Architekten der 1810er-Jahrgänge – eine Generation zwischen Poesie und Pathos

Von Jan Lubitz

Die 1810er Jahre stellen mit dem Ende der Napoleonischen Kriege und dem Wiener Kongress der Jahre 1814/1815 einen Wendepunkt in der europäischen Geschichte dar. Im selben Zeitraum werden auch zahlreiche Architekten geboren, die in der Entwicklung der Baukunst des 19. Jahrhunderts prägend in Erscheinung treten. Innerhalb des Generationszusammenhangs der 1810er Jahre bildet diese Architektengeneration eine Generationseinheit, wie es der Soziologe Karl Mannheim im Hinblick auf gemeinsame und somit verbindende Erlebnisse formuliert hat.

Die Lebensspanne der Angehörigen dieser Generation umfasst annähernd das gesamte 19. Jahrhundert, ein Zeitraum, der von tiefgreifenden politischen, technischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Umfeld der Industriellen Revolution geprägt ist. Ihre Kindheit und Jugend erleben sie in einer später als das Biedermeier bezeichneten Epoche, die einerseits von politischer Stagnation, andererseits von radikalen technischen Neuerungen wie der Erfindung der Eisenbahn beherrscht wird. Sie mündet in den 1840er Jahren in eine europaweite Serie politischer Revolutionen, mit denen das liberale und zunehmend auch finanziell erstarkende Bürgertum gegen die bis dato bestehenden monarchischen Strukturen aufbegehrt. Die in den 1810er-Jahren Geborenen erleben diese Umbruchphase im Alter von rund 30 bis 40 Jahren, nach dem Abschluss ihrer Ausbildung und in der Anfangsphase ihrer Berufstätigkeit. In der sich anschließend entwickelnden Gründerzeit, die entscheidende wirtschaftliche Grundlagen für einen massiven gesellschaftlichen Wandel sowie ein enormes Wachstum der Städte schafft, rücken Mitglieder dieser Generation zunehmend in Positionen, in der sie eine prägende Wirkung entfalten können. Auch nach den Einigungskriegen, an deren Ende 1871 die Gründung des Deutschen Kaiserreichs als geeinter Nationalstaat steht, bleibt diese Generation einflussreich, wenngleich nun zunehmend jüngere Generationen nachrücken.

In verschiedenen Bereichen treten Angehörige der 1810er-Jahrgänge markant in Erscheinung. Im internationalen Kontext lassen sich unter anderem der Schriftsteller Charles Dickens (1812-1870), der Komponist Giuseppe Verdi (1813-1901) oder die englische Königin Victoria (1819-1901) dieser Generationslagerung zuordnen. Im deutschsprachigen Raum gehören dazu Staatsleute wie Otto von Bismarck (1815-1898), ebenso wie Vordenker einer neuen gesellschaftlichen Ordnung wie Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895). Unternehmer wie Alfred Krupp (1812-1887), Werner von Siemens (1816-1892) oder Carl Zeiß (1816-1888) tragen maßgeblich zur Entwicklung der Gründerzeit ab Mitte des Jahrhunderts bei. In den bildenden Künsten treten Maler wie Adolph von Menzel (1815-1905) oder Theodor Schloepke (1812-1878) in Erscheinung, die vor allem für ihre Historienbilder gerühmt werden, während Komponisten wie Franz Liszt (1811-1886) oder Richard Wagner (1813-1883) als Vertreter der „Neudeutschen Schule“ von klassischen Musikauffassungen zu einer programmatischen Ausrichtung übergehen. Schriftsteller wie Friedrich Hebbel (1813-1863), Theodor Storm (1817-1888) oder Theodor Fontane (1819-1898) gelten mit ihren gleichermaßen lyrisch wie kritisch geprägten Texten als führende Vertreter eines Poetischen Realismus. Charakteristisch für zahlreiche Angehörige dieser Generation ist ein Balanceakt zwischen Poesie und Pathos, den sie in ihren Werken vollbringen.

