Architekten der 1880er-Jahrgänge – eine Generation im Durchbruch zur Moderne
Eine architekturgeschichtlich überaus prägnant in Erscheinung tretende Architektengeneration zeichnet sich in den 1880er Jahren ab. Die Angehörigen dieser Jahrgänge stehen in einem Generationszusammenhang, wie es der Soziologe Karl Mannheim im Hinblick auf gemeinsame und somit verbindende Erlebnisse formuliert hat. Innerhalb dieses Generationszusammenhangs fallen zahlreiche Architekten auf, die eine konkrete Generationseinheit bilden, da sie in gleichartiger Weise die Problemstellungen verarbeitet, die aus gemeinsamen Erlebnissen resultieren.
Kennzeichnend für diese Jahrgänge ist eine Geburt in der ersten Hochphase des Deutschen Kaiserreichs, nach Überwindung der als „Gründerkrach“ bekannt gewordenen Wirtschaftskrise der 1870er Jahre, sowie eine Kindheit in der Wilhelminischen Epoche. Das anbrechende 20. Jahrhundert nehmen die Angehörigen dieser Generation zu einem Zeitpunkt wahr, als sie allmählich ins Erwachsenenalter übertreten. Ihre Ausbildung erfolgt noch in der Spätphase des Deutschen Kaiserreichs, bis der Erste Weltkrieg, an dem diese Jahrgänge zumeist aktiv teilnehmen, zu einem einschneidenden Erlebnis wird. Nach Überwindung dieser Epochengrenze erleben sie die Weimarer Republik im Alter von rund 40 bis 50 Jahren, mithin in einer Lebensphase, in der vielfach eine prägende Wirkung entfaltet wird. Auch wenn im Dritten Reich bereits nachfolgende Jahrgänge zunehmend ins Rampenlicht treten, spielt diese Generation weiterhin eine bedeutende Rolle. Rund um den Zweiten Weltkrieg erreicht sie dann ein Alter, das in der Regel mit dem Eintritt in den Ruhestand verbunden ist, sodass nur wenige Angehörige dieser Generation in der Nachkriegszeit noch prägend in Erscheinung treten.
Die Zeitspanne, in der diese Generation ihre größte Wirkung entfaltet, sind die beiden Jahrzehnte zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Vor allem in der Weimarer Republik setzt sie deutliche Akzente, insbesondere im kulturellen Bereich. Ihr gehören Künstler wie Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976), Hans Arp (1886-1966) oder Kurt Schwitters (1887-1948) an, die eine wichtige Rolle beim Umbruch von der gegenständlichen zur abstrakten Kunst spielen, ebenso Komponisten wie Anton von Webern (1883-1945) oder Alban Berg (1885-1935), die als Vertreter der Zwölftonmusik für eine revolutionäre Erneuerung der klassischen Musik stehen. Auch Schriftsteller wie Joachim Ringelnatz (1883-1934) oder Kurt Tucholsky (1890-1935) sowie Philosophen wie Ernst Bloch (1885-1977) oder Martin Heidegger (1889-1976) sind ihr zuzuordnen. Im neuartigen Medium des Films zählen Regisseure wie Georg Wilhelm Pabst (1885-1967), Friedrich Wilhelm Murnau (1888-1931) oder Fritz Lang (1890-1976) zu den Pionieren des bewegten Bildes. Im internationalen Kontext entstammen so namhafte Persönlichkeiten wie der Maler Pablo Picasso (1881-1973), der Komponist Igor Strawinsky (1882-1971), der Schriftsteller James Joyce (1882-1941) oder der Architekt Le Corbusier (1887-1965) derselben Generationslagerung. Neben Wissenschaftlern wie Albert Einstein (1879-1955) oder Alfred Wegener (1880-1930) gehören dieser Generation nur vergleichsweise wenige führende Politiker an, wobei sich mit Adolf Hitler (1889-1945) und Theodor Heuss (1884-1963), dem ersten Präsidenten der Bundesrepublik und ehemaligem Geschäftsführer des Deutschen Werkbunds, in diesem Bereich ein sehr heterogenes Spektrum abzeichnet.
Die Architektengeneration der 1880er-Jahrgänge
Innerhalb des Generationszusammenhangs der 1880er Jahre bilden die Architekten eine architekturgeschichtlich markante Generationseinheit, die sich insbesondere in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg vom Korsett des kaiserzeitlichen Historismus frei macht und federführend am Durchbruch der Moderne mitwirkt. Zu ihr gehören deutschlandweit agierende Architekten wie Bruno Taut (1880-1938), Mies van der Rohe (1886-1969) oder Erich Mendelsohn (1887-1953), ebenso wie vorrangig im regionalen Kontext ihre prägende Wirkung entfaltende Architekten wie der im Ruhrgebiet tätige Alfred Fischer (1881-1950), der Leiter der bayerischen Postbauverwaltung Robert Vorhoelzer (1884-1954) oder der Kölner Architekt Wilhelm Riphahn (1889-1963). Auch auf lokaler Ebene fällt auf, dass die führenden Vertreter des Neuen Bauens in der Regel dieser Generation angehören, wie Josef Zizler (1881-1955) in Mannheim, Hans Richter (1882-1971) in Dresden oder Heinrich Laurenz Dietz (1888-1942) in Potsdam.
