Mammutjäger aus dem Leinetal – Sammlung Rainer Amme

Von Utz Böhner, Gianpiero Di Maida, Dirk Leder und Thomas Terberger

Anlässlich der Schenkung einer umfangreichen Sammlung von Kiesgrubenfunden durch Herrn Rainer Amme wird das jahrzehntelange ehrenamtliche Engagement gewürdigt und eine Auswahl an Funden in einer Ausstellung im Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege präsentiert. Die meisten Artefakte stammen aus der Zeit des Neandertalers, es handelt sich um eine der größten Kollektionen an Bifazialgeräten wie Faustkeilen, Faustkeilblättern, Keilmessern und Blattspitzen in Deutschland. Als besondere Funde aus jüngerer Zeit sind Harpunen, Steinkeulen aus dem Mesolithikum sowie Knochenspitzen und Geweihgeräte, darunter sogenannte T-Äxte zu erwähnen.

Das Suchen von Funden auf den Überkornhalden der Kiesgruben kann nur mit Zustimmung der Betreiber der Anlagen erfolgen und auch nur außerhalb der Förderzeiten. Aus einer Tiefe von bis zu 10 Metern werden eiszeitliche Funde teils aus in situ-Fundstellen von Rastplätzen an die Oberfläche befördert. An der Erhaltung bzw. Bestoßung der Kanten und Patinierung der Steinartefakte ist ersichtlich, wie weit die Funde in den Kiesen umgelagert wurden. Die meisten Steinartefakte sind »kantenfrisch« und kaum bestoßen. Es ist erstaunlich, wie gut die Artefakte die Jahrtausende überdauert haben. Aber auch Funde aus jüngeren Epochen geraten mit in den Saugbagger. Sie stammen aus mesolithischen, jungsteinzeitlichen und jüngeren Fundstellen in der Talaue. Teils handelt sich um sogenannte Gewässerfunde, die intentionell in der Leine deponiert wurden.

Gedankt sei den FinderInnen: Rainer Amme, Wolfgang Bauer, Burkhard Dietrich, Achim Duve, Sibylle Kreuser, Thomas Müller und Dirk Behrens von Rautenfeld. Namentlich gedankt sei Herrn Rainer Amme, der mit viel Mühe und Aufwand dafür gesorgt hat, dass ein Großteil der Funde aus den Kiesgruben im Leinetal mit seiner Schenkung an das Land Niedersachsen für kommende Generationen erhalten bleibt und der Wissenschaft zugänglich ist.

 

Kiesgruben – ein wertvolles archäologisches und paläontologisches Archiv

Rund ein Sechstel der in Deutschland abgebauten Sande und Kiese stammen aus Niedersachsen. Insbesondere die eiszeitlichen Kiesablagerungen im Leinetal zwischen Hannover und Nordstemmen werden seit über einem Jahrhundert intensiv ausgebeutet. Der Abbau führte großflächig zu einer Umgestaltung der Talaue in eine Seenlandschaft. Bereits ab den 1920er Jahren ließ der Direktor des Provinzialmuseums zu Hannover, Karl Hermann Jacob-Friesen, den Kiesabbau bei Arnum, Hemmingen, Döhren, Rethen und Koldingen nach altsteinzeitlichen Funden absuchen, doch erst 1931 gelang der erste Fund eines Faustkeils in den Schottern der Leine bei Döhren. Mit der Intensivierung des Kiesabbaus im Leinetal seit den 1980er Jahren ist bis heute ein großer Fundzuwachs aus den Kiesgruben von Sarstedt, Jeinsen, Giften, Barnten, Rössing, Nordstemmen und Langenhagen zu verzeichnen. Einer Reihe von Ehrenamtlichen ist es durch intensive Beobachtung der Überkornhalden über einen langen Zeitraum zu verdanken, dass nicht nur Tausende von Artefakten sondern auch Knochen und Zähne eiszeitlicher Fauna, u.a. von Mammut, Wollnashorn und Riesenhirsch in großen Mengen geborgen werden konnten.

