Rittergüter in Niedersachsen
Von Hubertus Gerhardt
Rittergüter sind ein prägendes Element des ländlichen Raums in Niedersachsen. Sie spiegeln über Jahrhunderte hinweg einen Aspekt der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschichte des Landes wider. Ihre Gebäude und Anlagen wandelten und wandeln sich ebenso wie ihre Funktionen, doch sind sie als besondere historische Denkmale von hoher Bedeutung und Aussagekraft. Die meisten Rittergüter sind bis heute in Privatbesitz und vorwiegend landwirtschaflich genutzt. Mit diesem denkmal.thema können Sie eine kleine Auswahl aus den niedersächsischen Rittergütern dennoch erkunden.
Die Ritterschaft im Lehnswesen
Bei einem „Rittergut“ handelt es sich zumeist um einen (ehemaligen) Besitz des Landadels, der im Feudalsystem des Mittelalters und der Neuzeit zum Landstand gehörte. Die Geschichte dieser spezifischen Adelssitze geht teils bis auf das 10. Jahrhundert zurück, und ihre baulichen Anlagen in Form von denkmalgeschützten Bauwerksensembles zählen mitunter zum ältesten Gebäudebestand in der ländlich-regionalen Kulturlandschaft. Sie sind auch als historische rechtlich-soziale und ökonomische Komplexe zu verstehen. Das Aufkommen und die Entwicklung dieser spezifischen Gutsanwesen sind stark durch die Herrschaftssysteme und Territorialveränderungen seit dem Mittelalter bestimmt. So sind die Gebiete um Lüneburg und Braunschweig als Kernbereiche des Stammesherzogtums Sachsen sowie dem späteren Herzogtum Braunschweig-Lüneburg durch die Geschichte der jeweiligen Ritterschaften geprägt, die ab den 13. Jahrhundert als manscop bzw. Reiterei und ab dem 16. Jahrhundert als organisierter Stand von dem jeweiligen Landesfürsten mit ihren Gütern belehnt wurden. Im Unterschied dazu treten in Ostfriesland, wo es ab dem 14. Jahrhundert ein Häuptlingswesen gab, welches keiner zentralen Herrschaft unterstand, sowie Oldenburg, welches aufgrund der langen Landesverwaltung durch das Bistum Münster einer kirchlichen Hoheit unterstand, keine bis wenige neuzeitliche oder moderne Rittergüter auf. Das Fürstentum Göttingen war zersplittert durch welfische Erbteilungen bis zur Zusammenführung mit dem Fürstentum Calenberg im Jahre 1463, dessen Gebiet zuvor zwischen welfischen Eigengütern und den Bischöfen von Münster und Minden umkämpft war, und in Hildesheim sowie Osnabrück war die Ritterschaft einem Fürstbistum unterstellt.
Im Feudalsystem des Alten Reichs gehörten neben Rittern auch Amtsmänner, Äbte und niedere Adelige zu den Vasallen der Landesherren, die ihnen Güter in Form eines Anwesens mit Forst-, Acker- und Weideland zur Bewirtschaftung überließen und sie dafür für Dienste wie die „Rossdienstpflicht“ in Anspruch nehmen konnten. Die Vasallen, also auch die Ritter, stellten den Hintersassen oder Unfreien Acker- und Weideland zur Bewirtschaftung zur Verfügung im Gegenzug für Naturalabgaben und Frondienste. Die Ritter und die gleichgestellten Vasallen bildeten somit die unterste Verwaltungsebene einer Landesherrschaft.