Eine wesentliche Grundlage für das Neue Bauen nach dem Ersten Weltkrieg bilden für die Angehörigen dieser Generation ihre Studienjahre zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg. Angehende Architekten treffen in dieser Zeit auf ein voll entwickeltes System einer akademischen Hochschullehre, wobei als Studienorte insbesondere die TH Stuttgart, die TH München und die TH Karlsruhe mit modern gesinnten Lehrern wie Theodor Fischer, Hermann Billing oder Friedrich Ostendorf hervorstechen. Demgegenüber wird eine Ausbildung an Baugewerkschulen, die unter anderem Otto Haesler (1880-1962), Dominikus Böhm (1880-1955) oder Adolf Rading (1888-1957) besuchen, ebenso wie an Kunstgewerbeschulen, wo etwa Adolf Meyer (1881-1929), Martin Knauthe (1889-1942) oder Carl Krayl (1890-1947) studieren, allmählich zu einer Randerscheinung. Neben die Studienerfahrungen treten für diese Generation zudem Prägungen durch den Aufbruchsgeist, der Architektur und Städtebau in den ersten eineinhalb Jahrzehnten des 20. Jahrhundert beherrscht. Neu gegründete Vereinigungen wie die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft (1902), der Dürerbund (1902), der Bund Heimatschutz (1904) oder der Deutsche Werkbund (1907) stehen exemplarisch für die vielschichtigen Reformimpulse im Bereich des Bauwesens.
Mit eigenen Werken treten Angehörige der Architektengeneration der 1880er Jahre vielfach noch vor dem Ersten Weltkrieg in Erscheinung, wo sie bereits zu entschiedenen Vertretern der Reformarchitektur avancieren. Bauten wie das 1909-14 errichtete Rathaus in Delmenhorst von Heinz Stoffregen (1879-1929), das 1909-10 in Bad Harzburg entstandene Siemens-Erholungsheim von Bruno Taut (1880-1938), das Geschäftshaus Fels in Peine von Anton van Norden (1879-1955), oder auch das Frühwerk von Otto Haesler (1880-1962) wie das 1910-11 gebaute Haus Brammer in Bergen zeigen bereits eine plakative Abkehr vom kaiserzeitlichen Historismus. Weltruhm erlangt das ab 1911 errichtete Fagus-Werk in Alfeld von Walter Gropius (1883-1969), das aufgrund seiner modernen Architektur seit 2011 als UNESCO-Welterbestätte anerkannt ist. Ein Vergleich mit dem zur selben Zeit erbauten späthistoristischen Neuen Rathaus in Hannover, dessen Entwurf von Hermann Eggert (1844-1920) als Angehörigem einer deutlich älteren Generation stammt, illustriert den progressiven Charakter des Frühwerks dieser Generation. Dieser Kontrast ist beispielhaft für die von Wilhelm Pinder formulierte „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“.
Architekten der 1880er-Jahrgänge in Niedersachsen
Nach dem Ersten Weltkrieg ist diese Architektengeneration federführend beim Durchbruch der Moderne. In progressiven Gruppierungen wie der im November 1919 gegründeten Gläsernen Kette, an der u.a. Max Taut (1884-1967), Wassili Luckhardt (1889-1972) und dessen Bruder Hans Luckhardt (1890-1954) beteiligt sind, oder der 1926 ins Leben gerufenen Architektenvereinigung Der Ring, zu dessen Mitgliedern u.a. Otto Bartning (1883-1959), Hugo Häring (1882-1958) und Mies van der Rohe (1886-1969) gehören, werden zahlreiche Vertreter dieser Generation zu Vordenkern für das Neue Bauen – ein Begriff, der 1919 vom Berliner Architekten Erwin Gutkind (1886-1968) mit einem gleichnamigen Buch geprägt wird. In ihren im Zeitraum der Weimarer Republik errichteten Bauten zeigt sich der Impetus, frei von überkommenen Stilzwängen bauen zu können, in besonderer Weise.
