Der Architekt Wilhelm Matthies (1867-1934)

Von Kirsten Freytag, geb. Weinig

Wilhelm Matthies wurde 1867 in Melbeck bei Lüneburg als Sohn eines Zimmermeisters und späteren Ziegeleibesitzers geboren. Nach der Schulausbildung auf dem Lüneburger Johanneum erlernte er zunächst ebenfalls das Zimmererhandwerk und besuchte dann die Baugewerkschule Holzminden (1886-88). Später arbeitete als Techniker für den Architekten Caspar Clemens Pickel (der im Rheinland für seine Kirchenbauten bekannt war) und besuchte die technischen Hochschulen in Dresden und München. Nach Reisen in Italien und Deutschland betraute ihn sein Vater mit Bauleitungen in Cuxhaven und Husum. Aus Husum stammt auch seine spätere Frau Elisabeth Saxen, die er 1895 heiratete. Bereits 1894 ließ sich Matthies in Lüneburg als Architekt nieder. Mit seinem jüngeren Bruder Hermann Matthies (1871-1911), der bei Conrad Wilhelm Hase an der technischen Hochschule Hannover studiert hatte, führte er zunächst gemeinsam ein Architekturbüro.

1898 zog Wilhelm Matthies dann ins nahegelegene Bardowick, einem vom Gemüseanbau geprägten Dorf. Hier hatte er ein „Künstlerheim“, wie er es nannte, das Haus St. Lukas erbaut. Der verwinkelte zweigeschossige Bau verfügte über zwei Wohnungen und zwei große Atelierräume. Zusammen mit seiner Frau sowie dem von der Dresdener Kunstakademie kommenden Maler Hugo Friedrich Hartmann (1870-1960) lebte und arbeitete er hier bis zu seinem Tode.

1907 unternahm Matthies mit seinen Freunden Hartmann und Frido Witte eine Reise nach Paris und Barbizon. Im Ersten Weltkrieg hatte er einen zivilen Posten in Flandern inne. Zeitweise führte Matthies ein Architekturbüro mit mehreren Angestellten. Spätestens 1920 wurde sein langjähriger Mitarbeiter und Freund, der Architekt Leo von der Berg sein Kompagnon. In der Silvesternacht 1933/34 erlitt Wilhelm Matthies einen Herzschlag und verstarb im Alter von 66 Jahren. 

 

Schon in seinen frühen Skizzenbüchern zeigt sich Matthies‘ Faszination für die überlieferte regionale Bauweise. Er zeichnete neben Stadtansichten und Hofanlagen auch Details wie Giebelzierden, Tore, Inschriftenbalken usw. Ab 1897 veröffentlichte Matthies seine Skizzen regionaltypischer Bauformen in der Zeitschrift „Niedersachsen“. Ebenso wie sein Ateliergenosse Hartmann war Matthies der niedersächsischen Heimatbewegung, die sich ab 1895 formierte, eng verbunden. Zusammen mit Hartmann war auch dessen Studienkollege, der Maler und Grafiker Otto Kaule (1870-1948) nach Bardowick gekommen. Die drei Bardowicker waren Gründungsmitglieder der Künstlergruppe „Die Heidjer – Vereinigung niedersächsischer Künstler“, die sich 1901 auf Initiative des Heimatforschers und Schriftstellers Hans Müller Brauel in Bremen zusammengeschlossen hatte. „Die Heidjer“, die von 1904 bis 1909 auch einen gleichnamigen Kalender herausgaben, sahen ihre Aufgabe darin „Land und Leute unserer niederdeutschen Heimat künstlerisch darzustellen und auf ein Kunstgewerbe hinzuarbeiten, welches wohl neue ist in seiner Formensprache aber doch heimatlich in seinem ganzen Wesen und Empfinden!

Matthies und Hartmann, die meist zusammen auftraten, waren sehr umtriebig, gut vernetzt und hatten einen großen Bekanntenkreis und so war ihr „Haus St. Lukas“ Anziehungspunkt für viele Künstler. Zu ihrem engeren Freundeskreis gehörten u.a. die Maler und Grafiker Frido Witte, Arthur Illies, Fritz Flebbe und Albert König.

