Die ostfriesische Insel Baltrum
Die autofreie Nordseeinsel Baltrum liegt in der Mitte der sieben bewohnten Ostfriesischen Inseln im Wattenmeer und ist mit sechseinhalb Quadratkilometern die kleinste Gemeinde Ostfrieslands. Die 475 Inselbewohner leben hauptsächlich vom Tourismus und kümmern sich um die rund 70.000 Gäste, die pro Jahr gezeitenabhängig mit der Fähre nach Baltrum kommen oder bei Ebbe mit kundigen Führern die rund viereinhalb Kilometer vom Festland durchs Watt wandern. Der besiedelte Teil Baltrums liegt im Nordwesten der Insel und besteht aus dem Westdorf und dem Ostdorf.
Die Stürme, die Nordseewellen, die Strömungen und die Gezeiten haben die bis ins 19. Jahrhundert noch unbefestigte Insel im Laufe der Jahrhunderte stark verändert. Und wie auf allen ostfriesischen Inseln wandert der Sand der Strände mit dem Wind von West nach Ost. So lag das Westende von Baltrum um 1650 noch über vier Kilometer weiter westlich und damit dort, wo sich heute der Ostteil der Nachbarinsel Norderney befindet. Diese Veränderungen spiegeln sich auch in der Denkmallandschaft Baltrums wider: Die verheerende Sturmflut von 1825 hatte die Insel in mehrere Teile zerrissen und die meisten Häuser zerstört. Das Westdorf musste aufgegeben und später weiter östlich wieder neu errichtet werden. Sowohl das älteste Haus der Insel als auch die Alte Inselkirche gehen auf das Jahr 1826 zurück. Zuvor mussten schon fünf Kirchenbauten aufgegeben und jeweils durch neue ersetzt werden.
Erstmals urkundlich erwähnt wurde Baltrum im Jahr 1398 und gehörte wie die anderen Ostfriesischen Inseln bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts zum Herrschaftsgebiet der Häuptlingsfamilie tom Brok. Ab 1464 wurde der zum Reichsgrafen ernannte Ulrich I. Cirksena Herr über Baltrum und ließ die Insel vom Amt Berum verwalten. Der dafür bestellte Inselvogt war oft zugleich der Inselpastor. Im Jahr 1650 gab es 14 Haushalte auf Baltrum. Die Inselbewohner lebten hauptsächlich vom Fischfang und zahlten ihre Abgaben in Naturalien. So mussten sie im Jahr 1700 pro Kopf der Bevölkerung 26 getrocknete Schollen abliefern. 200 erhielt der Pastor in Hage, den Rest der Amtmann in Berum. Dazu kamen Kaninchen, die auf der Insel lebten, sowie die Eier von Möwen und Seeschwalben.
In der Mitte des 18. Jahrhunderts gab es ein Inseldorf mit Kirche, das um 1800 wegen Übersandung durch Wanderdünen aufgegeben wurde. Als neues Dorf entstand etwa 800 Meter westlich der heutigen Insel das Westdorf, das nur bis zur Sturmflut von 1825 existierte. Ende des 18. Jahrhunderts hatten die Bewohner neben dem Fischfang mit der erfolgreichen Zucht von Austern begonnen. Und auch Schill – die im Watt aufgelesenen leeren Schalen von Herzmuscheln – war eine gute Einnahmequelle und ließ sich meistbietend an die Kalkbrennereien auf dem Festland verkaufen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden erste Schutzwerke aus Holzpalisaden, Buhnen und einem Deich rund um das bebaute Gebiet errichtet. Das historische Pfahlschutzwerk an der Nordwestseite der Insel geht auf diese Zeit zurück und sollte als Wellenbrecher das Dorf vor Überflutungen schützen. Es ist in den 1920er Jahren weitgehend durch eine Betonkonstruktion ersetzt worden, nur der Abschnitt zwischen Westkopf und Hafen blieb bis heute erhalten.
1876 wurde Baltrum zum Seebad ernannt, und die langsame touristische Erschließung der Insel begann. Die Gäste genossen das Inselleben jedoch anders als heute. Sie fuhren mit dem Schiff auf See oder gingen auf Möwen- und Seehund-Jagd, abends gab es ostfriesischen Tee aus gekochtem Regenwasser. Strom gab es erst ab 1925 und fließendes Wasser sogar erst 1935 auf Baltrum. Ab dem Jahr 1927 stieg mit dem neuen Fährschiff „Baltrum I“ die Gästezahl bis auf etwa 5.000 Gäste an. Im gleichen Jahr hatte der seit 1902 in Baltrum als Lehrer tätige Wilhelm Vogel die Leitung der Badeverwaltung übernommen und schuf für Baltrum den Werbeslogan „Dornröschen der Nordsee“, der bis heute verwendet wird.