Neandertaler – Artefakte von der Überkornhalde abgesammelt

Faustkeile sind Artefakte, von denen jeder schon mal gehört hat. »Vom Faustkeil bis zum …« lautet der Titel zahlreicher Beiträge zur Technikgeschichte. Ihr Auftreten steht für jagende Gruppen von Frühmenschen, die komplexe Werkzeuge schufen und mit der Nutzung des Feuers anfingen, ihre Umwelt zu gestalten. Der Faustkeil und das Feuer haben ihre Faszination bis heute nicht verloren. Neandertaler, unsere nächsten Verwandten unter den ausgestorbenen menschlichen Spezies, haben uns gar nicht so häufig Faustkeile, d.h. beidseitig bearbeitete Feuersteingeräte hinterlassen, zumeist wurden stattdessen einseitig retuschierte Geräte wie Schaber oder Abschläge als Werkzeuge verwendet. Die Neandertaler entwickelten sich wahrscheinlich vor 600.000 bis 400.000 Jahren. Genetische Studien haben gezeigt, dass Neandertaler und frühe moderne Menschen, die nach Europa einwanderten, sich vor 50.000 bis 40.000 Jahren episodisch vermischt haben. Daher tragen heutige Europäer noch 3-5% an genetischem Material der Neandertaler in sich. Zu den von Neandertalern vererbten Genen gehören z.B. solche, die für eine höhere Prädisposition von Atemwegserkrankungen verantwortlich sind, oder auch zu einer größeren Widerstandskraft gegenüber Erkrankungen wie COVID führen.

Während ihrer langen Existenz, dem sogenannten Mittelpaläolithikum, mussten die Neandertaler wiederholt dramatische Klimawechsel überstehen, von denen einige durch extreme Kälte geprägt waren. Um ihre alltäglichen Aktivitäten zu bewältigen, nutzen sie vor allem Feuersteingeräte. Faustkeile waren sicher ein wichtiger Baustein in der Werkzeugkiste, da sie leicht nachgeschärft werden konnten.

In keinem anderen Bundesland wurden so viele Faustkeile entdeckt wie in Niedersachsen, insbesondere an der Leine nördlich und südlich von Hannover. Die Faustkeile aus den Kiesgruben datieren in die Kaltzeit, d.h. sie besitzen ein Alter von ca. 70.000 bis 40.000 Jahren. Sie bezeugen eine regelhafte Nutzung der Leinetalauen durch den Neandertaler. Vermutlich wurden aufgrund der guten Rohmaterialvorkommen hier sogar Faustkeile hergestellt, wie Halbfertigprodukte belegen. Teils wurden Faustkeile verworfen und erhielten keine abschließende Kantenretusche.

 

Mode 3 – Neandertaler konnten mehr als Faustkeile

Im Laufe des Mittelpaläolithikums setzte sich allmählich ein neues Produktionsschema durch, das von Fachleuten als sogenannter Mode 3 bezeichnet wird. Diese Veränderung stellt eine Revolution in der Steinzeittechnologie dar: Während ein Faustkeil aus einer ganzen Rohmaterialknolle gearbeitet wird und das abgeschlagene Material üblicherweise Abfall darstellt, wird im Mode 3 die Knolle als Matrix oder – wie Archäologen sagen – als Kern behandelt. Von diesem Kern werden dann planvoll und gut vorbereitet Grundformen abgetrennt, die als Abschläge oder – bei länglicher Ausprägung – als Klingen bezeichnet werden. Dieser Vorgang kann bis zum vollständigen Abbau des Kernvolumens wiederholt werden und nur der letzte Restkern wird als Abfall entsorgt. Heute gehen wir davon aus, dass der Mode 3 im Laufe der Altsteinzeit wiederholt und unabhängig voneinander entwickelt wurde.

Das bekannteste und am besten erforschte Mode 3-Konzept ist die Levallois-Technik, die ihren Namen einer Fundstelle in einem Vorort von Paris verdankt. Die Levallois-Methode kennt verschiedene Herstellungsarten, sie kann die Gewinnung eines einzigen Abschlags bzw. einer Levallois-Spitze zum Ziel haben oder die Gewinnung ganzer Abschlagsequenzen. Die Produkte zeigen eine Reihe typischer Merkmale, wie eine sorgfältige Präparation der Schlagfläche vor der Abtrennung und eine flache Ausprägung des Abschlags mit einer konvexen Oberfläche.

