen Neubau für das Historische Museum. Die Planungen wurden zwischenzeitlich jedoch aufgrund dringender Bauaufgaben, wie der vordringlichen Beseitigung der Wohnungsnot, zurückgestellt. Erst 1960 wurde seitens der Stadt ein Wettbewerb zum Neubau ausgeschrieben. Das Museumsgebäude führte Oesterlen 1964-67 aus. Das etwa zeitgleich vom Hochbauamt der Landeshauptstadt Hannover in der Zeit von 1962 bis 1965 erbaute Gebäude der städtischen Galerie KUBUS versinnbildlicht mit der städtebaulich sehr prominenten Positionierung deutlich, welchen Stellenwert die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Kunst in der Stadt bereits damals hatte. Es ist als ein kleiner städtischer Baustein mit gebauter "Schaufensterfunktion" zu sehen, der Kunst für die Bürger frei zugänglichen macht. Das im Hochbauamt federführend vom Architekten Alfred Müller-Hoeppe entworfene Gebäude zeigt zudem in anschaulicher Art und Weise die Ambitionen einer selbst planenden städtischen Bauverwaltung in dieser Zeit auf.
Im Rahmen des denkmal.themas „1960+ in Hannover“ werden an dieser Stelle zunächst 15 Bauwerke der Entstehungszeit 1960-1980 von unterschiedlichster Zweckbestimmung vorgestellt. Die Zahl und Auswahl der präsentierten Kulturdenkmale wird sich – stets als anschaulicher „Querschnitt“ des Bauschaffens der Epoche – in unregelmäßigen Abständen verändern.
Zum Weiterlesen:
- Curt R. Vincentz Verlag (Hrsg.): Neue Schulen in Hannover. Hannover 1963
- Verlag Edgar Hartmann (Hrsg.): Städteforum 1/1970. Hannover. Städtebau. Architektur. Wirtschaft. Osterode am Harz 1970
- Hermann Boockhoff, Jürgen Knotz (Bearb.): Architektur in Hannover seit 1900. München1981
- Michael Braum, Hartmut Millarg (Hrsg.): Städtebau in Hannover. Ein Führer durch 50 Siedlungen. Berlin 2000
- Martin Wörner, Ulrich Hägele, Sabine Kirchhof (Bearb.): Architekturführer Hannover. Berlin 2000
- Helmut Knocke, Hugo Thielen: Hannover. Kunst- und Kulturlexikon. Handbuch und Stadtführer. Springe 2007
- Sid Auffarth, Ralf Dorn (Hrsg.): Ein Leben für Hannover. Festschrift zum 100. Geburtstag von Rudolf Hillebrecht. Hannover 2010
- Andreas Urban: Stadtbilder. Zerstörung und Aufbau. Hannover 1939-1960. Begleitbuch zur Ausstellung im Historischen Museum. Hannover 2013
- Lavesstiftung (Hrsg.): Aufbruch. Architektur in Niedersachsen 1960 bis 1980. Berlin 2017