Die Künstlerkolonie Worpswede und ihre Denkmale

Von Birte Rogacki-Thiemann

Noch kurz vor der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert war Worpswede, nordöstlich von Bremen gelegen, ein vollkommen unbedeutender Ort, ein kleines Dorf, das niemand kannte und das sich aus einer Kirche und verstreuten Hofanlagen und kleinen Moorkaten konstituierte. Die Landschaft war durchzogen von kleinen Kanälen, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts nach Plänen des königlich- hannoverschen Moorkommissars Jürgen Christian Findorff (1720-1792) zur Entwässerung der Moore und zur Nutzbarmachung der Landschaft angelegt worden waren. Durch die Etablierung eines wohldurchdachten Netzes von Gräben unterschiedlicher Dimensionen und die Zusammenführung der Wasserzüge zu schiffbaren Wegen, deren Wasserstand über Schleusen reguliert wurde, und die letztlich in die größeren Wasserläufe der Hamme, Wümme und Beeke mündeten, war die Grundlage gelegt worden, auch in Worpswede am Fuße des Weyerbergs zu siedeln und zu wirtschaften. Bis zum beginnenden 20. Jahrhundert waren hier vor allem Moorbauern und Torfstecher vorherrschend, die Torf der unteren Moorschichten, den so genannten Schwarztorf mit einem besonders hohen Brennwert, abbauten und über das Kanalsystem auf Torfkähnen bis Bremen verschifften und ihn dort verkauften. Die Urbarmachung des Landes ging in Worpswede einher mit dem Bau der ev.-luth. Zionskirche, die 1757 und 1759 nach Plänen des hannoverschen Oberhofbaumeisters Johann Paul Heumann ebenfalls unter der Leitung des Moorkommissars Findorff errichtet wurde. Mit ihrer Lage auf der Kuppe des Weyerbergs bilden die Zionskirche und ihr 1798 ergänzter Turm bis heute eine Landmarke in der flachen Landschaft um Worpswede.

1884 lud eine Kaufmannstochter aus Worpswede, die für ein Jahr in Düsseldorf bei ihrer Tante lebte, den Kunststudenten Fritz Mackensen (1866-1953), der gerade sein Malstudium an der dortigen Akademie aufgenommen hatte, in ihr Heimatdorf ein. Mackensen kam und blieb für einige Wochen im Sommer 1884. In seinen Erinnerungen wird deutlich, wie überwältigt er von der Landschaft und dem besonderen Licht Worpswedes war: „Es war ein Tag mit seidenfarbigem Blau und silbern schimmernden Schwimmwolken. [..] Ich hatte nie etwas Ähnliches gesehen… Gegen Abend dieses Tages hatte der Himmel im wahren Sinne des Wortes seine Wunder aufgezogen. Ich ging auf den Berg. Da offenbarte sich mir Worpswede in seiner allergrößten Herrlichkeit. [Es gibt] Farben von Dunkel-Violett, Kupferrot, Gold und Silber, und da wo der Äther aufblitzt, erscheint er grünlich oder in den Gebieten der silbernen Zirruswolken seidig blau. Unter einer solchen Herrlichkeit lagen die dunklen Äcker mit den Hafergarben, den weinroten Stoppeln des Buchweizens, den schwarzen Schollen der umgepflügten Erde und die formenreiche Weite mit den blitzenden Wasserläufen, auf denen schwarze Segel ihre Bahn zogen, auf dem Weiden schwarzweiße Kühe […]“ (Erinnerungen Fritz Mackensen). Man sieht das nach dieser Beschreibung entstandene Gemälde sofort vor sich. Macksensen verbrachte auch die folgenden Sommer für Studien und zum Malen in Worpswede und nahm in seiner Begeisterung im Sommer 1889 erstmals seinen Freund und Studienkollegen Otto Modersohn (1865-1943) mit, bereits im August desselben Jahres schloss sich ihnen Hans Am Ende (1864-1918) an und bis 1894 folgten Carl Vinnen (1863-1922), Fritz Overbeck (1869-1909) und Heinrich Vogeler (1872-1942). Die Künstler, die es nach Worpswede zog, fühlten sich von den Kunstakademien unabhängig und standen – obwohl viele von ihnen ihr Handwerk dort gelernt und studiert hatten – der akademischen Kunstausbildung und ihrer Ateliermalerei kritisch gegenüber. Durch den Rückzug in die Natur wollten sie wie viele Künstlergemeinschaften des 19. Jahrhunderts ein neues Naturverständnis in ihrer Malerei entwickeln, die Motive sind somit vor allem die Worpsweder Landschaft und die als ursprünglich empfundene Bauernschaft. Es entstand so eine kleine Kolonie, die vielfältig aufgestellt war und bereits im Winter 1894/95 eine erste Ausstellung in der Bremer Kunsthalle bestückte. Wenngleich das Publikum eher verhalten reagierte, wurden die Künstler zu einer Folgeausstellung in den Münchener Glaspalast eingeladen, womit ein erster Durchbruch erzielt war. In den folgenden Jahren zogen zahlreiche weitere Künstler*innen nach Worpswede und wurden teilweise hier auch sesshaft. Zu den bekanntesten gehören die Malerin Paula Becker (1876-1907, später Paula Modersohn-Becker), die Bildhauerin Clara Westhoff (1878-1954, später Clara Rilke), der Künstler und Architekt Bernhard Hoetger (1874-1949) und der Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926). Sie alle haben ihre Spuren hinterlassen in Worpswede und dessem baulichen Erbe.