Die Levallois-Technik steht für einen entscheidenden technologischen Fortschritt und die Fähigkeit von Individuen der Gattung Homo, darunter auch der Neandertaler, vor etwa 350.000 Jahren eine flexibel einsetzbare Produktionsmethode entwickelt zu haben. In der Sammlung Amme bezeugen zahlreiche Funde die neue Technik, die an den mittelpaläolithischen Fundstellen aus der letzten Eiszeit im Leinetal regelhaft zum Einsatz kam. Das Leinetal erfüllte eine wichtige Voraussetzung für die häufige Anwendung der Technik: qualitätsvolle Flintknollen waren reichlich verfügbar!

Das Spätglazial – Auf und ab von Klima und Kultur

Am Übergang von der Kaltzeit zur heutigen Warmzeit kommt es zwischen ca. 12.700 und 9.600 v. Chr. – also über mehr als 3.000 Jahre – zu ausgeprägten Klimaschwankungen. Mildere Phasen wechseln mit ausgeprägten Kaltphasen, die von markanten Umweltveränderungen begleitet wurden. Aus offener Landschaft wird lichter Wald und aus Rentierherden wird Standwild wie Elch, Ur- und Rothirsch. Das feuchtere Milieu lässt auch Tierarten wie den Biber wieder heimisch werden. Auch in kultureller Hinsicht sind es wechselvolle Zeiten. In der ausgehenden Kaltzeit leben in der niedersächsischen Mittelgebirgszone Pferdejäger des Magdalénien, die durch ihre Tiergravuren und andere Kleinkunst in Mitteleuropa bekannt sind. Sie zeigen eine enge Bindung an die Landschaft: die nördlichste Magdalénien-Station Gadenstedt, Lkr. Peine, liegt auf dem letzten Hügel vor der Tiefebene. Die nördliche Tiefebene wird vor etwa 14.700 Jahren durch Rentierjäger der sogenannten Hamburger Kultur kolonisiert, deren Bewaffnung mit Kerbspitzen wahrscheinlich ein neues technisches Zeitalter einleitet: erstmals tritt Pfeil und Bogen als neue Distanzwaffe an die Stelle der Speerschleuder. Ein bekannter Fundplatz dieser Zeit liegt bei Deimern im Heidekreis.

Vor 14.000 Jahren beginnt mit den Federmessergruppen eine Zeit der Elchjäger in lichtem Wald. Die bekannteste Fundstelle dieser feucht-milderen Klimaphase liegt bei Grabow-Weitsche im Wendland, wo Stephan Veil seit den 1990er Jahren verschiedene Lagerplätze untersuchen konnte. Besondere Beachtung verdient die Verarbeitung von Bernstein und eine Elchskulptur aus Bernstein ist ein herausragender Fund. Das ca. 13.800 Jahre alte Objekt gehört zur ältesten Kunst im Norden. Neue paläogenetische Untersuchungen zeigen, dass die Menschen der Federmessergruppen in Mitteleuropa auf eine zugewanderte Population zurückgehen.

Die letzte Kaltphase (Jüngere Drayszeit, 10.800-9.650 v. Chr.) ist in Niedersachsen v.a. durch Fundstreuungen von Feuersteinartefakten bezeugt, unter denen die Stielspitzen als Projektile gut identifiziert werden können. Lange bestand die Vorstellung, dass die letzten Rentierjäger mit der nacheiszeitlichen Erwärmung um 9.600 v. Chr. ihrer Beute nach Norden folgten und eine menschenleere Landschaft hinterließen. Spuren früher mittelsteinzeitlicher Wildbeuter konnten in den letzten Jahren jedoch u.a. bei Bierden, Ldkr. Verden, durch Klaus Gerken dokumentiert werden. In der Sammlung Amme ist das Spätglazial durch verschiedene Klingen und Klingenkerne sowie auch Projektile repräsentiert. Das Leinetal war in der Späteiszeit für die mobilen Gruppen eine wichtige Nord-Südachse.

