Niedersachsen und das Auto

Von Jan Lubitz

Das Auto – als Taktgeber der deutschen Wirtschaft und Mittel individueller Mobilität hat es im 20. Jahrhundert unsere Umwelt maßgeblich geprägt. Neben Fabrik- oder Verwaltungsbauten sind es vor allem Objekte automobiler Infrastruktur wie Tankstellen, Werkstätten oder Parkhäuser, die unsere Stadtbilder heute vielerorts prägen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden selbst die Grundstrukturen vieler Städte nach dem Leitbild einer „autogerechten Stadt“ den Bedürfnissen des Straßenverkehrs entsprechend neu geordnet. Und mit Wolfsburg befindet sich in Niedersachsen sogar eine ganze Stadt, die ihre Existenz dem Auto verdankt. Der Grundstein zum dortigen Volkswagen-Werk war am 26. Mai 1938 von Adolf Hitler gelegt worden, der hier die Produktion eines nationalsozialistischen Volkswagens veranlasst hatte – dem später liebevoll als Käfer bezeichneten Modell, das sich bis zu seinem Produktionsende 2003 mit über 21 Millionen Exemplaren zum meistgebauten Auto der Welt entwickeln sollte. Die Erfolgsgeschichte des Käfers setzte der ab Mai 1974 verkaufte VW Golf fort, der bis heute in Wolfsburg produziert wird.

Die Niedersächsische Automobilgeschichte umfasst jedoch weit mehr namhafte Werke als ausschließlich VW. In Hannover-Linden stellte die bereits 1871 gegründete Firma Hanomag (als Kurzform für Hannoversche Maschinenbau AG) seit 1924 das Modell 2/10 PS her, besser bekannt als Hanomag Kommissbrot – nach dem Vorbild der amerikanischen Ford-Werke in Detroit ab 1925 sogar als zweiter deutscher Hersteller in Fließband-Fertigung. Mit dem Zweiten Weltkrieg wurde die PKW-Produktion zwar aufgegeben, bis 1969 wurden aber noch Kleintransporter und LKW in Hannover-Linden gefertigt. Ein anderer erfolgreicher Nutzfahrzeughersteller in Niedersachsen war das 1903 gegründete Büssing-Werk in Braunschweig. Während des Ersten Weltkriegs entstanden südlich der Braunschweiger Innenstadt ausgedehnte Werksanlagen. Nach der Übernahme durch MAN 1971 wurde die traditionsreiche Marke zwar aufgegeben, mit dem alten Büssing-Logo – ein stilisierter Braunschweiger Löwe – findet sich aber bis heute ein Motiv aus Niedersachsen im Markenbild aller MAN-Fahrzeuge.

Spuren aus der Anfangszeit des Automobilbaus finden sich auch an anderen Stellen Niedersachsens. Im friesischen Varel wurde 1905 die Hansa-Automobil Gesellschaft mbH gegründet, die dort auch nach der Fusion 1914 mit der NAMAG zur Hansa-Lloyd-Werke AG noch bis 1930 Autos herstellte. Der Name Hansa blieb noch bis 1961 als Marken- und Produktbezeichnung des Bremer Autoherstellers Borgward erhalten, der 1931 die Firma übernommen hatte. In Hameln im Weserbergland wurden 1907 die Norddeutschen Automobilwerke GmbH (NAW) gegründet, die mit den Modellen Colibri und Sperber vor dem Ersten Weltkrieg erfolgreich waren. Nach dem Kriegsende in Selve Automobilwerke umfirmiert, wurde die Produktion in den 1920er Jahren nach Altena verlegt, bevor sie 1929 schließlich eingestellt werden musste. In Osnabrück war seit 1901 das Karosseriebauunternehmen von Wilhelm Karmann ansässig, das vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg als Hersteller von Sonderkarosserien und Zulieferer der Automobilindustrie Renommee erlangte. Nach der Insolvenz 2009 wurden die Osnabrücker Werksanlagen von Volkswagen übernommen, heute werden dort Sondermodelle für verschiedene Konzernmarken gefertigt.