Das bekannteste Worpsweder Bauwerk ist der 1894 von Heinrich Vogeler erworbene so genannte „Barkenhoff“, ein Wohn-Wirtschaftsgebäude in Fachwerk des 18. Jahrhunderts, das er ab 1895 nach eigenen Plänen zu seinem Wohnhaus und zum Mittelpunkt der Künstlerkolonie umbauen ließ – heute findet sich hier das Heinrich-Vogler-Museum. Das große Grundstück am östlichen Hang des Weyerberges wurde zwischen 1895 und 1908 durch Vogeler und seine Frau Martha in einen Garten und Park umgewandelt, der bis heute prägender Teil des Gesamtkunstwerks Barkenhoff ist: Von der Terrasse östlich vor dem unter Mansarddach liegenden markanten weiß verputzten und geschwungenem Giebel führt eine großzügige Freitreppe in einen Schmuckgarten, dessen von Blumenrondells begleitete Hauptachse an einem von Hecken umschlossenen Hügel mit einer erhöhten Laube endet. Nördlich schließt sich ein in die Hanglage eingebetteter, landschaftlich gestalteter Park mit zwei Teichen an. Das Kapital, das zum Erwerb und zum Ausbau des Barkenhoffs nötig war, brachte Vogeler als Sohn einer vermögenden Bremer Kaufmannsfamilie mit. Dies war vielen anderen Künstlern in Worpswede nicht gegeben, Paula Modersohn-Becker beispielsweise hatte ihr Atelier ab 1901 im so genannten „Brünjeshof“ an der Ostendorfer Straße, viele andere Künstler hatten sich ebenso bei den Worpsweder Bauern eingemietet.

Heinrich Vogeler war in Worpswede als Maler und als Architekt tätig, so stammen die Wohnhäuser in der Bergstraße 18, 1905 für den Kaufmann Theodor Garmann entworfen, in der Bahnhofstraße 13 von 1909 und das 1910 für den Maler Wilhelm Bartsch in der Bergstraße 9 errichtete Wohn- und Atelierhaus von Vogeler. Er gestaltete die Gebäude im Sinne einer „heimatlichen Bauweise“, indem er versuchte, die Grundidee des Niedersächsischen Hallenhauses, in dem Mensch und Vieh unter einem Dach lebten, in seine Entwürfe einzuarbeiten. 1907 erhielt er zudem den Auftrag, das Empfangsgebäude des Bahnhofs in Worpswede zu planen. Vogeler entwarf hierbei auch die Innenräume, die mit qualitätsvollen Jugendstilelementen ausgestattet wurden.