Die Architektengeneration der 1810er-Jahrgänge

Innerhalb des Generationszusammenhangs der 1810er-Jahre zeichnet sich eine architekturgeschichtlich deutlich in Erscheinung tretende Generationseinheit ab, deren Wirken eng mit der Etablierung des Historismus verbunden ist. Ihr gehören namhafte und einflussreiche Baumeister an wie der Berliner Architekt Friedrich Hitzig (1811-1881), von dem der Entwurf des Eisenbahndirektionsgebäudes in Hannover stammt, Friedrich Bürklein (1813-1872) in München, als dessen Hauptwerk das dortige Gebäude der Regierung von Oberbayern gelten kann, oder der Mecklenburger Hofbaumeister Hermann Willebrand (1816-1899), der unter anderem für das Hauptgebäude der Universität Rostock verantwortlich zeichnet.

Es handelt sich um die erste Generation von Architekten, deren Ausbildung an den ab Mitte der 1820er Jahren in mehreren deutschen Residenzstädten neu gegründeten Hochschulen erfolgen kann, und die somit in den Genuss einer spezifisch auf den Baumeisterberuf ausgerichteten akademischen Lehre kommen. Mit der Berliner Bauakademie war schon 1799 eine Vorläufereinrichtung entstanden. Nach dem Vorbild der Pariser École Polytechnique wird dann 1825 die Polytechnische Schule in Karlsruhe gebildet, der 1826 die Technische Schule Darmstadt, 1827 die Polytechnische Centralschule in München, 1828 die Technische Bildungsanstalt in Dresden, 1829 die Real- und Gewerbeschule in Stuttgart, sowie 1831 die Höhere Gewerbeschule in Hannover folgen. Auch die 1835 erfolgte Einrichtung einer Technischen Abteilung am schon seit 1745 bestehenden Collegium Carolinum in Braunschweig entspricht diesem Schema. So erhalten etwa Gustav Ludolf Martens (1818-1872), der spätere Stadtbaurat von Kiel, oder der Bremer Architekt Heinrich Müller (1819-1890) ihre Ausbildung an der Polytechnischen Schule in München, während Carl Etzel (1812-1865), Georg Morlok (1815-1896) und Joseph Egle (1818-1899) zu den ersten Absolventen der Polytechnischen Schule in Stuttgart gehören.

Im Werk der in den 1810-Jahren geborenen Architekten zeichnet sich eine Abkehr vom Spätklassizismus und das Aufkommen eines von romantischen Motiven geleiteten Historismus ab. Dabei stehen sich zwei Tendenzen gegenüber: einerseits die aufkeimende Neorenaissance, an deren Entwicklung unter anderem Christian Leins (1814-1892) mit der Villa Berg in Stuttgart oder der Dresdener Architekt Hermann Nicolai (1811-1881) mit seinen dortigen Villenbauten maßgeblich beteiligt sind. Andererseits gelangt europaweit das Gothic Revival zum Durchbruch, zu deren Wegbereitern Augustus Welby Northmore Pugin (1812-1852) und George Gilbert Scott (1811-1878) in England sowie Eugène Viollet-le-Duc (1814-1879) in Frankreich zählen. In Deutschland gehören unter anderem der Hannoveraner Architekt Conrad Wilhelm Hase (1818-1902), der Kölner Diözesanbaumeister Vinzenz Statz (1819-1898), von dem Kirchenbauten wie die St. Bernward-Kirche in Harsum oder die St. Peter und Paul-Kirche in Radolfshausen stammen, oder Georg Gottlob Ungewitter (1820-1864), der vor allem als Architekturlehrer und -schriftsteller großen Einfluss erlangt, zu den führenden Vertretern der Neogotik. Dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere Kirchen vorwiegend im „sogenannten germanischen (gothischen) Styl“ entworfen werden, wird im Lutherischen Kirchenbau maßgeblich durch das 1861 publizierte „Eisenacher Regulativ“ vorgegeben, an dem die Architekten Christian Leins (1814-1892) und Hase sowie der Berliner Oberbaurat Friedrich August Stüler (1800-1865) als Berater beteiligt sind.