1904 traten Matthies und Hartmann der von Conrad Wilhelm Hase gegründeten „Bauhütte zum Weißen Blatt“ in Hannover bei, 1908 wurden sie in den Rang von Meistern erhoben. Auch in der Bauhütte war Matthies ein überaus aktives und umtriebiges Mitglied. Matthies‘ Bauhüttenzeichen findet sich auf vielen seiner Werke, oft in Bauinschriften mal als eiserne Wandanker. Seit 1904 war Matthies ebenfalls im BDA Mitglied.

Auf Ausstellungen, in Zeitschriften und bei Musterhauswettbewerben warb Matthies für eine Reform der ländlichen Bauweise, die um 1900 durch die Übernahme historistischer Stilmittel geprägt ist. Ab 1899 veröffentlichte Matthies Aufsätze über seine eigenen architektonischen Vorstellungen in Bauzeitschriften wie u.a. der „Deutschen Bauhütte“ und der „Bautechnischen Zeitschrift“.

Anstatt - wie er schreibt - "verworrene Stadthauskarikaturen" in "italjänischer [sic] Renaissance" auf das Land zu bringen, forderte Matthies eine spezifisch ländliche Architektur in Anknüpfung an die alten Bauernhäuser: Architektur solle "frei von falschem Schmuck, aber nicht schmucklos" sein. Für die malerische Ausbildung geeignet seien u.a. "gruppierte Anlagen, überstehende Dächer, Abwalmungen mit der Eulenluke und der Giebelzierde, Dachhäuschen, Wetterfahnen ... Fachwerk ..., Bretterbekleidungen, Fensterläden, .... Inschriften und Jahreszahlen."

Baureformerische Bestrebungen waren ein Schwerpunktthema der niedersächsischen Heimatbewegung. Auf Ausstellungen wurden Bauentwürfe gezeigt und es gab Wettbewerbe für die Erstellung von Musterentwürfen, so beispielsweise des "Vereins für Vierländer Kunst und Heimatkunde" 1903. "Die vier besten Entwürfe sollten ... für je 100 Mk. angekauft, vervielfältigt und den Bauherren wie Baumeistern des Landgebietes auf Wunsch zur Verfügung gestellt werden, um als Unterlagen für Entwürfe zu Neubauten zu dienen." Matthies hat an diesem Wettbewerb teilgenommen. Einer seiner Entwürfe wurde prämiert, ein weiterer angekauft. Matthies plante stark gruppierte Backsteinbauten mit - für die Vierlande traditionell weiß gehaltenem - Fachwerk und bewegter Dachlandschaft.

 

Auch außerhalb der eigentlichen Heimatbewegung gab es Bestrebungen, auf ein landschaftstypisches Bauen hinzuwirken. Im März 1906 z.B. gab der Regierungspräsident von Lüneburg einen "Erlaß zur Beschaffung von Musterentwürfen von Bauern- und einfachen Bürgerhäusern" heraus. Einige Städte und Kreise beteiligten sich an einer Geldsammlung für dieses Projekt; andere konnten keinen Bedarf feststellen. So schrieb der Landrat des Kreises Lüneburg im April 1906: „Im hiesigen Kreise werden die Bestrebungen zur Erhaltung des malerischen Aussehens der Dörfer durch Private, namentlich den Architekt Matthies aus Bardowick bereits in erheblichem Maße gefördert.“ Von den dennoch zusammengekommenen Geldmitteln wurden noch 1906 die Architekten Franz Krüger (Lüneburg) und Wilhelm Matthies aufgefordert, Musterentwürfe zu erstellen. Diese wurden dann als gedruckte Sammlung im Regierungsbezirk Lüneburg und darüber hinaus verteilt.

Die Schule in Velgen (1906) oder das Pfarrhaus in Eimke (1905) sind ansprechend gestaltete Backsteingebäude mit Fachwerk-Dachgeschoss, gruppierten Dächern und dem regional typischen Formenrepertoire wie Eulenlöcher mit gekreuzten Pferdeköpfen als Giebelzierde. Ganz typisch für Matthies sind die angeschnittenen, voreinander gesetzten Giebel, die zu einer "Durchdringung" der, wie zusammengeschoben wirkenden, Bauteile führen. Dabei ist die Kubatur nach funktionalen Gesichtspunkten aus dem Grundriss heraus entwickelt. Die einzelnen Räume sind um die mittige Diele herum gruppiert, ohne in einen festen äußeren Rahmen eingefügt zu sein, was jeweils einen asymmetrischen, sehr bewegt wirkenden individuellen Baukörper hervorbringt.

