Hannoversche Schule

Von Frank Achhammer und Birte Rogacki-Thiemann


Einführung

Die Hannoversche Architekturschule (auch: Hannoversche Schule) bezeichnet eine ab der Mitte des 19. Jahrhunderts von Hannover ausgehende, von spezifischen Merkmalen gekennzeichnete Architekturrichtung, die schon früh vorrangig mit Person und Werk Conrad Wilhelm Hases (1818-1902) sowie seinen Schülern verbunden wurde. Im Rahmen der langen Schaffensperiode ihrer Protagonisten wurden im gesamten norddeutschen Raum bis weit in das 20. Jahrhundert zahlreiche hochrangige private, öffentliche und insbesondere Sakralbauten errichtet, die der Hannoverschen Schule zugeordnet werden bzw. ihren Einfluss zeigen.

Nach der Erhebung zur Residenzstadt des welfischen Fürstentums Calenberg gingen von Hannover zunächst bedeutende Impulse für Gartenbau und Ingenieurskunst aus, etwa durch die Anlage einer Wasserkunst für die höchste Hofgartenfontäne Europas und die Erfindung einer dadurch notwendig gewordenen Schwimmschleuse. Überregionale Bekanntheit erreichte der Hofarchitekt Georg Ludwig Friedrich Laves (1788-1864), der sich 1835 einen Linsenträger patentieren ließ, der nach ihm benannt wurde, und in königlichem Auftrag mehrere bedeutende klassizistische Bauten schuf. Mit der Gründung der Höheren Gewerbeschule 1831 bekam Hannover einen „Ersten Lehrer für Baukunst“, Ernst Ebeling (1804-1851). Um die Mitte des Jahrhunderts gab es einige hannoversche Architekten, die mit ihren Bauten durchaus eigenständige und bedeutende Beiträge zu einem mittelalterlich beeinflussten Rundbogenstil erbrachten, darunter Hase und Christian Heinrich Tramm (1819-1861). In ihren stilprägenden Werken finden sich die Wurzeln der Hannoverschen Schule im Sinne einer Kunstrichtung, die als romantisch orientierte Gegenbewegung zum Klassizismus zu verstehen ist. Wesentliche Grundlage war ein Wahrheitsgedanke, der sich theoretisch für die Erkennbarkeit von Material, Konstruktion und Funktion einsetzte. Praktisch wurde er u. a. mit der Entwicklung des unverputzten Backsteinbaus umgesetzt. Hinzu kam das sich explizit auf das Mittelalter bezogene „Festhalten am Alten“, mit dem man sich schon früh auf eine dogmatische Richtung der Neugotik festlegte. Diese und andere aufgegriffene zeitgenössische Strömungen, wie das Entwickeln von Grundrissen „von innen nach außen“ und die damit verbundene malerische Gruppierung der Baukörper, hatten zumeist ihren Ursprung an anderen Orten, zum Teil bereits lange, bevor sie in Hannover begeistert aufgenommen wurden. Dass sie von hier ausgehend einen weitreichenden Einfluss bekamen und zur Entstehung des Begriffs der Hannoverschen Architekturschule führten, liegt am umfangreichen Schaffen ihrer zahlreichen Protagonisten und der überregionalen Beachtung einiger ihrer architekturgeschichtlich herausragenden Bauwerke.

