Die Gebäude der Ries-Stiftung in Ritterhude: „Sie können versichert sein, dass Ihre Heimatgemeinde Ihre Wohltaten zu würdigen versteht.“
[Gemeindevorsteher Evers an die Brüder Ries am 16.03.1926]
Von Birte Rogacki-Thiemann
Ritterhude liegt nördlich der Stadt Bremen im Landkreis Osterholz. Im 12. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt, bestand auch die Huder Burg bereits im Mittelalter. Das heutige Herrenhaus des Dammgutes der Ritter von Hude, die auch Namensgeber für den Ort Ritterhude sind, liegt nördlich der Hamme in einem großen Park und die das Haus umgebenden Graften sind die Überreste des alten Wasserburggrabens. Der Kern der Anlage stammt aus dem 16. Jahrhundert, mit Übernahme des Dammgutes durch die Bremer Kaufmannsfamilie Gröning (später von Gröning) 1776 wurde das Gebäude nach und nach zur heutigen dreiflügeligen Anlage ausgebaut. 1850 wurde das Gericht Ritterhude mit dem Amt Osterholz zusammengelegt und 1854 fanden die ersten Wahlen für eine kommunale Gemeindeverwaltung in Ritterhude statt. Zu diesem Zeitpunkt umfasste die Gemeinde etwa 2.000 Einwohner, zu denen auch die Familie Ries gehörte.
Hermann Hinrich Ries wurde am 22.11.1847 in Ritterhude geboren, sein jüngerer Bruder Johann Friedrich am 22.12.1849, zwei weitere Brüder und die Schwester Marie Ries folgten. Der Vater war ein Kaufmann, der als junger Mann etwa zehn Jahre in Amerika gelebt hatte. Da auch ein Bruder ihrer Mutter bereits dort wohnte und arbeitete, nutzten die Brüder Hermann und Johann 1865 und 1866 die Möglichkeit, dem heimischen Militärdienst zu entgehen und stattdessen im Kolonialwarengeschäft des Onkels in Manhattan den Kaufmannsberuf zu erlernen. Bereits 1872 eröffneten die beiden Brüder dann an der First Avenue / 8. Straße ein eigenes Lebensmittelgeschäft mit dem Namen „Ries & Brothers“, das in den darauf folgenden Jahren beständig expandierte. 1892 übernahmen sie mit dem Neubau des Hotels „Savoy“ an der Fifth Avenue in Höhe des Central Parks dessen Geschäftsführung und waren vermutlich als Mitaktionäre auch an dessen Gewinnen beteiligt, sodass sie zu einem beträchtlichen Vermögen kamen. Spätestens ab Anfang des 20. Jahrhunderts reisten sie mehrfach zurück in ihre alte Heimat und stifteten Ritterhude mit ihrem gewonnenen Vermögen 1912 einen ersten Bau, eine Turnhalle, die für die Schulen des Ortes und für den Turnverein der Deutschen Turnerschaft „Frisch Auf“ zur Nutzung vorgesehen war. Der Architekt des mit einem markanten Turm versehenen Gebäudes war Oskar Leopold Schuckmann (1860-1920), der im Bremer Passregister der Jahre 1916 bis 1919 auch als „Professor / Oberlehrer an der technischen Staatslehranstalt Bremen“ bezeichnet wird. Die Turnhalle ist ein symmetrischer Bau aus Backstein in Formen des Reformstils, der im zu diesem Zeitpunkt noch sehr dörflichen Ritterhude sicher überaus auffallend war. Eine Uhr mit Stiftungstafel nennt das Baujahr „A.N. 1912“ sowie namentlich die beiden Gönner: „Stiftung der Brüder Herm. H. Ries Joh. F. Ries“.