Die beiden niedersächsischen Bauernhäuser, die das Ensemble „Haus im Schluh“ bilden, stammten ursprünglich aus Nachbarorten. Das Webhaus (Nr. 35) wurde 1919 von Martha Vogeler erworben, nach Worpswede versetzt und für sich und ihre drei Töchter ausgebaut. Sie wohnte hier nach der Trennung von Heinrich ab 1920 und betrieb eine Weberei. 1938 wurde ein zweites Haus (Nr. 37) transloziert und die Werkstatt anschließend hier hinein verlegt. Beide Häuser dienen heute ebenfalls zur Ausstellung von Gemälden und Graphiken Heinrich Vogelers sowie zur Ausstellung seiner Entwürfe für die Meißner Porzellanmanufaktur. Außerdem beherbergt das Haus im Schluh eine Sammlung an Jugendstilmöbeln.

In baukünstlerischer Hinsicht ist der Bildhauer, Maler, Kunsthandwerker und Architekt Bernhard Hoetger für Worpswede besonders bedeutsam. Er lernte Paula Modersohn-Becker 1906 in Paris kennen und siedelte 1914 nach Worpswede über. Zuvor hatte er schon den Grabstein für Paula Modersohn-Becker, die 1907 nach der Geburt ihrer ersten Tochter gestorben war, entworfen. Dieser befindet sich auf dem Friedhof der Zionskirche.

1914 kaufte Hoetger den so genannten „Brunnenhof“, der südlich des Brünjeshofs an der Ostendorfer Straße liegt. Die Anlage des zugehörigen Gartens initiierte Hoetger ab 1915 auf ursprünglicher langgestreckter Kolonistenparzelle zunächst südöstlich im Anschluss an das bäuerliche Wohn-/Wirtschaftsgebäude, bis er im Jahr darauf mit dem Bau eines breitgelagerten villenartigen Wohn- und Atelierhauses als Bezugsobjekt des Gartens begann, auf das dieser anschließend in seiner gesamten Gestaltungsidee ausgerichtet wurde. Im Sinne der Tendenzen einer neuen Gartenkunst entstanden nach Plänen Hoetgers aufeinanderfolgende, räumlich zueinander abgegrenzte Zier- und Nutzgartenquartiere, die mit Entfernung vom Wohnhaus in der Intensität von Nutzung und Gestaltung abnehmen, um schließlich am Ende des Grundstücks in die umgebende Moorlandschaft überzugehen. Ein besonderes Charakteristikum der ursprünglichen Gestaltungs- und Nutzungsabsicht war die Aufstellung eigener Skulpturen (heute in Repliken wieder vorhanden), vor allem aus dem Zyklus Licht und Schatten. 1921 verkaufte Hoetger das Anwesen und erbaute sich am südlichen Hang des Weyerberges bis 1922 seinen zweiten Worpsweder Wohnsitz in expressionistischer Formensprache. Beim Haus Hoetger handelt es sich um einen eigenwillig gegliederten und im Detail künstlerisch durchgeformten eingeschossigen Backsteinbau mit unregelmäßigem Grundriss und weit herabreichenden bewegten Dächern. Die Fassaden sind geschmückt durch unregelmäßige Backsteinreliefs sowie Holzteile in geschwungenen Formen, teilweise geschnitzt, die Unterseite des Dachüberstands sogar bemalt.