Mit dem Begriff Hannoversche Architekturschule bzw. Hannoversche Schule ist die Forschung bislang zurückhaltend umgegangen. Allzu eng verknüpft schienen seine Entstehung und Merkmale mit lediglich einer einzelnen Person, ihrem „Begründer“ Conrad Wilhelm Hase (1818-1902) und dessen Einfluss auf eine zahlreiche, generationenübergreifende Anhänger- und Schülerschaft. Auch das 1998 erschienene und immer noch gültige Standardwerk zur Hannoverschen Schule von Günther Kokkelink und Monika Lemke-Kokkelink ist mit „Baukunst in Norddeutschland“ sehr allgemein übertitelt. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass der Begriff nicht erst um 1880 aus dem direkten Umfeld Hases heraus eingeführt, sondern schon 1864 benutzt wurde, um die eigenständige Entwicklung des Rundbogenstils hannoverscher Eisenbahnbauten als Emanzipation von der Münchener Schule zu kennzeichnen. Nachweislich hatte sich der Begriff über rund zwei Jahrzehnte bereits außerhalb Hannovers entwickelt, was Theodor Unger in seinem hannoverschen Architekturführer von 1882 als Rechtfertigung anführt, die Hannoversche Architekturschule in einem eigenen Kapitel ausführlich darzustellen. Zu diesem Zeitpunkt standen bereits Hase und seine Anhänger als Teil der neugotischen Bewegung und als Vorreiter des Backsteinbaus in und außerhalb Hannovers im Fokus. Karl Emil Otto Fritsch bezeichnet 1868 in der von ihm mitgegründeten Deutschen Bauzeitung Hases Christuskirche in Hannover als „[e]ines der hervorragendsten Werke des Meisters, welcher an der Spitze der in sich durchaus selbstständig entwickelten Hannoverschen Architekturschule steht“. Hases Wirkung als Kirchenbaumeister, die Verbreitung seiner Auffassungen als charismatischer Lehrer und insbesondere die 1880 von ihm selbst veranlasste Gründung des Künstlervereins „Bauhütte zum weißen Blatt“ führten zu einer nachhaltigen Projektion des Richtungsbegriffes allein auf seine Person. Abgesehen davon, dass Hase sich vor dem Bau der Christuskirche in einer Reihe von mehreren hannoverschen Architekten befand, die überwiegend in einem romantisch beeinflussten Rundbogenstil entwarfen, hatten an der Bekanntheit der Hannoverschen Schule außerhalb des Königreichs und später preußischen Provinz auch einige von Hases erfolgreichsten Schülern wie Edwin Oppler und Johannes Otzen mit eigenständigen Impulsen großen Anteil. Um 1900 waren es bekannte Vertreter wie Karl Mohrmann (1857-1927) oder Karl Börgemann (1851-1938), die der hannoverschen Neugotik die Prägung einer jüngeren Generation gaben und sich schließlich auch anderen Stilrichtungen zuwandten. Eine herausragende Rolle spielte dabei die bis heute bestehende Künstlervereinigung „Bauhütte zum weißen Blatt“. Sie sorgte dafür, dass zahlreiche jüngere Architekten hier formulierte Prinzipien beibehielten und infolgedessen Einflüsse der Hannoverschen Schule in Bauten der Zwischenkriegszeit und sogar der Nachkriegszeit zu finden sind.

Dass der Begriff Hannoversche Architekturschule schon früh und außerhalb Hannovers entwickelt wurde, noch bevor Hase mit dem Bau der Christuskirche einen Referenzbau für seine dogmatisch vertretene Backsteinneugotik setzte, rechtfertigt seinen Platz in der Architekturgeschichte. Das Werk Hases, zweifellos von gewaltigem Umfang und nachhaltig die Wahrnehmung der Hannoverschen Schule bis in die Gegenwart beeinflussend, ist inzwischen recht umfassend bearbeitet. Der in Teilen durchaus eigenständige Anteil seiner Kollegen, Schüler und insbesondere der Mitglieder der „Bauhütte“ reicht bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und dürfte dagegen noch viel Potential für spannende Forschungsergebnisse bieten.