Die Denkmallandschaft von Baltrum umfasst lediglich zwölf Bauten, deren älteste nach der Sturmflut von 1825 im neu erbauten Westdorf und im zweiten Baltrumer Ortsteil, dem Ostdorf, errichtet wurden. Die meisten sind typische Insulanerhäuser – eingeschossige Wohn-/Wirtschaftsgebäude aus teils weiß geschlämmtem Backsteinmauerwerk mit niedrigen Satteldächern, durchgehender Firstlinie und zumeist abgewalmtem Wirtschaftsgiebel. Einige entsprechen in kleinerem Format den Gulfhäusern vom Festland, haben einen schmalen Wohn- und einen breiteren Wirtschaftstrakt. Übrigens gibt es auf Baltrum keine Straßenbezeichnungen – die Häuser wurden und werden bis heute der Einfachheit halber durchnummeriert. Die Hausnummer gilt jedoch grundstücksweise, so dass ein Gebäude mit einer niedrigen Nummer nicht zwangsweise besonders alt sein muss. Eine Besonderheit unter den Wohnhäusern stellt das Alte Zollhaus dar. Es wurde 1855 als sogenannter Bummert erbaut – als ostfriesisches Doppelhaus, das ursprünglich von zwei Zöllnerfamilien bewohnt wurde und später unter anderem als Lehrerwohnhaus und Gemeindebüro diente. Es ist das einzige dieses Bautyps auf einer ostfriesischen Insel, wurde 1998 vom Heimatverein Baltrum erworben und beherbergt seit 2007 das Inselmuseum.
Neben den erhaltenen denkmalwerten Wohnhäusern gibt es auf Baltrum auch zwei Sakralbauten, die unter Denkmalschutz stehen: Als erster sei die schon oben erwähnte Alte Inselkirche aus dem Jahr 1826 genannt, die unmittelbar nach der Sturmflut im wieder entstehenden Westdorf erbaut wurde und etwa 50 Personen Platz bietet. Das älteste Ausstattungsstück aus einem ihrer mindestens fünf Vorgängerbauten ist ein Kelch, den Katharina von Schweden in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gestiftet hat. Der hölzerne Glockenstuhl ist neben der Kirche aufgestellt, gilt als Wahrzeichen der Insel und findet sich auch in deren Wappen wieder. Die Glocke stammt von einem holländischen Segelschiff, das vor Baltrum gestrandet war.
Durch Baltrums touristische Erschließung wurde die Alte Inselkirche Ende der 1920er Jahre zu klein, so dass 1929/30 eine neue und deutlich größere evangelisch-lutherische Inselkirche geplant und erbaut wurde. In der Alten Inselkirche hingegen fanden die katholischen Gottesdienste statt – so lange, bis 1956/57 die katholische Gemeinde einen eigenen Sakralbau bekam: die St. Nikolaus-Kirche. Sie ist ein reetgedeckter Backsteinbau, der aus Sommer- und Winterkirche besteht und vom Osnabrücker Architekten Heinrich Feldwisch-Drentrup entworfen wurde. Der kleine Rundbau der Winterkirche kann zum nach oben offenen und mit Grasboden versehenen Atrium der Sommerkirche vollständig geöffnet werden, so dass ein variabler Sakralraum entsteht, der auch für die Sommergäste genügend Platz bietet. Schließlich gibt es in Strandnähe noch einen denkmalwerten Pavillon, der um 1915 errichtet und wohl von der Insel Norderney an seinen heutigen Standort im Westdorf von Baltrum transloziert worden ist.
Viel hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert auf Baltrum – und nicht nur die Natur hat daran mitgewirkt, auch die Menschen haben das heutige Gesicht der Insel geprägt. Große Hotelbauten sucht man hier vergebens, die meisten Unterkünfte gibt es in Ferienwohnungen und -häusern oder Pensionen, wobei die Gebäudestruktur des Ostdorfes ursprünglicher wirkt als im Westdorf. Das Ostdorf mit seinem Gartenland und einem Teil der Dünenlandschaft ist als historische Kulturlandschaft ausgewiesen. Und die „autofreie Kinderinsel“ oder das „Dornröschen der Nordsee“ bietet für interessierte Besucher nicht nur Ruhe und gute Seeluft, sondern auch einige interessante Bauwerke, die die Entwicklung des Seebades, der Inselbewohner und der Insel selbst widerspiegeln.