Eine Typfrage – Notkirchen des Typs Gemeindezentrum und des Typs Diasporakapelle in der Weser-Ems-Region

Von Elke Onnen

Die Errichtung von Notkirchen in Deutschland in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ist untrennbar mit dem Namen des Architekten Otto Bartning (1883-1959) verbunden, sodass die Notkirchen der evangelischen Kirchen häufig auch als „Bartning-Kirchen“ bezeichnet werden. Das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland (HEKD) legte nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Notkirchenprogramme auf, die Ersatz für die zerstörten Kirchen schaffen bzw. den Bedarf an Gotteshäusern in neu entstandenen Gemeinden decken sollten. Betont wurde jedoch, dass es sich nicht um Behelfskirchen handele, sondern die „Not“ beziehe sich auch auf die geistige Not, die durch den Bau neuer Gotteshäuser gelindert werden solle. Trotzdem wurden diese Bauten oft als Provisorien angesehen, die durch (repräsentativere) Neubauten ersetzt wurden.

Das erste Hilfsprogramm umfasste 48 Kirchen, von denen 43 ausgeführt wurden, die vor allem in den zerbombten Städten als Ersatz für die zerstörten Gotteshäuser zwischen 1947 und 1951 errichtet wurden. Für dieses Programm entwarf der Architekt Otto Bartning Kirchen in Montagebauweise, die schnell und kostengünstig errichtet werden konnten. Bartning hatte als Leiter der Bauabteilung des HEKD in Neckarsteinach zudem die Oberleitung des gesamten Kirchenbauwesens der evangelischen Kirche in Deutschland inne. Der Architekt hatte sich schon früh in seiner Laufbahn mit Kirchenbau beschäftigt und theoretisch auseinandergesetzt, ein Ergebnis seiner Überlegungen ist sein 1919 erschienenes Buch „Vom neuen Kirchenbau“.

Das erste Notkirchenprogramm entstand in Zusammenarbeit mit anderen Mitarbeitern der Bauabteilung, darunter Emil Staudacher (1898-1977) und Bartnings späterem Partner Otto Dörzbach (1920-1989).

Die Kirchenbauten wurden nach Typ A und B, wobei Typ B verschiedene Varianten besaß, klassifiziert. Ziel war es, natürliches Baumaterial wie Holz und Stein zu verwenden, denn Stahl war zu teuer und außerdem kontingentiert. Die Bauteile und Ausstattungselemente wie Türen, Gestühl und Altar wurden in Neckarsteinach, dem Sitz der Bauabteilung des HEKD, vorgefertigt und konnten dort bestellt werden. Die Errichtung vor Ort inklusive Erstellung des Fundaments wurde von der örtlichen Kirchengemeinde übernommen. Die massiven Außenwände wurden mit regionaltypischem Material wie Backstein oder Bruchstein, teilweise auch aus Trümmersteinen aufgemauert. Diese Eigenleistungen stärkte die Bindung der Gemeinden an „ihre“ Kirche. Finanziert wurden die Notkirchen durch Spenden des Weltrats der Kirchen (World council of Churches), der Presbyterian Church (USA), der Evangelical and Reformed Church (USA), des Lutherischen Weltbundes (Lutheran World Federation) sowie vom Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz. Besonders aktiv war der Lutherische Weltbund, der allein 30 Kirchen stiftete. Die Kirchen in der Weser-Ems-Region sind ausschließlich von der Lutherischen World Foundation finanziert.

Der nur dreimal errichtete Typ A besitzt eine aufwändige (und vergleichsweise teure) Deckenkonstruktion in Form einer hölzernen Spitztonne, die sich im Außenbau durch ein Bogendach abzeichnet – eine Variante ist die Schweizer Kirche in Emden, hier „versteckt“ jedoch ein Satteldach das Tonnengewölbe. Der Name Schweizer Kirche bezieht sich auf den Stifter HEKS (Hilfswerk der ev.-ref. Kirche in der Schweiz).

Zahlenmäßig am größten ist die Gruppe der Kirchenbauten des Typs B mit seinen verschiedenen Versionen, bei denen die Form des Chorraumes unterschiedlich ausgebildet ist. In Hannover entstanden zwei Bartning-Kirchen des Typs B.

Das zweite Notkirchenprogramm lief von 1949 bis 1953 und umfasste Bauten des Typs Gemeindezentrum (Typ D) und des Typs Diasporakapelle. Einen Typ C gab es wohl nur auf dem Papier, er wurde nie ausgeführt. War das erste Notkirchenprogramm vor allem für die kriegszerstörten Städte gedacht, legte das HEKD das zweite Programm für die unterversorgten ländlichen evangelischen Gemeinden, die größtenteils erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden waren, auf. So wurde in Bakum (Ldkrs. Vechta) 1951 die Gethsemane-Kirche für protestantische Gläubige aus dem schlesischen Goldberg errichtet. Zu der Kirche gehört auch die serienmäßige angebaute Pastorenwohnung. Die Kirchenbauten entstanden außerhalb der Ortskerne, wie die Bauten selbst waren die Grundstücke häufig eine Spende, in Bakum stellte beispielsweise Freiherr von Frydag den Bauplatz der Gethsemane-Kirche zur Verfügung. 