Architekten und Werke der Hannoverschen Architekturschule

Der in Einbeck geborene Hase studierte ab 1834 an der noch jungen hannoverschen Gewerbeschule bei Ernst Ebeling Baukunst. Als Student trat er einem nationalistischen Turnerbund bei und fand bereits Kontakt zu Künstlern wie dem Stadtbaumeister August Andreae und dem Maler Georg Osterwald. Nach Abschluss des Studiums absolvierte er eine Maurerlehre bei August Christoph Gersting, im Anschluss daran ging er auf Wanderschaft und studierte unter anderem in München bei Friedrich von Gärtner (1791-1847). 1842 kehrte Hase nach Hannover zurück, wo Architekten für den Bau der Eisenbahn gesucht wurden und wo er zunächst für Gersting die Bauleitung für ein von Laves entworfenes Mausoleum für Carl von Alten übernehmen konnte. Von 1843 bis 1848 baute Hase für die Königlich Hannoversche Eisenbahndirektion, 1848/49 restaurierte er die Klosterkirche in Loccum. Gleich im Anschluss daran wurde er zweiter Lehrer für Baukunst an der Gewerbeschule, die inzwischen „Polytechnische Schule“ hieß. Die lutherische hannoversche Landeskirche bot dem Hochschullehrer 1863 das Nebenamt des Konsistorialbaumeisters an, das er bis 1897 ausübte. Seine Biografie lässt vermuten, dass Hase, der sich bis ins hohe Alter gerne in altdeutschem Rock und Barrett zeigte, recht früh von einer romantischen Bewegung geprägt wurde, die ihm die Grundlagen seines späteren Schaffens lieferte. Seine direkt an die Begegnung mit Bauten des Rundbogenstils und der Neugotik in München anschließende Arbeit am Hemminger Mausoleum muss lokal als Pionierleistung in der Herstellung von Formsteinen für den Backsteinbau gesehen werden, für Hase war es darüber hinaus die Gelegenheit zur praktischen Auseinandersetzung mit gotischen Formen. Der Bau von Empfangsgebäuden für die Eisenbahn, damals eine neue Gattung und Inbegriff des Fortschritts, mag entscheidend zu seiner Anstellung als Lehrer an einer staatlichen Schule geführt haben. Das von ihm entworfene Museum für Kunst und Wissenschaft (1853-1856) in der Sophienstraße (heute Künstlerhaus) wurde zu einem der bedeutendsten Beispiele hannoverscher Rundbogenstilbauten. 1857-1864 baute Hase für das Königspaar Schloss Marienburg (Pattensen) im Stil der Neugotik, wurde allerdings in der Schlussphase durch seinen Schüler Edwin Oppler (1831-1880) ersetzt. Die Beschäftigung am Kloster Loccum verschaffte Hase einen Kontakt zur lutherischen Landeskirche, mit einer Publikation zur Neugestaltung der Klosterkirche empfahl er sich als Sachverständiger auch in damals aktuellen Streitfragen zur Organisation des protestantischen Sakralraums. Die von Hase in königlichem Auftrag entworfene und 1859-64 ausgeführte Christuskirche war für den Architekten eine einzigartige Gelegenheit, einen für damalige Verhältnisse ungewöhnlich großen und kostspieligen Kirchenbau auszuführen. Durch sie wurde Hase endgültig zu einem bedeutenden Vertreter neugotischer Backsteinarchitektur, sein Werk gleichzeitig zum Referenzbau für die im Eisenacher Regulativ 1861 zusammengefassten Grundsätze des protestantischen Kirchenbaus. Die guten Beziehungen zum Konsistorium überdauerten ebenso wie die Selbständigkeit der hannoverschen Landeskirche die preußische Annexion des Königreichs 1866, Hase baute in kirchlichem Auftrag zahlreiche weitere Kirchen und Schulen. Gleichzeitig bildete er zusammen mit dem gleichaltrigen und gleichgesinnten Ludwig Debo (1818-1905) Generationen von Architekten an der „Polytechnischen Schule“, später „Königliche Technische Hochschule“ aus.

Wie erwähnt, spielt in diesem Zusammenhang auch die 1880 gegründete „Bauhütte zum weißen Blatt“ eine bedeutende Rolle. Diese wird häufig als Wiederbelebung mittelalterlicher Dombauhütten beschrieben und gewertet, vor allem, da ihre Vorgängerin 1860 mit dem Bau der Christuskirche entstand und somit in engem Zusammenhang mit dem dortigen Bauprozess zu stehen schien. Den Gründern, den Architekten Hase, Ludwig Bähr (1831-1869), Wilhelm Hauers (1836-1905), Adelbert Hotzen (1830-1922), Wilhelm Lüer (1834-1870), Franz Ewerbeck (1839-1889) und Franz Andreas Meyer (1837-1901), schwebte aber schon damals eher ein Kunstverein zur Förderung einer „Deutschen Architektur“ vor. Die noch jungen Architekten – sie alle sind in den 1830er Jahren geboren – waren sämtlich Schüler von Hase und bauten in den Folgejahren zahlreiche der prägenden Bauten, die der Hannoverschen Architekturschule zugeordnet werden. Bis auf den später vor allem in Hamburg tätigen Meyer waren diejenigen von ihnen, die 1880 noch lebten, auch Mitglieder der zweiten Bauhütte, die den Zusatz „zum weißen Blatt“ trägt, der vielleicht auf den Neuanfang hindeuten mag, vermutlich aber wiederum eher als sinnbildlich für die Kunst zu verstehen ist, die in der Regel mit einem leeren Blatt Papier beginnt. Auch die Anlehnung an die hannoversche Freimaurerloge „Friedrich zum Weißen Pferd“ ist naheliegend und wurde von den Zeitgenossen sicher so verstanden. Sitz der Bauhütte war ein Anbau an das Hannoversche Künstlerhaus – mitsamt seinem wertvollen Archiv wurde er leider im Zweiten Weltkrieg zerstört. Der inschriftliche Verweis auf die Bauhütte ist am Künstlerhaus auch nach der letzten Renovierung noch erhalten, das ehemals mit diesem Schriftzug in Zusammenhang stehende Hüttenzeichen allerdings seitdem verschwunden. Sinnbildlich für die Bedeutung Hases und die Verehrung durch die Anhänger und Mitglieder der Bauhütte zum weißen Blatt ist ein Relief des „Altmeisters“ an der straßenzugewandten Fassade des Künstlerhauses: Es stammt aus dem Jahr 1916 und wurde von den Hüttenmitgliedern Otto Lüer (1865-1947) und Karl Gundelach (1856-1920) gestaltet.