Nach dem Ersten Weltkrieg „erbte“ der erst 21jährige, ebenfalls in Ritterhude geborene, Christian Evers (1898-1964) das Amt des Ritterhuder Gemeindevorstehers von seinem erkrankten Vater Georg Evers (1861-1919) und wurde anschließend im Oktober 1919 offiziell und hauptamtlich als solcher gewählt. Er nahm den über den Ersten Weltkrieg abgebrochenen Kontakt mit den Brüdern Ries in New York erneut auf und erreichte ab 1921 die allmähliche Errichtung einer wohltätigen Stiftung für Ritterhude, die zunächst als Stiftung für die Kirchengemeinde und hier insbesondere für Arme und Hilfsbedürftige angelegt war. Nach der Hyperinflation von 1923 stifteten die Brüder Ries 1925 eine Glocke für die Ritterhuder St. Johanneskirche. Sie waren bei deren Einweihung im September 1925 persönlich zugegen und kündigten bei dieser Gelegenheit den geplanten Bau einer eigenen Apotheke für Ritterhude an. Das Grundstück hierfür an der Westseite der Hauptstraße (heute „Riesstraße“) war bereits im Juli 1925 durch die Brüder Ries erworben worden, die nötige Apotheken-Konzession für Ritterhude erlangte Christian Evers schließlich im September beim Oberpräsidenten in Hannover. Mit dem Entwurf wurde der Sohn des Architekten der Turnhalle, Friedrich August Wilhelm Schuckmann (1891-1945), der in Karlsruhe und Hannover studiert hatte und nach seinem Diplom 1917 zunächst für die Eisenbahndirektion und das hannoversche Hochbauamt gearbeitet hatte, beauftragt. 1920 war er zum Regierungsbaumeister ernannt worden, seit 1921 war er Direktor des Bremer Wohnungs- und Siedlungsamtes. 1924 hatte er sich schließlich selbständig gemacht und die Apotheke in Ritterhude scheint somit einer seiner ersten Aufträge gewesen zu sein. Mit dem Bau wurde im März 1926 begonnen, im Mai war Richtfest. Im Juni 1926 kehrten die Brüder Ries nach 60 Jahren endgültig nach Deutschland zurück, um hier in Bremen, gemeinsam mit ihrer Schwester Marie Bergmann, ihren Lebensabend zu verbringen. Eröffnet wurde die Apotheke am 7. Dezember 1926, wiederum in Anwesenheit der Geschwister Ries. Es handelt sich um einen symmetrisch aufgebauten Backsteinbau in leicht expressionistischer Formgebung, dessen straßenseitige Hauseingänge durch einen halbkreisförmigen und von Pfeilern getragenen Vorbau betont werden. Der Vorbau ist über zwei seitliche Treppen erschlossen und besitzt im Obergeschoss zudem einen Austritt. Die die Fassaden gliedernden Architekturteile sind in Sandstein gestaltet.
Parallel zur Planung und zum Bau der Ritterhuder Apotheke erwarb Christian Evers im Auftrag für die Geschwister Ries den so genannten alten „Pfarrgarten“ im Zentrum von Ritterhude, in dem früher das alte Pfarrhaus gestanden hatte und der um 1925 an einen Landwirt vermietet war. Man beschloss, auf diesem Gelände ein „Gemeinde-Verwaltungsgebäude“ zu errichten, „welches neben den Räumen für die Gemeindeverwaltung, für die Wohnung des Gemeindevorstehers und eines Hausbotens auch Räume für die Spar- und Darlehenskasse zu Ritterhude erhalten dürfte, die der Spar- und Darlehenskasse gegen Zahlung einer angemessenen Miete zu überlassen wären“ (so festgehalten im Sitzungsprotokoll der Gemeindevertretung vom 29.06.1926). Wiederum wurde Architekt Friedrich August Wilhelm Schuckmann mit dem Entwurf beauftragt. Die Grundsteinlegung fand am 19. Februar 1927 statt – nur acht Tage danach, am 27. Februar starb der ältere der beiden Riesbrüder, Hermann Hinrich Ries, im Alter von 79 Jahren in Bremen. Das ab 1927 auch als Rathaus von Ritterhude bezeichnete Gebäude der Gemeindeverwaltung wurde im Juni 1928 in Betrieb genommen und schließlich am 1. September 1928 offiziell eingeweiht. Es handelt sich um einen symmetrisch aufgebauten Backsteinbau, der zwei seitlich hervorspringende Kopfbauten und einen zentralen kupfergedeckten Dachreiter in Form eines Glockenturmes mit Uhr besitzt. Ähnlich wie schon bei der Apotheke sind auch hier die Architekturgliederungen (Sockel, Gesimse, Fensterrahmungen) sowie der mittlere Eingangsvorbau in Sandstein gestaltet, welcher der Korrespondenz des Architekten mit Christian Evers zufolge extra aus den Obernkirchener Sandsteinbrüchen nach Ritterhude „importiert“ wurde. Durch die gegenüber der Hauptstraße erhöhte Lage (die man künstlich herstellte) muss auch dieser Bau im Ritterhude der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts besonders imposant gewirkt haben. Christian Evers zog mit seiner Familie in die „Wohnung des Gemeindevorstehers“ im ersten Obergeschoss an der Südwestseite des Gebäudes ein, die aus „Arbeitszimmer, Wintergarten, Esszimmer, Salon, Badezimmer, Küche, Speisekammer und 4 Schlafräume[n]“ bestand, wie Evers einem Verwandten im Januar 1928 mitteilte. Außerdem gab es die bereits zuvor erwähnten Räumlichkeiten für die Spar- und Darlehenskasse im Erdgeschoss auf der Südwestseite, die Gemeindekasse und Gemeindeverwaltung im Nordosten und eine Hausmeisterwohnung auf der Rückseite im Dachgeschoss; neu im Raumprogramm hinzugekommen waren „zwei Räume für die Gas- und Elektrizitätsverwaltung“. Kurz zuvor, im November 1927 war Ritterhude elektrifiziert worden.