Von den insgesamt 19 Notkirchen des Typs D wurden allein in Niedersachsen neun errichtet, die meisten in der Weser-Ems-Region - genauer gesagt im Oldenburger Münsterland und im Emsland. Beides waren und sind katholisch geprägte Landstriche, die bis 1945 teilweise bis zu 100 Prozent katholisch waren. Durch die Folgen des Zweiten Weltkrieges kamen viele Protestanten aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen in diese Landkreise, für die es nun evangelische Kirchenbauten zu errichten galt. Die Notkirchen sollten damit auch die geistige Heimatlosigkeit der Vertriebenen lindern. Es entstanden daher keine reinen Gotteshäuser, sondern Gemeindezentren. Es handelt sich um eingeschossige Skelettbauten unter einem Walmdach mit Schindeldeckung, dass durch ein umlaufendes Lichtband unterbrochen wird, so dass eine zweistufige Dachkonstruktion mit Pultdächern und dem eigentlichen Walmdach entsteht. Das Gebäude hat eine Grundfläche von 13,16 x 15,26 m. Auf dem Fundament wurde in einem Raster von 2 x 2 m eine hölzerne Innenkonstruktion errichtet, die im Außenbau ablesbar ist; zwischen den meist dunkel gefassten Stützen sind helle Zementfaserplatten montiert. Der Zugang erfolgt an der Hauptfassade durch zwei Eingänge an den Außenseiten mit vorgelegten Freitreppen (je nach Ausbildung bzw. Höhe des Fundaments). Betont wird die Fassade durch einen mittigen Glockenträger, eine offene Holzkonstruktion mit bekrönendem Kreuz.

Im Inneren bilden die Windfänge mit dem dazwischenliegenden Orgelpodium, den Seitengängen und an der rückwärtigen Seite Sakristei und Teeküche eine Art Umgang, der im Außenbau durch das umlaufende Pultdach erkennbar ist. Orgel und Altar stehen sich auf Podien gegenüber, der Altar befindet sich in einer Nische, die durch Klappläden geschlossen werden kann, so dass er bei der Nutzung der Kirche als Gemeinderaum nicht mehr sichtbar ist. Auch die Ausstattung wie Gestühl, Altar und Kanzel wurden in Neckarsteinach gefertigt und dort bestellt.

Zum Typ D gehörte standardmäßig auch die angebaute Pastorenwohnung, wie sie beispielsweise in Bakum aber auch in Bawinkel (Ldkrs. Emsland) erhalten ist. Diese Anbauten haben eine Grundfläche von 10,18 x 6,7 m und besitzen ein Satteldach.

Die Gemeindezentren haben keine massiven Außenwände wie Typ A und B, die durch die Verwendung von örtlichen Baumaterialien und Anordnung der Fensteröffnungen individueller gestaltet sind. Es handelt sich um „Multifunktionsbauten“, bei denen der Kirchenraum durch wenige Handgriffe in Gemeindesäle als Treffpunkt für die Protestanten umgewandelt werden konnten.

Nicht zu verwechseln mit dem Kirchentyp D ist der Typ „Diasporakapelle“, von denen auf der Website der Otto-Bartning-Arbeitsgemeinschaft Kirchenbau (OBAK) 33 Exemplare gelistet sind. Sie gelten durch ihre geringere Größe und die zwei seitlich angeordneten Eingänge und die ähnliche Innenraumaufteilung und -ausstattung als minimierte Ausgabe des Typs Gemeindezentrum. In der Tat umfasst der Grundriss der Kapelle nur eine Fläche von 14,47 x 11,3 m. Entscheidender Unterschied ist jedoch die Tatsache, dass die Diasporakapelle drei massiv gemauerte, 2,7 m hohe Außenwände aus Kalksandstein und ein traufständiges Satteldach hat, das an der Fassade abgeschleppt ist. Nur die Fassade selbst hat ursprünglich eine waagerechte Verschaltung aus Holz, darüber befindet sich ein Lichtband unterhalb der Traufe. Belichtet wird der Innenraum durch je ein dreiecksförmiges Fenster im Giebeldreieck. Wie alle Diasporakapellen besitzt auch die St. Lukaskirche in Werlte zwischen den Windfängen einen Nebensaal (bei Typ D ist hier die Orgelempore angeordnet), wiederum eine Altarnische mit Klappläden, daneben Sakristei und Teeküche. Auf Wunsch der jeweiligen Gemeinde konnte ein Dachreiter für die Glocke aufgesetzt werden.

Zu den Gemeindezentren und Diasporakapellen gehörten keine Glockentürme, diese hingen stattdessen in den hölzernen Glockenträgern bzw. in den Dachreitern. Nachträglich wurden deshalb teilweise separate Glockentürme errichtet, so beispielsweise in Sögel (Ldksr. Emsland). Auch wurden die angebauten Pastorenwohnungen im Laufe der Zeit durch eigenständige Pfarrhäuser ersetzt, die Anbauten wurden abgerissen bzw. als weitere Gemeinderäume genutzt. Mit den Kirchenbauten wurden häufig auch eigene protestantische Friedhöfe angelegt.  