Doch wie kann man den Begriff Rittergut oder Rittersitz rechtlich definieren? Zumeist ist darunter ein adliges Lehnsgut bzw. ein Edelsitz zu verstehen, welches nicht nur den Landsitz mit den zugehörigen Ländereien und Nebengüter als solche umfasste, sondern auch die entsprechenden Rechte, wie das Patronatsrecht, die Gerichtsrechte oder das Zehntrecht. Es konnte jedoch kein beliebiges Gut sein, sondern verpflichtete den damit belehnten zu Kriegs- und Reiterdiensten und ermöglichte die Teilhabe an Privilegien einer de facto juristischen Körperschaft, die durch einen Eintrag in eine Rittermatrikel festgesetzt wurde. Manche der heutigen Rittergüter lassen sich auf die von mittelalterlichen Herzögen – wie Otto I. oder Heinrich den Löwen – erteilte Lehen zurückführen. Ab dem 14. Jahrhundert kam es zu einem Verfall des deutschen Adels und somit des Ritterstandes durch den Kriegseinsatz von Söldnern, sodass der übliche Kriegssold ausfiel und die Grundbesitzer überwiegend auf ihre durch die Landwirtschaft erzielten Abgaben angewiesen waren, die zumeist ärmlich ausfielen, was das wohlbekannte Raubrittertum zur Folge hatte. Bereits früher war der Status eines Rittergutes nicht zwingend an das Adelsprivileg gebunden, sodass Bürgerliche oder Militärs ab dem 16. Jahrhundert mit landesfürstlicher Ausnahmegenehmigung in den Ritterstand erhoben werden konnten, sowie auch nicht alle Adeligen mit Rittertitel auch diesen durch Erbfolge erwarben. In der Hoya-Diepholzschen Landschaft dagegen spielte der Adel keine dominierende Rolle, viele Rittergüter sind aus dem wohlhabenden Bauerntum, den sogenannten „Freien“ hervorgegangen, wie es ihre ersten Matrikeln von 1763 belegen.
Da die rechtliche Privilegierung des Grundbesitzes auf dem Lehnssystem beruhte, veränderten sich die Verhältnisse der Ritterschaft nach der Französischen Revolution und dem anschließenden Einzug der napoleonischen Armee, so dass die Feudalrechte aufgehoben und die öffentlich-rechtliche Bedeutung der Rittergüter verlorenging. Es verblieben lediglich die Wirtschaftsbetriebe und Gebäude mit der Bezeichnung Rittersitz, die größtenteils ihre Funktion zu den teils noch heute bestehenden Wirtschaftsbetrieben überlagerten. Auch die Führung der Matrikellisten veränderte sich durch das Allodifikationsgesetz von 1836, mit dem die Rittersitze zum Eigengut bzw. Privateigentum des Inhabers umgewandelt wurden. Über die bereits bestehenden Rittergüter hinaus konnten nun auch neue Landgüter ohne bisherigen Listeneintrag oder erbrechtlichen Hintergrund aufgenommen werden. Zunächst wurden die Ritterschaften in die Monarchien nach dem Wiener Kongress 1814/15 und in das zweite Deutsche Kaiserreich 1871 integriert, bevor sie 1918 endgültig ihre verfassungstragende Bedeutung verloren. In Niedersachsen sind die matrikelgeführten Ritterschaften bis heute als Körperschaft des öffentlichen Rechts und durch Artikel 72 der Niedersächsischen Verfassung in ihrem Bestand geschützt. Zu den heute noch bestehenden Ritterschaften in Niedersachsen gehören die des vormaligen Fürstentums Lüneburg, die im alten Herzogtum Braunschweig, die Hildesheimer Ritterschaft, die Ritterschaft des ehemaligen Fürstentums Calenberg-Grubenhagen-Göttingen, die Ritterschaft des ehemaligen Fürstentums Osnabrück und die Ritterschaft des ehemaligen Herzogtums Bremen und Verden. Als Teil der Hannoverschen Landschaften gehören neben der Trägerschaft der Landschaftlichen Brandkasse vornehmlich kulturelle Aufgaben – wie die Förderung des Geschichtsbewusstseins oder die Trägerschaft bedeutender Museen – wie auch ein soziales Engagement zu ihren heutigen gesellschaftlichen Verpflichtungen.