Architekten der 1810er-Jahrgänge in Niedersachsen

An den noch jungen Polytechnischen Schulen übernehmen in den 1850er Jahren vielfach Architekten der in den 1810er-Jahren geborenen Generation Lehraufträge, und können dort ihre historistische Architekturauffassung an nachfolgende Generationen weitergeben. In München wird Gottfried von Neureuther (1811-1887), der zwischen 1857 und 1882 das Fach Zivilbaukunde lehrt, zur prägenden Figur, während in Stuttgart Leins von 1858 bis 1890 als Professor für Bauentwürfe den Mittelpunkt der dortigen Architekturlehre bildet. Am Braunschweiger Collegium Carolinum, das 1862 zur Polytechnischen Schule umgebildet wird, vertritt ab 1854 der herzogliche Baubeamte Heinrich Ahlburg (1816-1874) die Lehre im Fach Bauwissenschaften. Sein bekanntestes Werk ist das gemeinsam mit Carl Wolf (1820-1876) ausgeführte Hoftheater in Braunschweig. Neben Ahlburg übernimmt 1859 Carl Tappe (1816-1885) am Collegium Carolinum eine zweite Professur für das Fach Schöne Baukunst, die er bis 1879 innehat. In seiner Funktion als Braunschweiger Stadtbaurat ist Tappe zudem für Kommunalbauten wie die Gebäude des Wasserwerks sowie Schulen wie die Bürgerschule hinter der Magnikirche verantwortlich.

An der Polytechnischen Schule in Hannover, die 1847 aus der bereits 1831 gegründeten Höheren Gewerbeschule gebildet worden war, wird 1849 Conrad Wilhelm Hase (1818-1902) als Lehrer für das Fach Mittelalterliche Baukunst berufen. Mit seiner bis 1894 andauernden Lehrtätigkeit, die eine den gesamten norddeutschen Raum prägende Wirkung erzielt und ihn zur zentralen Figur der Hannoverschen Schule werden lässt, entwickelt sich Hase zu einem der prominentesten Vertreter der Neogotik. Neben dem malerischen Motiv der formalen Orientierung an der Formensprache der Gotik, stehen für Hase vor allem die Aspekte der Konstruktionsgerechtigkeit und Materialehrlichkeit im Vordergrund. Viele Bauten Hases, wie das Museum für Kunst und Wissenschaft in Hannover, der Südflügel des Alten Rathauses in Hannover, oder eine große Anzahl an Kirchenbauten wie die St. Nicolai-Kirche in Hagenburg, zeugen mit der Präferenz für sichtbare Backsteinoberflächen von seinen gleichermaßen formalästhetischen wie ethischen architektonischen Prinzipien. Als Lehrer wird Hase ab 1851 von Ludwig Debo (1818-1905) unterstützt, der bis 1892 das Fach Baukonstruktionslehre vertritt. Damit vollzieht die Polytechnische Schule Hannover eine Entwicklung zur Aufgliederung der Architekturlehre in einzelne Disziplinen, wie sie gegen Mitte des Jahrhunderts auch an den anderen Hochschulen stattfindet. Als Architekt errichtet Debo zahlreiche Industriebauten, engagiert sich aber auch im Arbeiterwohnungsbau und kann unter anderem die Arbeiterkolonie Linden-Süd in Hannover realisieren.

Neben Hase und Debo, die beide in den 1830er Jahren in Hannover Architektur studieren, prägen etliche weitere Absolventen der Hannoverschen Gewerbeschule die baukünstlerischen Entwicklungen. Adolf Funk (1819-1889) arbeitet als Bauinspektor der Eisenbahn-Direktion Hannover vorrangig im Eisenbahnbau und projektiert Bahnhofsbauten wie das Empfangsgebäude in Scheeßel. Darüber hinaus entwirft er aber auch Sozialbauten wie die Königliche Landesirrenanstalt in Göttingen. Ein weiterer Hannoveraner Absolvent ist Christian Heinrich Tramm (1819-1861), von dem unter anderem die Villa Simon in Hannover stammt. Sein prominentester Entwurf, das Welfenschloss in Hannover bleibt nicht aufgrund von Tramms Tod 1861, sondern infolge der Annexion des Königreichs Hannover durch die Preußen 1866 unvollendet. Erst ab 1875 wird der halbfertige Bau nach Plänen von Hermann Hunaeus (1812-1893) zum neuen Hauptgebäude der Polytechnischen Schule um- und ausgebaut. Als Absolvent der Münchener Akademie und Schüler Friedrich von Gärtners vertritt Hunaeus dabei einen Rundbogenstil süddeutscher Prägung, den auch andere seiner Entwürfe wie das Militärhospital in Stade zeigen.

