Der Platz Am Sande in Lüneburg

Von Jan Lubitz

 

Lüneburg trägt seit 2007, als stolzen Ausdruck einer jahrhundertealten Geschichte, wieder den Titel „Hansestadt“. Ihre wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit erlebte die Stadt in der Hochphase des Hansebundes während des 15. und 16. Jahrhunderts. Dass sich das Stadtbild bis heute seine charakteristische Prägung aus dieser Epoche bewahrt hat, ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass Lüneburg von Bombenangriffen während des Zweiten Weltkriegs weitgehend verschont geblieben ist. Doch auch ein schleichender wirtschaftlicher Niedergang ab dem 17. Jahrhundert hat sicherlich dazu beigetragen, Straßen- und Platzbilder vor Umbrüchen durch tiefgreifende Modernisierungsmaßnahmen zu schützen.

Der wohl prominenteste Ort in Lüneburg, der einen authentischen Eindruck vom Wesen der Stadt während der Hansezeit vermitteln kann, ist der im Süden der Altstadt gelegene Platz Am Sande. In seinem Namen trägt dieser 1229 erstmals urkundlich erwähnte Platz bis heute die Erinnerung daran, dass es sich um eine ehedem unbefestigte Platzfläche gehandelt hat. Auch seine charakteristische Form – ein schmaler, gestreckter Platzraum, der an seinen Längsseiten von den Giebelfronten spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bürgerhäuser gerahmt wird – spiegelt seine Ursprünge wider. Es handelt sich um eine aufgeweitete Straßenanlage an der Verbindungslinie zwischen den beiden Keimzellen der Stadt, der westlich gelegenen Siedlung Hliuni am Kalkberg, sowie der östlich gelegenen Siedlung Modestorpe im Niederungsbereich der Ilmenau. Durch die hier kreuzenden Fernhandelswege in Richtung Lübeck und Hamburg sowie nach Braunschweig und Magdeburg entwickelte sich der Platz Am Sande seit dem 13. Jahrhundert, als mit der Verleihung des Stadtrechts 1247 ein großer wirtschaftlicher Aufschwung Lüneburgs einsetzte, zu einem wichtigen Warenumschlagsplatz.

Es gibt in Deutschland nur wenige mittelalterliche Platzanlagen wie den Lüneburger Platz Am Sande. Das wohl am besten vergleichbare Beispiel ist der Prinzipalmarkt in Münster, der, am Rande der Domfreiheit gelegen, sogar noch rund ein Jahrhundert älter ist als der Lüneburger Platz. Mit etwa 160 m Länge ist der Prinzipalmarkt nur wenig kürzer als der etwa 225 m lange Platz Am Sande. Beide eint ihre mittelalterliche Bebauungsstruktur, die geprägt wird durch charakteristische Merkmale wie geschlossene Platzrandbebauungen oder ein kleinteiliges Parzellenraster, mit schmalen Fronten zum Platz, aber weit in die Tiefe reichenden Grundstücksflächen hinter dem Vorderhaus, die im Laufe der Jahrhunderte zunehmend baulich verdichtet wurden.

In Lüneburg wie in Münster entwickelten sich an den mittelalterlichen Platzanlagen eindrucksvolle Silhouetten durch die Abfolgen einheitlich strukturierter, aber individuell ausgeformter Giebelhäuser. Diese Giebelständigkeit ist ein typisches Merkmal mittelalterlichen Städtebaus, das aus dem Raster schmal geschnittener Parzellen resultiert, die giebelzeigende Dachgeometrien über den sich in die Grundstückstiefe erstreckenden Baukörpern bedingen. Doch während die Giebelfronten am Prinzipalmarkt in Münster dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen und als interpretierende Rekonstruktionen wiedererstanden sind, gibt der Platz Am Sande noch immer ein authentisches Abbild mittelalterlicher Stadtbaukunst wieder, das nur wenige Überformungen und keine gravierenden Störungen aufweist.

Ursprünge des Platzes Am Sande während der Hansezeit

Der geschlossenen räumlichen und gestalterischen Wirkung zum Trotz, haben zahlreiche Epochen ihre Spuren am Platzbild des Sandes hinterlassen. Und selbst die spätmittelalterliche Kernbebauung, die sich durch markante backsteinerne Staffelgiebel zu erkennen gibt, weist bei näherer Betrachtung unterschiedliche Phasen und Hintergründe auf. Beherrschend wirken vor allem die mächtigen Dielenhäuser aus der Blütephase der Hansezeit, als Lüneburg – neben der Salzgewinnung als primärer Quelle wirtschaftlicher Prosperität – auch im Brauereiwesen einen zentralen Platz im Handelsgefüge des Hansebundes einnahm. Vor allem die südwestliche Platzfront Am Sande weist noch ein geschlossenes Ensemble solcher Häuser auf.