So schnell, wie sie aufgebaut wurden, konnten die Bartning-Kirchen auch wieder abgebaut werden. Das erleichterte die Umsetzung – einige Kirchen wurden im Ort selbst versetzt, andere abgebaut, eingelagert und später verkauft. Die Friedenskirche in Garrel fand beispielsweise im Ort einen neuen Standort; die malerisch an einem Fischteich gelegene Kirche St.-Petri-zu-den Fischteichen in Ahlhorn stand ursprünglich in Steinfeld (Ldkrs. Vechta); ebenfalls im Landkreis Vechta liegt Visbek, die dortige Diasporakapelle wurde an die Kirchengemeinde Sudargas in Litauen verkauft. In diesem Zusammenhang sei hier auch die Kirche in Emstek/Cappeln (Ldkr. Emsland), die 1971 abgerissen wurde und für die es keine Zweitverwendung gab, erwähnt. Konstruktionsteile wie die Holzbinder der Notkirche in Hannover-List konnten jedoch in neue Kirchen eingebaut werden, wie es bei der Neugestaltung der Zachäuskirche in Hannover-Burg der Fall ist.

Die Bartning-Kirchen waren dabei nicht als Behelfskirchen gedacht, wie sie vielerorts nach dem Krieg entstanden sind. Häufig handelt es sich bei diesen Behelfsbauten um Baracken, die teilweise aus Lagern umgesetzt worden sind, wie das Beispiel Rütermoor (Landkreis Emsland) zeigt. Die Baracke stammt aus einem RAD-Lager in Lindloh, sie wurde 1945 umgesetzt, um in dem Sperrgebiet an der niederländischen Grenze als katholische Kapelle und ab 1946 auch als Schule zu dienen. Kein Typenbau ist die evangelische Nazarethkirche in Twist, 1954 errichtet. Sie orientiert sich jedoch mit ihrer Holzbinderkonstruktion und dem Lichtband an den Entwürfen von Otto Bartning. Gemeinsam mit den Notkirchen hat sie den Lutherischen Weltbund als Stifter.

Die Typenbauten des zweiten Notkirchenbauprogramms, sei es Gemeindezentren oder Diasporakapellen, waren jedoch keine sterilen Fertigbauten, sondern gerade durch die Verwendung von Holz im Inneren wird immer wieder die warme Ausstrahlung hervorgehoben. Der Aufbau erfolgte in der Regel in Eigenleistung der Gemeinden – damit erhöhte sich auch die Identifikation mit den Gebäuden. Sie wurden nicht einfach „hingestellt“.

Gerade in den fast überwiegend katholischen Gebieten des Oldenburger Münsterlandes und des Emslandes fehlte es an protestantischen Gotteshäusern. So konzentriert sich das Vorkommen der Notkirchen Typ D und Typ Diasporakapelle in Niedersachsen auf die südliche Weser-Ems-Region. Ausnahmen sind Algermissen (Ldkrs. Hildesheim) bzw die Diasporakapelle in Bilshausen (Ldkr. Göttingen). Die Bartningbauten waren keine reine Kirchengebäude, sondern auch Orte der Versammlung und Begegnung, die besonders für die Heimatlosen sehr wichtig waren. Die Notkirchen von Otto Bartning sollten der äußeren und inneren Not entgegenwirken. Dass so viele dieser Bauten bis heute erhalten sind, zeigt, dass sie von den Gemeinden nicht als Provisorien verstanden werden.

 

Zum Weiterlesen

Otto-Bartning-Arbeitsgemeinschaft Kirchenbau e.V. www.otto-bartning.de – mit einer Auflistung aller Notkirchen

Die 48 Notkirchen in Deutschland Typ A und B, O.O. 1949

Jürgen Bredow / Helmut Lerch: Materialien zum Werk des Architekten Otto Bartning. Darmstadt 1983

Andreas Wegmann: Otto Bartning. Notkirchen im Oldenburger Münsterland. In: Heimatbund für das Oldenburger Münsterland (Hg.). Jahrbuch für das Oldenburger Münsterland 1993, S. 169-188

Akademie der Künste/Wüstenrot Stiftung (Hg): Otto Bartning. Architekt einer sozialen Moderne. Darmstadt 2017

Jörg Rehm / Sabine Kronthaler: Sakralbauten in Zeiten des Mangels. Otto Bartnings Notkirchenbauprogramm. München, 2019

Otto Barting: Vom neuen Kirchenbau. Berlin, 1919 Wien. Neuauflage: (Schütz, Peter (Hg.): Otto Bartning. Vom neuen Kirchbau. Köln, 2019

Michael Flock: Der Notkirchenbau von Otto Bartning

Rocco Curti: Nachkriegskirchen in Hannover

 

 

 

 

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