Stahl, Öl, Gummi & Co. – die Peripherie des Automobilbaus

Weniger sichtbar als der eigentliche Automobilbau, aber ebenso von immenser Bedeutung, sind die zahlreichen Zulieferer und Dienstleister des Automobilwesens. So gehört etwa das 1856 gegründete Stahlwerk Georgsmarienhütte GmbH zu den führenden europäischen Produzenten von Stählen für die Automobilproduktion. Benannt nach dem letzten Hannoverschen König Georg V. und seiner Ehefrau Marie, wurde es 1860 auch zum Namensgeber für die aus einer Arbeiterkolonie entstandenen Ortschaft im Osnabrücker Land. In Hannover wurde 1871 die Continental AG gegründet, die heute zu den Top Ten der weltweit größten Automobilzulieferer gehört. Ab 1891 fertigte Continental Luftreifen, basierend auf einem 1888 von John Boyd Dunlop eingereichten Patent, die zu einer entscheidenden Grundlage für die sich um die Jahrhundertwende entwickelnde Automobilindustrie werden sollten. Die im späten Kaiserreich enorm angewachsene Bedeutung dieses Industriezweigs kommt auch in der monumentalen Gestik der Continental-Hauptverwaltung zum Ausdruck, die noch kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs errichtet wurde.

Wichtigstes Treibmittel der Automobilität ist bis heute das Erdöl – auch wenn im 21. Jahrhundert inzwischen der Umbruch hin zur Elektromobilität im Gange ist. Im Allertal fand 1858 im Heidedorf Wietze eine der weltweit ersten Bohrungen nach Erdöl statt, durchgeführt von Georg Hunaeus im Auftrag des Königreichs Hannover. Doch während im amerikanischen Titusville die ein Jahr später durchgeführten Bohrungen von Edwin Drake den Beginn der Erdölindustrie markierten, kam es in Wietze erst mit einer erneuten Bohrung durch Friedrich Hasenbein 1899 zu einem Ölboom, infolge dessen innerhalb von zwei Jahrzehnten rund 1.600 Bohrlöcher erfolgreich niedergebracht wurden. Neben den Erdölförderanlagen in Wietze, die über 30 Bohrfirmen aus Deutschland und der ganzen Welt an den Südrand der Lüneburger Heide lockten, spiegelt auch das ab 1915 errichtete Verwaltungs- und Produktionsgebäude der 1911 aus einer Fusion entstandenen Deutschen Erdoel-Actiengesellschaft DEA die Bedeutung dieses beschaulichen Heidedorfes für die deutsche Erdölindustrie wider.

Erst im frühen 20. Jahrhundert entwickelte sich rund um die Kraftstoffversorgung des Automobils ein eigenständiger Industriezweig. Bauten wie das 1915-21 in Berlin errichtete OLEX-Haus (später: BP), das 1925 in Bochum fertiggestellte Haus des Benzolverbandes (später: Aral), das 1929-31 in Hamburg erbaute Shell-Haus sowie das 1937-38 ebenfalls in Hamburg errichtete Standard Oil-Haus (später: Esso) dokumentieren die infolge des Aufblühens des Automobilwesens rasch anwachsende Bedeutung der Erdölindustrie. Während man Benzin in den Anfangsjahren des Automobils noch in Apotheken oder Gasthöfen erwerben musste, entstand der Bautypus der Tankstelle erst nach dem Ersten Weltkrieg. Mit der OLEX-Tankstelle am Raschplatz wurde der erste Tankstellenbau in Deutschland im Januar 1923 in Hannover eröffnet. Bis in die 1960er Jahre, als die großen Konzerne Typenbauten für ihre Tankanlagen mit einem einheitlichen Corporate Design entwickelten, entstanden zahlreiche kleine Tankstellenbauten im ganzen Land, von denen nur noch wenige wie eine Esso-Tankstelle in Wolfsburg, eine DEA-Tankstelle in Helmstedt oder eine Shell-Tankstelle in Oldenburg erhalten sind.

Das Straßennetz – die größte zusammenhängende bauliche Anlage Deutschlands

Am deutlichsten sichtbar, wenn auch nur selten bewusst wahrgenommen, prägt das Auto durch seine Straßen unsere gebaute Umwelt. Alleine das Netz der deutschen Autobahnen umfasst eine Gesamtlänge von rund 13.200 Kilometern. Während sich in der Frühphase des Automobils Fußgänger, Radfahrer, Pferdewagen und Autos die bestehenden – in der Regel unbefestigten – Verkehrswege teilen mussten, beginnt die Geschichte der reinen Autostraße in Deutschland 1921 mit der AVUS in Berlin, die ursprünglich nur als private Renn- und Teststrecke diente. Die Idee einer Autobahn als öffentlicher Schnellstraße wurde noch in der Weimarer Republik entwickelt. Auf der Basis dieser ersten Konzepte machten die Nationalsozialisten ab 1933 den Autobahnbau zu einem Kernstück ihrer Arbeitsbeschaffungspolitik.