Die ältesten baulichen Relikte auf der Grundlage wachsenden wirtschaftlichen Wohlstands nach dem Eintritt in den Hansebund – markiert durch die erste Teilnahme am Hansetag in Lübeck 1363 – finden sich im Wohnhaus Am Sande 50, das allerdings durch spätere Überformungen der Fassade nicht mehr seinen ehemaligen Staffelgiebel, sondern einen barocken Schweifgiebel zeigt. Das im Kern wohl noch aus der Zeit um kurz nach 1300 stammende Haupthaus weist immerhin hofseitig einen der ältesten erhaltenen Giebel Lüneburgs auf. Obwohl schon über ein Jahrhundert jünger, gehört das Wohnhaus Am Sande 53 ebenfalls noch zu den ältesten Bauten am Platze. Während der markante fünfteilige Staffelgiebel noch auf die Mitte des 15. Jahrhunderts zurückgeht, wurde das spätgotische Spitzbogenportal 1912 bei einem Umbau des Erdgeschosses zu Geschäftsräumen entfernt.

Bei beiden Bauten handelt es sich um im Kern recht schmale, frei stehende Einzelhäuser, deren seitliche Tordurchfahrten jeweils in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts überbaut wurden. Erst dadurch sind ihre charakteristischen Doppelgiebelfronten entstanden, die somit einen Hinweis darauf geben, dass der Platz Am Sande ursprünglich gar keine geschlossene Platzrandbebauung aufgewiesen hat, sondern durch eine aufgelockerte Bebauung mit seitlichen Durchgängen zu den rückwärtigen Grundstücksteilen geprägt gewesen sein muss. Auch die beiden Wohnhäuser Am Sande 20 und Am Sande 21, die noch auf das späte 15. und frühe 16. Jahrhundert zu datieren sind, dokumentieren mit ihren schmalen Straßenfronten den frühen, noch recht bescheidenen Maßstab der Platzrandbebauung.

Erst um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, als auch die beiden genannten Tordurchfahrten überbaut wurden, setzte dann ein Maßstabssprung ein. Als Ausdruck zunehmender Prosperität entstanden Am Sande etliche großformatige Dielenhäuser, darunter mehrere Brauhäuser wie um 1500 das Brauhaus Am Sande 8 von Ludeke Reynstorp, das wohl 1535 errichtete Brauhaus Goldene Rose Am Sande 22 sowie das von 1548 stammende Brauhaus Am Sande 1 von Harmen Kloppenborch, das als westliche Stirnseite der Platzrandbebauung das Erscheinungsbild Am Sande maßgeblich prägt. Ausdruck des gewachsenen Formats dieser Bauten sind ihre nun siebenteiligen Staffelgiebel, denen aufwendige Detaillierungen mit Tausteinpfosten oder mehrteiligen Kleeblattsteinen zu eigen sind. Weitere zeitgenössische Bauten, die alle ein hohes Dielengeschoss auf Straßenhöhe, ein darüber liegendes niedriges Luchtgeschoss sowie Lagerflächen in den Dachräumen – verbunden mit zentralen Windenachsen samt größerer Lagerluken in den Staffelgiebeln – besitzen, sind Am Sande 44 aus dem späten 15. Jahrhundert, Am Sande 51 aus der Zeit um 1500, Am Sande 46 von 1521 sowie Am Sande 6/7 aus der Mitte des 16. Jahrhunderts.

Die meisten der noch seit dem 14. und 15. Jahrhundert bestehenden Baulücken oder Durchfahrten in die Hinterhöfe wurden während des Baubooms im frühen 16. Jahrhundert geschlossen. Nicht nur die älteren Bürgerhäuser Am Sande 50 und 53 waren davon betroffen, auch neben einigen jüngeren Dielenhäusern wurden die noch verbliebenen Lücken in der ursprünglich offenen Platzrandbebauung nach und nach gefüllt. Am Sande 8 und Am Sande 10 entstanden jeweils in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Nebengebäude zu den benachbarten Dielenhäusern, die nur wenige Jahre oder Jahrzehnte älter waren. Nicht vorhandene Windenachsen oder Ladeluken in den Staffelgiebeln weisen auf die einfacheren funktionalen Anforderungen an diese Nebengebäude hin.

Wandel der Platzanlage in den nachfolgenden Jahrhunderten

Mit der Entdeckung Amerikas 1492 wandelten sich die globalen Handelsströme allmählich, was das schleichende Ende des Hansebundes einläutete. So ebbte die zuvor rege Bautätigkeit Am Sande in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erkennbar ab, und nicht zuletzt der Dreißigjährige Krieg schadete im frühen 17. Jahrhundert dem Wirtschaftsgefüge der Hanse und somit auch Lüneburg empfindlich. Darum konnte erst ab dem frühen 18. Jahrhundert Am Sande wieder Neues entstehen.