Noch im Herbst 1926 waren zwischen den Brüdern Ries, Evers und Architekt Schuckmann erstmals auch Pläne zum Bau eines Pfarrhauses in Ritterhude besprochen worden. Da nun das Rathaus auf dem Platz des alten, 1829 abgebrannten, Pfarrhauses entstand, musste hierfür ein neuer Standort gesucht werden. Für die Stiftung des Pfarrhauses machten die Brüder Ries zudem zur Bedingung, dass die Ablösung der Pfarrgemeinde von den Ritterhuder Patronatsverhältnissen vorgenommen werden sollte. Dies war bereits im Stader Copiar, angelegt um 1420, festgelegt worden auf „die Familie von der Hude“, die das Patronat über „ambas capellas in Huda“ (beide Kapellen in Hude) besaßen – spätestens 1514 war nur noch die „capellen to sunte johanne“ und damit der Vorgängerbau der heutigen St. Johanneskirche vorhanden. Im 20. Jahrhundert gab es mehrere Patronatsfamilien, die unter anderem auch über die Neubesetzung der Pastoren bestimmten. Der Auflage der Brüder Ries hinsichtlich der Ablösung dieses Patronats stimmte das Landeskirchenamt nun im Zuge der Neuplanung des Pfarrhauses zu; als Bauplatz wurde ein Platz schräg gegenüber vom Rathaus auf der anderen Straßenseite ausgewählt. Friedrich August Wilhelm Schuckmann entwarf einen eher schlichten zweigeschossigen Backsteinbau mit symmetrischen Fassaden, die sich durch Backsteinziersetzungen und lisenenartige Vorsprünge auszeichnen. Auf Sandsteingliederungen wurde bei diesem Bau verzichtet. Im Südwesten schließt sich ein eingeschossiger Konfirmandensaal in gleicher Formgebung an, versehen mit einem zur Straße zeigenden Staffelgiebel mit Volutenschmuck in Traufhöhe. Das Pfarrhaus und der Saal wurden am 17. Februar 1929 eingeweiht. Mit Ablösung des Patronats konnte die Gemeinde Ritterhude nun erstmals selbst einen Pastor wählen, der mit seiner Familie noch im Februar 1929 in das neue Pfarrhaus einzog.
Am 24. September 1929, nur einen Monat vor dem großen Börseneinbruch in New York unterzeichnete die Gemeinde Ritterhude mit dem verbliebenen Bruder Johann Friedrich Ries (der sich seit seiner Zeit in Amerika als „John F. Ries“ bezeichnete) einen Schenkungsvertrag für eine neue Schule in Ritterhude, die auf dem Gelände des ehemaligen Hudenhofes, in dem die Pfarrer nach dem Brand des Pfarrhauses 1829 bis zum Neubau 1929 von den Ritterhuder Patronen untergebracht worden waren, entstehen sollte. Dabei wurde festgelegt, dass der Bau von den Geschwistern Ries (gemeint sind nun John F. Ries und seine jüngere Schwester Marie Bergmann, die auch gemeinsam in Bremen lebten) finanziert werden sollte, die Ausstattung jedoch vom preußischen Ministerium für Schulangelegenheiten in Berlin übernommen werden müsse. Gemeindevorsteher Christian Evers, ein örtlicher Schullehrer und der wiederum mit der Planung beauftragte Architekt Schuckmann fuhren 1928 eigens nach Berlin, um den Antrag hierfür zu erläutern und zu unterstützen. Sie waren erfolgreich und der mächtige dreigeschossige Backsteinbau über L-förmigem Grundriss in leicht expressionistischer Formgebung konnte 1930 errichtet werden. Wie schon beim Pfarrhaus ist der Fassadenschmuck auch hier eher sparsam in Backstein gehalten: zwei fünfachsige Seitenrisalite an der Hauptfassade und ein mittiger halbrunder, von Pfeilern getragener Eingangsvorbau charakterisieren das Gebäude, das – quasi in zweiter Reihe – an der heutigen Goethestraße steht. Eingeweiht wurde der heute als „Riesschule“ bezeichnete Bau am 11. August 1930.