 

Das Mesolithikum – Die letzten Jäger-Sammler-Fischer

Kaum eine vorgeschichtliche Epoche wird so unterschätzt wie die Mittelsteinzeit (Mesolithikum). Das mag an den oft unscheinbaren Funden liegen: zumeist handelt es sich um Feuersteinartefakte, die auf den Äckern gesammelt wurden. Dabei spielen die kleinen Mikrolithen, die als Pfeilbewehrungen dienten, für die zeitliche Einordnung der Funde eine wichtige Rolle. Formal beginnt das Mesolithikum mit der heutigen Warmzeit um ca. 9.600 v. Chr., als sich aus eiszeitlicher Tundrenlandschaft ein zunehmend dichter werdender Wald entwickelte. Im 8. Jahrtausend v. Chr. war die Hasel weit verbreitet und Nüsse als Nahrungsmittel waren beliebt. Röststellen haben sich z.B. an der Fundstelle Duvensee in Schleswig-Holstein erhalten und im nördlichen Niedersachsen weist manche Herdgrube an mesolithischen Fundstellen auf das Rösten des Superfoods hin.

Das Klimaoptimum der heutigen Warmzeit (ca. 7.000-3.800 v. Chr.) mit leicht höheren Durchschnittstemperaturen als heute leitet das Ende der Mittelsteinzeit ein. Im südlichen Niedersachsen wanderten die ersten Bauern der Linienbandkeramik ab 5.400 v. Chr. ein und in der Folgezeit finden sich hier nur noch vage Spuren der letzten Wildbeuter. Demgegenüber lebten die letzten Sammler-Jäger-Fischer in der Tiefebene noch bis ca. 4.000 v. Chr. fort. Am Dümmer See hat sich mit Hüde I ein wichtiger Fundplatz der letzten Jäger-Sammler- Fischer erhalten. Zahlreiche Funde aus Feuerstein, Geweih und Knochen zeugen vom Leben am See, und auch Keramik ist am Fundplatz nachgewiesen. Die Scherben lassen Parallelen zur Tonware der letzten Jäger-Sammler in den Niederlanden erkennen (Swifterbant Kultur), aber auch Gefäße aus bereits neolithisch geprägten Gebieten kommen vor. Vielleicht haben frühbäuerliche Scouts das nördlich liegende Gebiet erkundet und so den Boden für die weitere Ausbreitung der bäuerlichen Wirtschaftsweise bereitet. Die letzten Jäger-Sammler unterschieden sich mit dunklerer Haut, dunklen Haaren und bevorzugt blauen Augen auch äußerlich von den hellhäutigeren Bauern. Die letzten Wildbeuter haben die Paläogenetiker in der westfälischen Blätterhöhle und in Gräbern der Toteninsel im Schweriner See bis in die Zeit um 3.200 v. Chr. nachgewiesen.

Unter den Funden aus Kiesgruben sind die kleinteiligen Feuersteinartefakte der Mittelsteinzeit kaum zu erwarten. Doch mesolithische Kern- und Scheibenbeile oder Geröllkeulen finden sich selten auf den Überkornhalden. Die kleinen Beile weisen ebenso wie T-förmige Äxte aus Rothirschgeweih wahrscheinlich auf die Holzgewinnung und -verarbeitung hin. Demgegenüber sind Geröllkeulen als Waffen anzusehen; bereits in der Mittelsteinzeit kam es – wie Skelettreste bezeugen – gelegentlich zu zwischenmenschlicher Gewalt. Auch Knochenspitzen gehören zu den seltenen Funden auf den Überkornhalden, doch Vorsicht: auch in Neolithikum und Bronzezeit wurde Knochen noch für Geschoßspitzen verwendet.



Zum Weiterlesen:

An Weser und Leine: Ausflüge zwischen Hannover, Hildesheim, Schaumburg und Hameln. Ausflüge zur Archäologie, Geschichte und Kultur in Deutschland Band 59. Darmstadt 2015


Einige Objekte im Denkmalatlas Niedersachsen finden sich z.B. in Lebenstedt sowie in der Einhornhöhle Scharzfeld.

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