Das im Kern noch aus dem frühen 16. Jahrhundert stammende Brauhaus Am Sande 11 erhielt wohl um 1720 einen barocken Schweifgiebel, und im Inneren wurde die ehemals hohe Diele zweigeschossig ausgebaut. Ähnliches widerfuhr dem noch aus dem späten 15. Jahrhundert Dielenhaus Am Sande 16, dessen opulenter Volutengiebel in die Zeit um 1760 datiert. Auch das mutmaßlich älteste Gebäude am Platze, das Wohnhaus Am Sande 50, erhielt gegen Ende des 18. Jahrhunderts seine 1878 nochmals überformte Schweifgiebelfassade. Einen gravierenden städtebaulichen Bruch stellte sogar das Stadtpalais Am Sande 18 dar, für dessen Erbauung 1711 zwei ältere Giebelhäuser niedergelegt und deren Parzellen zusammengefasst wurden. Die traufständige Stellung des Hauses und seine über einem erhöhten Sockel liegende Putzfassade ließen es zu einem Fremdkörper im mittelalterlichen Platzgefüge werden. Als repräsentatives Wohnhaus des Lüneburger Senators Martin Joachim Mieß weist es jedoch andere historische Qualitäten auf, die seine Erhaltung begründen.

Auch der Klassizismus hinterließ mit der Überformung des Dielenhauses Am Sande 12, das wohl um die Wende zum 19. Jahrhundert einen neuen, schlichten Dreiecksgiebel sowie eine geschlämmte Fassade erhielt, seine Spuren. Doch erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte wieder eine verstärkte Bautätigkeit ein, die nun unter den Vorzeichen des Historismus stand. Das Dielenhaus Am Sande 9 wurde 1859 vom Architekten August Wellenkamp in ein Hotel umgebaut, der es dabei mit einem neuen Treppengiebel in neogotischer Formensprache versah, der Motive seiner näheren Umgebung reflektiert. In ähnlicher Manier, aber in einer ganz anderen, fantasievollen Formensprache wurde 1878 auch das Dielenhaus Am Sande 54 umgebaut.

Doch auch Neubauten entstanden nun wieder. Während sich die Wohn- und Geschäftshäuser des Schuhmachermeisters Mencke Am Sande 23 von 1881 und des Steinhauermeisters Ernst Meyer Am Sande 19 von 1894 mit ihrer bescheidenen Dimensionierung noch gut in den aus der Hansezeit überlieferten Maßstab schmaler, niedriger Bauten einfügten, setzten zwei nach der Wende zum 20. Jahrhundert entstandene Bauvorhaben neue städtebauliche Akzente. Das Wohn- und Geschäftshaus Am Sande 49 wurde 1901 nach Entwürfen von Franz Krüger für den Tapezierer Adolf Schlachta errichtet. In seiner Traufhöhe überragt dieser Neubau seinen rund 600 Jahre älteren Nachbarn um rund das Doppelte, und auch die Traufständigkeit ist ein an dieser Stelle fremdes Element, das Krüger durch die Ergänzung eines seitlichen Zwerchhauses mit fünfbahnigem Staffelgiebel zu relativieren versuchte. Die neogotische Architektursprache – geprägt durch die „Hannoversche Schule“, an der Krüger studiert hatte – nimmt wiederum gezielte Bezüge zum architekturgeschichtlichen Kontext Am Sande. Auch das Wohn- und Geschäftshaus Am Sande 14/15, das 1907 nach Entwürfen des Architekten Heinrich Meyer für den Essig- und Senffabrikanten Ernst Leppert realisiert wurde, rezipiert mit seiner malerischen Fassadengestaltung formale Motive mittelalterlicher Dielenhäuser.

So spiegelt das Erscheinungsbild des Platzes Am Sande, das auf den ersten Blick rein mittelalterlich geprägt zu sein scheint, das Einwirken zahlreicher Zeitschichten wider. Nicht alle greifen mit gleicher Sensibilität die städtebaulichen Merkmale auf, die aus der Hansezeit bis in die Gegenwart überliefert sind. Während etwa das Wohn- und Geschäftshaus Am Sande 49 von 1901 trotz seiner erkennbaren gestalterischen Bezüge zur Umgebung stadträumlich doch einen Fremdkörper darstellt, passt sich das benachbarte, formal leicht als Kind der jüngeren Zeit erkennbare Wohn- und Geschäftshaus Am Sande 48, das 1973-75 nach Entwürfen des Flensburger Architekten Karl Heinz Sönnichsen für die Schleswig-Holsteinische Westbank errichtet wurde, mit seiner dreiteiligen Giebelfassade feingliedrig in das städtebauliche Gefüge der Platzrandbebauung ein. So interpretieren verschiedene Epochen immer wieder aufs Neue den aus dem Mittelalter überlieferten Bestand – und erweitern somit den Facettenreichtum eines über Jahrhunderte gewachsenen Ensembles.



Zum Weiterlesen:

Doris Böker: Hansestadt Lüneburg (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Baudenkmale in Niedersachsen, Band 22.1), Petersberg 2010

Joachim Matthaei: Lüneburg, Berlin 1950

Christian Burgdorff / Curt Pomp / Pablo de la Riestra / Hans-Herbert Sellen: Lüneburg. Die historische Altstadt. Husum 2013

 

https://www.lueneburg.info/platz-am-sande

https://www.luenepedia.de/wiki/Am_Sande

 

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.