Die Gemeinschaft der Schüler und Anhänger von Hase umfasst mehrere Generationen, die ältesten sind 1830 geboren, die jüngsten stammen aus den 1870er Jahren des 19. Jahrhunderts. Die meisten von ihnen bauten zunächst im reinen neugotischen Stil, mit backsteinsichtigen Fassaden und verschiedenen, auf die Gotik bezogenen Elementen, die von Spitzbogenfenstern und -blenden, Strebepfeilern und Gewölben über Staffelgiebel, Fialen, Türmchen bis hin zum Einsatz von farbig glasierten Steinen und Terrakotten reichten. Es entstanden zahlreiche Kirchen in der Stadt und auf dem Lande, Gutshäuser, viele qualitätvolle Villen und Wohnhäuser, aber auch Bahnhöfe, Schulen, Krankenhäuser, Rathäuser, Fabriken und wie erwähnt sogar Schlösser.

Von den Kirchen sind neben der bereits angeführten Christuskirche alleine in Hannover zwei weitere nach Entwürfen von Hase entstanden: Die Apostelkirche in der hannoverschen Oststadt und die Zionskirche (heute Erlöserkirche) in Linden. Im direkten Umland sind die Elisabethkirche in Langenhagen und die sehr gut erhaltenen Kirchen in Wettmar, Altenhagen und Lauenau erwähnenswert. Die 1854-1857 ausgeführte Kirche in Wettmar stellt als Hases erstes Kirchenneubauprojekt einen Sonderfall dar, sie wurde als polychromer Backsteinbau im Rundbogenstil ausgeführt. Die St. Nicolai-Kirche in Altenhagen gehört dagegen zu den schönsten Beispielen neugotischer Hasekirchen. Die ersten Schülergenerationen der in den 1830/1840er Jahren geborenen entwarfen ähnlich konnotierte Bauten, die wie die Dreifaltigkeitskirche in der hannoverschen List von Christoph Hehl (1847-1911) und die Isenbütteler Kirche von Theodor Unger (1846-1912) als herausragende Beispielbauten der Hannoverschen Schule gelten können.

 

Besonders gut erhalten haben sich von den Bauten der Hannoverschen Schule bis heute zudem zahlreiche Wohnbauten, darunter herausragende Denkmale wie die 1864/65 von Hase gebaute Villa der Familie von Strauß in Bückeburg oder die vom Hase-Schüler Franz Krüger (1873-1936) 1904 entworfene Villa Hölscher in Lüneburg. Große Wohnbauten mit außergewöhnlicher Gestaltung entwarfen auch Karl Börgemann (1851-1938), Johannes Franziskus Klomp (1865-1946), Friedrich Ilse (1831-1912), Ludwig Frühling (1833-1906) und Friedrich Wedel (geb. 1855) in Hannover oder auch die Brüder Hermann (1871-1911) und Wilhelm Matthies (1867-1934) in Lüneburg, die Architektur um das Steinhuder Meer ist von neugotischen Bauten der Architekten Wilhelm und Ernst Meßwarb (Vater und Sohn) geprägt, in Göttingen wirkte die Firma Rathkamp, in Hildesheim Gustav Schwartz (1847-1910). Für kleinere Einfamilienhäuser stehen beispielhaft das Wohnhaus für den Arzt Otto Sprengell in Lüneburg, das Adolf Narten (1842-1928) 1868 entwarf, oder die um 1900 in Reihe gebauten Wohnhäuser des Hase-Nachfolgers Karl Mohrmann (1857-1927) in der hannoverschen Nordstadt am Herrenhäuser Kirchweg. Sie alle zeigen – obwohl im Abstand von fast 40 Jahren entstanden – typische Merkmale der Hannoverschen Schule.