An einigen Bauten von Matthies finden sich Erker, die mit Fensterbierscheiben künstlerisch gestaltet sind. Hiermit wurde ein alter Brauch wiederbelebt: Das Schenken von bemalten Fensterscheiben, die anlässlich eines Neubaues oder Jubiläums gestiftet wurden, benannt nach dem zu diesem Anlass ausgeschenkten Bier. Über 50 bemalte Scheiben nach Entwürfen von Hugo Friedrich Hartmann schmückten beispielsweise den Erker eines Gasthauses, das Matthies 1904 baute. Die Scheiben befinden sich mittlerweile im Museum im Marstall, Winsen (Luhe). Fensterbierscheiben hat es in mindestens vier von Matthies entworfenen Häusern gegeben, im Wohnhaus Seedorfer Straße 21 in Bad Bevensen sind sie erhalten. Sie sind ein schönes Beispiel der von den „Heidjern“ propagierten Zusammenarbeit verschiedener Kunstgattungen „im Sinne eines heimatlichen Ganzen“.

Zeitlich scheint der Schwerpunkt von Matthies‘ Schaffen in der Zeit von 1900 bis zum Ersten Weltkrieg zu liegen. Über sein späteres Oeuvre ist wenig bekannt, da nur wenige seiner Bauten dann noch in Bauzeitschriften vorgestellt wurden. Seine späteren Entwürfe wirken auch nicht mehr so markant. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gehörte Matthies in der Region der Lüneburger Heide jedoch zu den Vorreitern, was die Entwicklung und Propagierung eines regionalspezifischen Heimatstils betrifft. In seiner Fokussierung auf ländliche Bauaufgaben gelang es ihm, eine individuelle Handschrift zu entwickeln. Ausgehend vom Studium regionaltypischer Bauformen und dem Wunsch, das Stilgemisch des Historismus zu verlassen, orientierte er sich an Ideen des englischen Landhausbaues und fand im zeitlichen Kontext von Reformbewegung und niedersächsischer Heimatbewegung einen prägnanten stilistischen Ausdruck. Anfänglich war dieser geprägt durch regionaltypische Schmuckformen und entwickelte sich hin zur Gestaltung rein über wohlproportionierte Baukörper und die Textur der Baumaterialien, wie es sich besonders gelungen beispielsweise mit der Erweiterung der Thomasburger Kirche (1906) und vielen reinen Backsteinbauten wie der Bevenser Schule (1908) oder den beiden Bahnhofstypen für die Kleinbahnlinie Lüneburg – Soltau (1912) zeigt. Während Matthies in dieser ersten Schaffensperiode eigenständige Lösungen entwickelte, rezipierte er nach 1910 vermehrt die sich allgemein durchsetzenden Vorstellungen von ländlicher konservativer Architektur, wie zum Beispiel an den Gütern Golste (1911) und Barendorf (1911/12) erkennbar.

Matthies fokussierte sich explizit auf ländliche und kleinstädtische Bauaufgaben. Sein Werk umfasst Dorfkirchen, Kapellen, Schulen, Gutsanlagen, Wohnhäuser, Gaststätten und Bahnhofs- und Wirtschaftsgebäude. Der Nachlass von Matthies' Architekturbüro ist leider verloren gegangen. Biografische Details lassen sich aus Nachrufen sowie den Tagesbucheintragungen seiner Freunde Hugo Friedrich Hartmann und Frido Witte rekonstruieren. Basierend auf zeitgenössischen Veröffentlichungen, Bauakten und Inaugenscheinnahme sind bisher ca. 120 architektonische Entwürfe von Wilhelm Matthies belegt.

 

Zum Weiterlesen:

 

Kirsten Weinig: Der Architekt Wilhelm Matthies: Bauen im Heimatstil. (Magisterarbeit Göttingen 1994)

Kirsten Weinig: Zum Heimatstil um 1900 in der Lüneburger Heide – Modernes Bauen im Werk des Architekten Wilhelm Matthies (1867-1934) in: Ländliches und kleinstädtisches Bauen und Wohnen im 20. Jahrhundert. Jahrbuch für Hausforschung Band 46 1999, S. 153-172 - Bericht über die Tagung des Arbeitskreises für Hausforschung in Verbindung mit dem Freilichtmuseum am Kiekeberg – Kreismuseum des Landkreises Harburg vom 19.-23. Juni 1995

Wolf-Dietmar Stock (Hrsg.): Hugo Friedrich Hartmann 1870-1960. 2010

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