Niedersachsen wird von drei Autobahnen durchzogen, deren Anlage noch auf die Zeit des Dritten Reichs zurückgeht. Die heutige Autobahn A1 wurde ab 1934 als „Hansa-Linie“ zwischen Hamburg und Bremen erbaut und bis 1937 fertiggestellt. Als die Autobahn in den 1960er Jahren bis ins Ruhrgebiet fortgesetzt wurde, entstand mit dem Brückenrestaurant der Autobahnraststätte Dammer Berge 1967-69 eine von nur zwei Anlagen dieser Art in Deutschland. Ebenfalls seit 1934 befand sich die heutige Autobahn A2 im Bau, der als Verbindung zwischen der Reichshauptstadt Berlin und dem Ruhrgebiet besondere Bedeutung zugemessen wurde. Als drittes im Dritten Reich fertiggestelltes Teilstück überhaupt wurde am 5. April 1936 der Abschnitt zwischen Braunschweig-Watenbüttel und Lehrte eingeweiht. Mit der bis 1937 abgeschlossenen östlichen Erweiterung über Helmstedt nahm auch die dortige Autobahnmeisterei den Betrieb auf, die einer von ehemals zahlreichen Baukomplexen dieser Art im Verlauf der Reichsautobahnen war. Von den im Zuge des Autobahnbaus der A2 errichteten 230 Brücken hat sich noch die 1941 im Abschnitt westlich von Hannover errichtete Autobahnbrücke Escher in Auetal erhalten. Als dritte Niedersächsische Autobahn entspringt auch die heutige A7 in Teilen noch nationalsozialistischen Planungen. 1937 wurde der Abschnitt zwischen Göttingen und Kassel eröffnet, der mit der Werratalbrücke bei Hedemünden ein besonders markantes Teilprojekt des Reichsautobahnbaus enthält. Auch hat sich hier in Göttingen noch eine Autobahnmeisterei erhalten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte zwischen 1956 und 1962 die Fortführung der Autobahn A7 von Hannover nach Hamburg.

In den historisch gewachsenen Städten, deren Straßennetze nicht auf Durchgangsverkehr ausgelegt gewesen waren, ergab sich erst durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs die Möglichkeit, sie für das Automobil neu zu strukturieren. Vor allem in den beiden Großstädten Hannover und Braunschweig kam es im Rahmen des Wiederaufbaus zu einer Neugestaltung der Stadtgrundrisse. Nach dem Leitbild einer gegliederten und aufgelockerten Stadt – dem Titel eines 1957 vom Braunschweiger Städtebau-Professor Johannes Göderitz herausgegebenen Buches – erfolgte eine Neuordnung der Stadtteile in verschiedene Funktionsbereiche, die untereinander durch ein Netz aus Autostraßen verbunden wurden. Im Sinne einer autogerechten Stadt – dem Titel eines 1959 vom Hamburger Architekten Hans Bernhard Reichow herausgegebenen Buches – wurden in den Stadtkernen neue Durchbruchstraßen angelegt, Hochstraßen über Kreuzungsbereiche hinweg gebaut, und Großgaragen wie das Parkhaus Osterstraße in Hannover errichtet. In der Nachkriegszeit wurden dem Automobil somit immer größere Flächen in den Städten zugewiesen, die dadurch aber auch allmählich urbane Atmosphäre einbüßten. Erst die ab den 1960er Jahren aufkeimende Kritik an der Unwirtlichkeit unserer Städte führte zu einem Umdenken, infolge dessen Straßen in Fußgängerzonen umgewandelt wurden. So entwickelt die Stadt Hannover aktuell Pläne für eine Mobilitätswende, die bis 2030 eine weitgehend autofreie Innenstadt vorsehen. Niedersachsen und das Auto werden also auch in der weiteren Zukunft auf verschiedenen Ebenen eng miteinander verbunden bleiben.

 

zum Weiterlesen:

 

Hans Bernhard Reichow: Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos. Ravensburg, 1959

Rainer Stommer: Reichsautobahn. Pyramiden des Dritten Reiches. Marburg, 1982

Joachim Kleinmanns: Super, voll! Kleine Kulturgeschichte der Tankstelle. Marburg, 2002

Joachim Kleinmanns: Parkhäuser. Architekturgeschichte einer ungeliebten Notwendigkeit. Marburg, 2011

Erik Wegerhoff: Automobil und Architektur. Ein kreativer Konflikt. Berlin, 2023

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