Neben den erwähnten Bahnhöfen und Schlossbauten machen auch Schulgebäude, die ab 1860 vermehrt gebaut wurden, einen großen Teil des Bestandes aus. Von ihnen haben sich durch den hohen Veränderungsdruck leider nicht alle in ursprünglichem Zustand erhalten. Beispielhaft seien hier zwei Schulgebäude von Hase in Ronnenberg, die alte Gestorfer Schule und in Hoya ein vom Hase-Schüler Adelbert Hotzen (1830-1922) entworfener Bau genannt . Ein 1898 entstandener Entwurf für eine Schule von Richard Kampf (1857-1919) in Lüneburg zeigt einen charakteristischen Staffelgiebel, mehrere größere Schulbauten in Hannover stammen von Paul Rowald (1850-1920), wie die 1893-1896 gebaute Bürgerschule in Vahrenwald.  Auch Turnhallen gehörten in diesen Kontext, von denen eines der frühesten Beispiele die teilweise erhaltene Halle des Turnklubbs Hannover von Wilhelm Hauers (1836-1905) und Wilhelm Schulz (1837-1895) ist.

Nicht zuletzt ist das Dienstgebäude des Niedersächsischen Landesamts für Denkmalpflege in Hannover ein Bau von drei bekannten Architekten der hannoverschen Schule:  Ernst Bösser (1837-1908) zeichnete verantwortlich für den Villenbau, der den Kern des heutigen Amtsgebäudes bildet. Er war kein Hase-Schüler, kam aber nach seinem Studium bei dem ebenfalls der Neugotik nahestehenden Georg Gottlob Ungewitter (1820-1864) in Kassel nach Hannover, weil er von Hases Maximen begeistert war. Er fand eine Beschäftigung im Büro von Edwin Oppler, der wiederum einer der interessantesten Architekten der Hannoverschen Schule ist. Die ehemalige Villa „Rümpler“ stammt von 1865, bereits 1882 wurde das Gebäude für das katholische Vinzenzstift umgebaut in ein Krankenhaus. Der hierfür verantwortliche Architekt Christoph Hehl (1847-1911) kam ebenfalls aus Kassel und hatte wie Bösser zuvor auch im Büro von Oppler gearbeitet. Hehl zeichnete in mehreren Bauabschnitten verantwortlich für den Ausbau des Vinzenzstiftes entlang der Scharnhorststraße mit der bis heute vorhandenen Krankenhaus-Kapelle und inklusive des ehemaligen "Garten- und Gewächshauses" an der Ecke zur Gellerststraße und der katholischen St. Elisabeth-Kirche. Den dritten und abschließenden Bauabschnitt bildete zwischen 1901 und 1904 der Erweiterungsbau an der Kirchwenderstraße. Der hierfür zuständige Architekt, Carl Prediger (1840-1918), war zwischen 1863 und 1865 eingeschriebener Student bei Hase. Sein Flügel fügte sich an die beiden Vorgängerbauten an: Der über fast vier Jahrzehnte entstandene Gebäudekomplex spiegelt somit idealtypisch die Beständigkeit der Hannoverschen Schule in der Architektur Norddeutschlands (und Hannovers) wider – seit 1982 ist das Gebäude der Dienstsitz der Abteilungen der Denkmalfachbehörden (heute NLD).