Rittergut: Burg – Schloss – Landsitz
Die ältesten Rittergüter gehen nicht nur historisch auf im 10. – 13. Jahrhundert errichtete Burgsitze zurück, sondern sind auch im Kern auf deren baulichen Rudimenten begründet. Bei vielen der heute noch bestehenden Rittergüter stehen die Kerngebäude auf oder in Verbindung mit älteren Grundmauern, die sich in verschiedenen Variationen zeigen: Die Herrenhäuser von Gut Essenrode oder Bennigsen I stehen inmitten einer von Wassergräben umgebenen Fläche, die auf den Umriss der ursprünglichen mittelalterlichen Wasserburg zurückgeht. Im niedersächsischen Raum wurden viele Niederungsburgen gebaut, die zumeist als Wasserburgen von Gräben befestigt waren und somit die mittelalterliche Form der meisten Rittersitze bildeten. Spätere neuzeitliche Herrenhäuser wurden oft an erhaltene mittelalterliche Wehr- und Wohntürme angebaut, die im Mittelalter eine standesgemäße Behausung für Ritter darstellten. Ein Beispiel ist der Turm in Jühnde, welcher mit einem aufgesetzten Fachwerkgeschoss bis heute über das Dorf und die Landschaft an der ehemaligen Heeresstraße ragt. Der Turm blieb auch bei späteren unbefestigten Herrenhäusern als charakteristisches Architekturmotiv beibehalten, beispielsweise als Treppenturm, jedoch in Tradition einer herrschaftlichen Metaphorik ohne militärische Funktion.
In den nachmittelalterlichen Kriegshandlungen, zum Beispiel in der Hildesheimer Stiftsfehde oder im Dreißigjährigen Krieg, wurden die Burganlagen größtenteils und sogar mehrmals in kurzen Zeitabständen zerstört. Im Anschluss folgte eine Prosperitätsphase des Wiederaufbaus im 17. und 18. Jahrhundert, in der die Rittersitze mit Herrenhäusern der Spätrenaissance und des Barock wiederhergestellt wurden. Architektonisch stehen sie in engem Zusammenhang mit den repräsentativen fürstlichen bzw. herzoglichen Schlossbauten dieser Zeit, als „Landschloss“ im Sinne einer Residenz. Die Neubebauung geschah zumeist in Erbfolge, im Zuge einer Neubelehnung oder eines Kaufes. Manchmal folgten die Herrenhäuser aber auch einer schlichteren Gestaltung in Form eines „Landhauses“. Das Rittergut Remeringhausen ist eines der seltenen Beispiele eines Rittergutes mit einem Baubestand der Renaissancezeit sowie einer späteren barocken Umgestaltung.
Da das Weltbild der Neuzeit stark religiös geprägt war, gehörten Patronatskirchen und Kapellen zum Gefüge eines Gutsdorfes. Darin manifestierte sich das Gottesgnadentum des Herrschers, und der Sakralbau diente nicht nur zum gemeinsamen Gebet und Fürbitte, sondern auch als Szenografie der herrschenden Schicht. Der privilegierte Ständerang wurde in Form von Herrschaftspriechen oder Wappensteinen zum Ausdruck gebracht, wie auch in Form von Grabepitaphien und ab dem 17. Jahrhundert in Gestalt von Erbbegräbnissen, die eine Kontinuität und Altehrwürdigkeit eines Adelshauses verankerten. Nicht immer oblag das Kirchenpatronat den Gutsherren, jedoch spiegelten sich auch in den von Dritten verfügten Kirchen die örtlichen Besitz- und Machtverhältnisse wider. Die Kirche hatte somit als geistliches Zentrum einen bedeutenden Stellenwert im Guts- und Dorfgefüge, welches sich in der städtebaulichen Platzierung sowie der erhaltenen Ausstattung niederschlägt, hier an den Beispielen in Altluneberg sowie Ribbesbüttel veranschaulicht.
Die Rittergüter bilden zumeist die städtebaulichen Nuklei von Dörfern, die nahe dem Gutshof entstanden, sodass sich diese entweder in zentraler oder in einer exponierten Lage zur historischen Ortsbebauung befinden. Als sozialökonomisches Geflecht diente das Rittergut nicht nur zur militärischen Verteidigung des Dorfes, sondern vor allem zur Verwaltung wie auch der Bewirtschaftung des zugehörigen umliegenden Forst- und Ackerlandes. Die Menschen im Dorf und im Gut standen rechtlich als Kötter, Grundholde, Hörige, Hintersassen oder Leibeigene in unterschiedlicher Abhängigkeit vom Gutsherrn. Zu Frondiensten und/oder zu Abgaben verpflichtet siedelten sie in der Regel auch in unmittelbarer Umgebung. Die Torgebäude bzw. Toranlagen markieren hierbei eine wehrhafte und repräsentative Schwelle zwischen dem inner- und außerhöfischen Bereich des Gutsareals. Neben den Hofanlagen und Wohn- und Wirtschaftsgebäuden der Dorfgemeinschaft und der außerhalb stehenden Infrastruktur wie z.B. Herrenmühlen gehörten selbstverständlich auch umfangreiche Wohn- und Wirtschaftsgebäude zum innerhöfischen Bereich des Gutsgefüges, zu denen klassischerweise Stall- und Speicherbauten wie auch die Gesindehäuser der Gutsgefolgschaft zählen. Anhand der originär erhaltenen Gutsdörfer Benningsen I und Lüdersburg lassen sich die Siedlungsstrukturen im ausgedehnten Hofverband bis heute sehr gut erkennen.