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts weisen zahlreiche Bauentwürfe eine von malerischen Motiven gekennzeichnete Vielschichtigkeit auf, die vom spätklassizistisch beeinflussten Rundbogenstil über das Aufgreifen von Vorbildern aus der Renaissance bis zur Hinwendung zur Gotik reicht. In Osnabrück dominiert Wilhelm Richard (1816-1900) von 1843 bis 1870 als Stadtbaumeister die bauliche Entwicklung der Stadt. Die Kommunalbauten von Richard, einem weiteren Absolventen der Hannoverschen Gewerbeschule, zeichnen sich durch einen romantischen Historismus ohne eindeutige baugeschichtliche Vorbilder aus, wie ihn etwa das Stadtkrankenhaus oder die Städtische Realschule zeigen. Ab 1874 übernimmt er die Leitung des Fürstlichen Baudepartements in Bückeburg, und führt dort unter anderem die St. Agnes-Kirche in Steinbergen aus, die eine Mischung von romanischen und gotischen Motiven ausweist. Auch die Kirche Mariä Geburt in Winzenburg, die nach einem Entwurf des Hannoveraner Oberbaurats Wilhelm Mithoff (1811-1886) entsteht, ist von solch einer poetischen Dualität gekennzeichnet. Mithoff erlangt nach seinem Ausscheiden aus dem preußischen Staatsdienst 1868 als Privatgelehrter auch durch sein zwischen 1871 und 1880 erschienenes Inventar der Kunstdenkmale und Altertümer im Hannoverschen, das als Vorläufer der im 20. Jahrhundert aufgestellten Denkmalverzeichnisse gelten kann, Bekanntheit.

Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels sowie der technischen und politischen Revolutionen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts abspielen, schafft die Generation der in den 1810-Jahren geborenen Architekten mit ihren Bauten, ihren theoretischen Arbeiten und ihrer Lehrtätigkeit wichtige Grundlagen für die Entwicklung der Baukunst. Angesichts der zeitgenössischen Umbrüche vollzieht sie eine Hinwendung auf Vorbilder vergangener Zeiten, die gleichermaßen als Quelle malerischer Motive wie als Wunschbild gesellschaftlicher und politischer Ordnungen wiederentdeckt werden. Poesie und Pathos sind die beiden Eckpfeiler bei der Rückbesinnung auf die Geschichte, die den Ursprung des Romantischen Historismus bildet, dem die Architektengeneration der 1810er-Jahre zum Durchbruch verhilft.

 

Zum Weiterlesen:

Thorsten Albrecht / Jan Willem Huntebrinker / Markus Jager (Hg.): Conrad Wilhelm Hase (1818-1902). Architekt, Hochschullehrer, Konsistorialbaumeister, Denkmalpfleger, Petersberg 2019

Karen David-Sirocko: Georg Gottlob Ungewitter und die malerische Neugotik in Hessen, Hamburg, Hannover und Leipzig, Petersberg 1997

Helio Adâo Greven: Leben und Werke des Hofbaumeisters Christian Heinrich Tramm (1819-1861), in: Hannoversche Geschichtsblätter Bd. 23 (1969), S. 145-268

Günther Kokkelink / Monika Lemke-Kokkelink: Baukunst in Norddeutschland. Architektur und Kunsthandwerk der Hannoverschen Schule 1850 – 1900, Hannover 1998

Claude Mignot: Architektur des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1983

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