Bei aller Verehrung für den charismatischen Baumeister und Lehrer Conrad Wilhelm Hase, insbesondere durch seinen engeren Umkreis, blieb die Jahrzehnte überdauernde Monokultur des neugotischen Backsteinbaus nicht ohne Kritik. Die Gotik stand trotz oder wegen des Erfolgs in der Sakralarchitektur immer wieder als vorreformatorisch und damit katholischer Stil unter Beschuss, auch als nationaler Identifikationsstil erschien sie mit steigender Kenntnis der Architekturgeschichte kaum noch geeignet. Überdies wurde sie vielfach als zu aufwändig und teuer bezeichnet. Hinzu kamen die Umwälzungen in der Kunst gegen Ende des 19. Jahrhunderts und der immer stärker werdende Drang, sich von einem dogmatischen Historismus zu befreien. Auch Hases Schüler und Nachfolger wandten sich neueren Strömungen zu. Der äußerst erfolgreiche Johannes Otzen (1839-1911) baute mit der Wiesbadener Ringkirche den Musterbau des Wiesbadener Programms, eines Gegenentwurfs zum Eisenacher Regulativ. Der kreative Umgang mit der strukturellen Neuorganisation einer Kirche im mittelalterlichen Stil ist wiederum genau das, was man als typisches Beispiel eines von Hase geprägten Historismus sehen kann. Hases Schüler und Nachfolger Karl Mohrmann blieb als Konsistorialbaumeister den Prinzipien des Meisters treu, wandte sich aber von der Gotik der in wilhelminischer Zeit bevorzugten Romanik zu, viele weitere Schüler und jüngere Nachkommen wie Wilhelm Matthies (1867-1934), Alfred Sasse (1870-1937) und Ferdinand Eichwede (1878-1909) hielten trotz einer stetigen Weiterentwicklung dennoch an den grundsätzlichen Prinzipien der Hannoverschen Schule bis weit ins 20. Jahrhundert fest.

 

im Denkmalatlas zum Thema bereits vorhandene denkmal.objekte und denkmal.themen:

C. Palmen: Das Militärhospital in Stade https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/objekte/militaerhospital/
F. Achhammer: https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/objekte/villa-simon/
F. Achhammer: Das Mausoleum von Alten https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/objekte/das-mausoleum-fuer-carl-von-alten
F. Achhammer: Die Christuskirche https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/objekte/Christuskirche/
B. Rogacki-Thiemann: Das Dienstgebäude des NLD https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/cms/394/
C. Achhammer et al: Plan der Kirche Wietzendorf https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/objekte/hase-plan/
B. Rogacki-Thiemann / F. Achhammer: Reinholdstraße 7 https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/cms/433/
F. Achhammer: Die Bethlehemkirche https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/objekte/Bethlehemkirche/
K. Freytag: Der Architekt Wilhelm Matthies https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/thema/wilhelm-matthies/
B. Rogacki-Thiemann: Der Architekt Franz Krüger https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/franzkrueger/
B. Rogacki-Thiemann: Der Architekt Ferdinand Eichwede https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/themen/der-architekt-ferdinand-eichwede/
B. Rogacki-Thiemann: Der Architekt Alfred Sasse https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/thema/Alfred_Sasse/


Zum Weiterlesen:

Günther Kokkelink / Monika Lemke-Kokkelink: Baukunst in Norddeutschland. Architektur und Kunsthandwerk der Hannoverschen Schule 1850 - 1900. Hannover 1998

Hütten=Buch 1930, hrsg. von der Bauhütte zum weißen Blatt Hannover, Hannover 1930

Geschichte und Architektur der Bauhütte Hannover, hrsg. von der Bauhütte zum weißen Blatt Hannover, Hannover 1980

Markus Jager: Hannoversche Schule und/oder Hase-Schule? Akademische Selbstbehauptung in Zeiten preußischer Annexion. In: Conrad Wilhelm Hase (1818-1902). Architekt, Hochschullehrer, Konsistorialbaumeister, Denkmalpfleger. Petersberg [2019], S. 15-29

Birte Rogacki-Thiemann: Die Bauhütte zum weißen Blatt - Eine Auswertung des "Hütten-Archivs". In: Hannoversche Geschichtsblätter N.F. 78, Hannover 2024, S. 71-102

Frank Achhammer: Die Bauhütte zum weißen Blatt - Eine Schöpfung Conrad Wilhelm Hases - und umgekehrt? Ein Beitrag zur Geschichte der Hannoverschen Schule. In: Hannoversche Geschichtsblätter N.F. 78, Hannover 2024, S. 103-135




 

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