So wie sich die Epoche vom Ende des 17. Jahrhundert bis in das 18. Jahrhundert als Prosperitätsphase der Gutswirtschaft festhalten lässt, können manche Rittergüter dem Fall der Ständegesellschaft und der Bauernbefreiung durch die Aufhebung der Leibeigenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert nicht standhalten und werden verkauft. Nach den Allodifikationsrezessen erleben allerdings auch viele Gutsanlagen eine Transformation und wandeln sich zu modernen industriell-landwirtschaftlichen Anlagen, die dadurch zu einem neuen Wohlstand kommen. Mit zugehörigen Besitz an Forst- und Ackerland werden manche dieser Gutsanlagen bis heute bewirtschaftet und gehören somit zu den Kernstücken der landwirtschaftlich geprägten Topografie und der Kulturlandschaft Niedersachsens. Ein gutes Beispiel solch einer Umwandlung bildet das Rittergut Eckerde, das Gutsdorf Lüdersburg, welches sich auf extensive Vieh- und Pferdezucht spezialisierte, sowie das in Familienhand befindliche Rittergut Ribbesbüttel, das sich ab dem 19. Jahrhundert bis 1985 auf Viehhaltung, und später auf Kartoffel- und Maisanbau umstellte.Rittergüter sind somit Anlagen mit einer langen historischen Tradition und einer über viele Generationen gewachsenen, stets den aktuellen Anforderungen angepassten Bausubstanz. Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit können sie somit auch als Musterbeispiele für Resilienz und Bauwerks-erhaltung in der heutigen Debatte um Ressourcenschonung in der Baukultur verstanden werden. Angesichts des aktuellen Wandels in der Landwirtschaft gehört es mitunter zu den heutigen Herausforderungen, für viele historische Bauten angemessene Nutzungen und damit eine Zukunft als Kulturdenkmal zu finden. Seit jeher ist ein Rittergut wirtschaftlich ein „Organismus“ und kulturell ein „Kosmos“, und bildet noch heute einen wichtigen Teil der Kulturachse im ländlichen Raum.
Literaturauswahl:
- Maresch, D., Niedersachsens Schlösser, Burgen und Herrensitze, Hannover 2012
- Heike Düselder (Hrsg.), Adel auf dem Lande . Kultur und Herrschaft des Adels zwischen Weser und Ems 16. -18. Jahrhundert, Cloppenburg 2004
- Gustav Stöting-Eimbeckhausen und Börres Freiherr von Münchhausen Moringen (Hrsg.), Die Rittergüter der Fürstentümer Calenberg, Göttingen und Grubenhagen, Hannover 1912
- Victor-Jürgen von der Osten, Die Rittergüter der Calenberg-Grubenhagschen Landschaft, Hannover 1996.
- Die Güter der Ritterschaft im Herzogtum Bremen, Hrsg. von der Ritterschaft der Herzogtümer Bremen und Verden, Stade 2001
- Armgard von Reden-Dohna, Rittersitze des vormaligen Fürstentums Hildesheim, Göttingen 1996
- Neubert Preine, Rittergüter der Hoya-Diepholz´schen Landschaft, Nienburg 2006
- Rudolf vom Bruch, Die Rittersitze des Fürstentums Osnabrück, Osnabrück 2004
- Gestine Schwarz, Die Rittersitze des alten Landes Braunschweig, Hrsg. Ritterschaft des ehemaligen Landes Braunschweig, Göttingen 2008
- Ulrike Hindersmann und Dieter Brosius, Rittergüter der Lüneburger Landschaft, Göttingen 2015
- Matthias Müller, Das Schloss als Bild des Fürsten: Herrschaftliche Metaphorik in der Residenzarchitektur des Alten Reiches, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004