Hoetger war in Worpswede umfassend tätig:  Bereits 1914/15 hatte er erste Entwürfe für den so genannten „Niedersachsenstein“ vorgestellt, einem monumentalen Denkmal auf dem Weyerberg, das zunächst als Siegerdenkmal für den Ersten Weltkrieg konzipiert war. Während des Krieges ruhten die Planungen hieran und 1921/22 widmete man es schließlich um zu einem Ehrenmal und einer Gedenkstätte für die Gefallenen. Hoetger gestaltete hier einen 18 Meter hohen und damit überdimensionierten, expressionistisch stilisierten Adler aus dunklen Backsteinen. Als Bauten des Expressionismus zählen auch die drei von Hoetger zwischen 1925 und 1927 im Zentrum Worpswedes verwirklichten Ensemblebauten des Cafés Worpswede, des Logierhauses und der „Großen Kunstschau“, ein Auftragswerk der Bremer Kaffee HAG GmbH. Das Gebäude sollte die Funktionen von Veranstaltungs-, Kommunikations- und Ausstellungszentrum vereinen, wofür Hoetger ein Bauwerk wie eine eigene Plastik schuf: Wie schon das Café ist die „Große Kunstschau“ in Hoetgers spezieller Form der expressionistischen Backsteinarchitektur mit vielen phantasievollen und freien Formen und Details errichtet. Auch hier vereinen sich Bauskulptur, Malerei, die Innenausstattung sowie die umgebende Landschaft als Gesamtkunstwerk zu einer organischen Einheit. 1928 folgte westlich der Anlage an der Bergstraße 13 noch das Ausstellungsgebäude für die Weberin Elisabeth Valtheuer (heute: Philine-Vogeler Haus: Touristen-Information).

Eine etwas verborgene Attraktion des Künstlerdorfes ist ein vom Schriftsteller und Gästeführer Edwin Koenemann (1883–1960) im Jahr 1926 gebautes Rundhaus, die so genannte Käseglocke. Den Namen erhielt der Bau aufgrund seiner Form: Die Spitzkuppel erinnert an eine Käseglocke, komplettiert durch einen sich in der Mitte der Kuppel befindenden Schornstein, gleichsam als Handgriff der Glocke. Viele Details verleihen der Käseglocke ihr behagliches Aussehen. Zu nennen sind hier die gaubenförmig aus dem Dach hervortretenden Fenster im Erd- und Dachgeschoss oder die „Klöndör“ als Eingangstür des Hauses. Solche einflügeligen, horizontal zweigeteilten Türen sind ein charakteristisches Element des traditionellen niedersächsischen Hallenhauses, wobei der obere Teil der Tür zur Belüftung geöffnet werden konnte, während der untere, verschlossen bleibende Teil das Herein- und Herauslaufen von Tieren verhinderte.

Überall stößt man in Worpswede auf weitere Spuren, die die erste Künstlerkolonie bis zum Zweiten Weltkrieg hier hinterlassen hat. So wurde im Inneren der Zionskirche die Ausstattung im Jahr 1900 ergänzt durch Cherubimköpfe der Bildhauerein Clara Westhoff und florale Ornamentmalerei von Paula Becker, auf dem zugehörigen Friedhof finden sich neben Paula Modersohn-Beckers Grab weitere letzte Ruhestätten bedeutender Künstler. Und das Phänomen des Künstlerdorfes wird weiter fortgeführt und ist heute zudem eine Touristenattraktion: Ein breites Spektrum von Künstlern von Malern, Zeichnern, Grafikern, Bildhauern und Kunsthandwerkern über Schriftsteller und Fotografen bis hin zu Architekten, Gartenarchitekten und Designern war und ist hier tätig. Sie machen den Ort mitsamt seiner Bauten zu einer zeitnahen, lebendigen und sehenswerten Stätte.

Zum Weiterlesen:

Ulrike Hamm: Studien zur Künstlerkolonie Worpswede 1889-1908. Unter besonderer Berücksichtigung von Fritz Mackensen, München 1978 (Dissertation).

Christine Redau: Künstlerkolonie Worpswede, Kirchdorf/Inn 1991.

Klaus Modick: Konzert ohne Dichter, Köln 2015.

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