Mit seinen Projekten wie der Wohnsiedlung Georgsgarten in Celle oder dem KURZAG-Haus in Braunschweig findet der in Celle ansässige Architekt Otto Haesler (1880-1962) deutschlandweite Beachtung. Doch auch die Bauten weniger prominenter Architekten wie Franz-Erich Kassbaum (1885-1930), der als preußischer Baubeamter Neubauvorhaben wie die Mensa der Tierärztlichen Hochschule in Hannover realisiert, stehen dem kaum nach. Ein Hauptbetätigungsfeld für Architekten in der Weimarer Republik ist der Reformwohnungsbau, in dem unter anderem der Hamburger Architekt Friedrich Ostermeyer (1884-1963) zu den führenden Vertretern gehört. Mit dem August-Bebel-Hof in Braunschweig sowie der Randbebauung am Karl-Olfers-Platz in Cuxhaven führt er auch in Niedersachsen zwei große Neubauvorhaben aus. Der Kölner Architekt Dominikus Böhm (1880-1955) realisiert mit der Stella Maris-Kirche auf Norderney einen seiner modernsten Entwürfe. In Hannover entwickelt sich der Architekt Adolf Falke (1888-1958) zu einem Pionier des Neuen Bauens, und liefert mit dem Baukomplex der Liststadt einen wichtigen Beitrag zum Wohnungsbau der wachsenden Großstadt.
In Oldenburg prägt zwischen 1922 und 1937 Jean Robert Charton (1881-1963) als Stadtbaurat die bauliche Entwicklung der Stadt. Ab 1925 zeichnet Karl Elkart (1880-1959) als Stadtbaurat in Hannover für die dortige Stadtplanung verantwortlich. Sein Konzept einer funktional gegliederten Großstadt ist stark durch seine Lehrer Theodor Fischer in Stuttgart und Fritz Schumacher in Hamburg beeinflusst, und stellt im zeitgenössischen Kontext eine progressive städtebauliche Leistung dar. Dagegen folgen Elkarts Kommunalbauten, ähnlich wie bei Charton, architektonisch eher konservativen Tendenzen, auch wenn er sich bei Bauten wie dem Erweiterungsbau der Stadtbibliothek in Hannover durchaus offen für die kubische Formensprache des Neuen Bauens zeigt. In vergleichbarer Weise vollführen auch die Stadtbauräte Gustav Berringer (1880-1953) in Rostock, Hubert Ritter (1886-1967) in Leipzig oder Ernst May (1886-1970) in Frankfurt den Brückenschlag vom klassischen Kommunalbau zur modernen Stadtplanung. Die Stadtbauräte Adolf Abel (1882-1968) in Köln und Otto Ernst Schweizer (1890-1965) in Nürnberg übernehmen ab 1930 Städtebau-Professuren in München und Karlsruhe, wo sie beide das Gedankengut des modernen Städtebaus auch nachkommenden Architektengenerationen vermitteln. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird der vormalige Magdeburger Stadtbaurat Johannes Göderitz (1888-1978) in selber Rolle an die TH Braunschweig berufen, wo er nicht nur maßgeblich an der Architekturlehre der Braunschweiger Schule mitwirkt, sondern mit dem Buch „Die gegliederte und aufgelockerte Stadt“ 1957 auch ein Standardwerk der Stadtplanung publiziert, das den innovativen Geist der Moderne aus der Weimarer Republik auch in die Nachkriegszeit weiterträgt.
So haben zahlreiche Mitglieder der in den 1880er Jahren geborenen Architektengeneration auf verschiedenen Ebenen – von der Architekturtheorie, über Entwürfe einzelner Gebäude wie städtebaulicher Konzepte, bis hinein in die Architekturlehre – die Baukultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in wesentlichem Maße mitbestimmt. Ihr architekturgeschichtliches Vermächtnis ist eng verbunden mit dem Durchbruch der Moderne, der sich zwar stilistisch facettenreich, aber in dem Streben nach einem eigenständigen Ausdruck zeitgenössischen Bauschaffens mit großer Konsequenz präsentiert.
Zum Weiterlesen:
Stefan Albrecht: Johannes Göderitz (1888-1978), Architekt – Stadtplaner – Wissenschaftler, Saarbrücken 2008
Karl Elkart: Neues Bauen in Hannover, Hannover 1929
Annemarie Jaeggi: Fagus. Industriekultur zwischen Werkbund und Bauhaus, Berlin 1998
Dietrich Klatt / Simone Oelker: ArchitekTouren zu Bauten von Otto Haesler in Celle, Celle 2000
Simone Oelker: Otto Haesler. Eine Architektenkarriere in der Weimarer Republik, Hamburg/München 2002
Thomas Oppermann / Friederike Schmidt-Möbus: Fagus, Benscheidt, Gropius. Wege in die ästhetische und soziale Moderne, Göttingen 2011