Neben den Gebäudestiftungen waren die Geschwister Ries auch sonst wohltätig. 1929/30 stifteten sie Gelder zur Renovierung der St. Johanneskirche und finanzierten das neue Gestühl und die Orgel. 1931 gründeten John F. Ries und Marie Bergmann schließlich die so genannte „Ries-Stiftung“, die auf Grundstücken fußte, deren Bewirtschaftung oder Verpachtung den Unterhalt der Ritterhuder Gebäude, die von den Architekten Vater und Sohn Schuckmann errichtet worden waren, sichern sollte. John F. Ries starb 81jährig am 29. Juni 1931, der Stiftungsvertrag wurde am 31. Juli 1931 aufgesetzt. Hierin heißt es:
„Die politische Gemeinde wie die Kirchengemeinde haben die Grundstücke als ein Legat zu betrachten, aus dessen Ertrag die etwaigen Unterhaltskosten der Ries-Stiftungen
a) bezüglich der politischen Gemeinde insbesondere der Turnhalle, der Apotheke, des Rathauses, der Ries-Schule und des Post-Gebäudes;
b) bezüglich der Kirchengemeinde insbesondere des Pfarrhauses und der Kirche bestritten werden sollen.“
Diesen Stiftungsvertrag unterzeichnete die als Erbin und Nachlassverwalterin ihrer Brüder fungierende Marie Bergmann (1855-1935), der spätestens seit dem Tod von Hermann Ries 1927 auch ein wichtiger Part bei den Stiftungen zukam. Seit 1928 war auch Marie Bergmann wie ihre Brüder Ehrenbürger*in von Ritterhude.
Mit dem Bau des letzten Gebäudes aus den Mitteln der Ries-Stiftung, dem Postamt, das in der Stiftungsurkunde bereits erwähnt ist, war 1931 begonnen worden und es wurde im Juli 1932 eröffnet. Es handelt sich um einen zweigeschossigen symmetrischen Backsteinbau, der auf der Südostseite der Hauptstraße, östlich der Kirche errichtet wurde. Architekt war auch hier Friedrich August Wilhelm Schuckmann. Der Fassadenschmuck in Backstein ist hier noch einmal reduziert, der den Eingang betonende Vorbau ist – im Gegensatz zu Apotheke und Schule – nun in rechteckiger Form gestaltet, auf Sandstein wurde auch hier verzichtet.
Als Marie Bergmann 1935 starb, hatten die Stiftungen der Geschwister Ries an die Gemeinde Ritterhude einen Gesamtwert von 1.413.000 Reichsmark. Alle drei Riesgeschwister (die beiden weiteren Brüder waren bereits im Kindes- beziehungsweise Jugendalter verstorben) hatten keine eigenen Kinder. Das außerhalb der Ritterhuder Stiftung vorhandene Erbe wurde gemäß des Testaments von Marie Bergmann an sechs wohltätige Einrichtungen verteilt.
Ritterhude hat durch die sechs aus dem Vermögen der Brüder Ries erbauten und aus der Stiftung der Geschwister Ries unterhaltenen Bauten einen besonderen Stellenwert in der Denkmallandschaft. So prägen die denkmalgeschützten Gebäude im Zentrum der Gemeinde durch ihre zeittypische und homogene Backsteinarchitektur das Ortsbild bis heute maßgeblich.
Zum Weiterlesen:
Ulrike Hartung: Ritterhude – New York – Ritterhude, Gemeindevorsteher Christian Evers und die Geschwister Ries, Bremen 2008
50 Jahre Rathaus Ritterhude, Ritterhude 1978
50 Jahres Riesschule Ritterhude 1930-1980, Ritterhude 1980