Die Herrnhuter Brüdergemeine in Neugnadenfeld
Das neu entstandene Bundesland Niedersachsen und seine Bevölkerung waren nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges vor vielfältige Herausforderungen gestellt: kriegszerstörte Städte und Dörfer, ein politischer Neuanfang, Besatzungskosten, Arbeitslosigkeit und die katastrophale Ernährungslage. Wie auch das Land Niedersachsen nicht in der „Stunde Null“ aus dem Nichts entstand, so blickt auch die junge Siedlung Neugnadenfeld auf eine bewegte und bewegende Vergangenheit zurück. Von 1945 bis 1962 passierten insgesamt etwa 4,7 Millionen Personen die niedersächsischen Grenzdurchgangs-, Notaufnahme- und Jugendlager. Bis 1950 wuchs die Einwohnerzahl von Niedersachsen um mehr als 50 Prozent auf 6,8 Millionen an. Die Betreuung der Vertriebenen erfolgte seit Januar 1946 durch einen Staatskommissar für das Flüchtlingswesen. Auf Grundlage des Flüchtlingssiedlungsgesetzes von 1949 wurden vorwiegend durch verstärkte Ödlandkultivierung und Aufteilung von Staatsdomänen bis 1962 annähernd 39.000 Siedlerstellen für Vertriebene geschaffen. Diese Entwicklung lässt sich auch für Neugnadenfeld nachvollziehen. Die Gemeinde Großringe, zu der Neugnadenfeld gehört, zählte 1939 lediglich 486 Einwohnerinnen und Einwohner. 1950 war die Zahl auf 1562 Personen gestiegen, davon 599 Einheimische und 963 Vertriebene.
Das Gebiet um das heutige Neugnadenfeld wurde lange Zeit von weiten unwirtlichen Hochlandmoorflächen beherrscht. Bei der Markenteilung im Jahr 1863 wurden die bisher gemeinschaftlich genutzten Marken aufgeteilt und gingen in Privatbesitz über. Bei der Aufteilung der Groß- und Kleinringer Mark hatte der Fürst Alexius zu Bentheim und Steinfurt als Markenrichter eine Abfindung aus der Kleinringer Mark von 310 Morgen, zwei Jahre später aus der Großringer Mark 300 Morgen erhalten. Er ließ sich die Flächen an den benachbarten Grenzen der beiden Marken zuweisen, sodass sie zu einer großen Fläche zusammengefasst werden konnten. Bereits 1870 bot die Bentheimsche Domänenkammer aus dieser Fläche zehn Siedlerstellen zu je 30 Morgen Land an. Die neue Siedlung erhielt in Erinnerung an den 1866 verstorbenen Fürsten den Namen Alexisdorf. So entwickelten sich unter schwierigen Bedingungen aus moorigem Niemandsland kultivierte Flächen, die ackerfähig waren.
Die weitere Urbarmachung der Grafschaft Bentheim erfolgte auf der Grundlage des Reichssiedlungsgesetzes von 1919 und der Verordnung über die Förderung von Ödlanderschließung von 1924. Von ehemals 78 Prozent Ödlandflächen (Moor und Heide) in der Grafschaft Bentheim im Jahr 1832 verringerten sich die Flächen auf 24,2 Prozent im Jahr 1950 und auf 1,9 Prozent heute. Um die Kultivierung flächendeckend voranzutreiben, wurden auch Flächen um Alexisdorf vom Staat aufgekauft und Vielfältige Herausforderungen als Staatsgebiet deklariert. Die Bewirtschaftung unterlag damit der staatlichen Moorverwaltung. Die nationalsozialistische Siedlungspolitik orientierte sich im Folgenden an der Nutzbarmachung dieser in Staatseigentum befindlichen Flächen. Um die arbeitsintensive Urbarmachung dieser Gebiete voranzutreiben, wurde der Reichsarbeitsdienst eingesetzt. Zusätzlich wurden zu diesen Arbeiten politische Häftlinge, Strafgefangene und Kriegsgefangene herangezogen.
Wie kam es nun zur Besiedlung des Lagerstandortes? Bischof Hermann Steinberg, geboren 1886 in Leonberg (Gem. Gostynin/Polen), war Archivar für die Brüdergemeine in Herrnhut, nachdem er verschiedene gemeindliche und missionarische Aufgaben erfüllt hatte. Die Herrnhuter Brüdergemeine ist eine Religionsgemeinschaft, die aus dem Pietismus hervorgegangen ist und den persönlichen Glauben und die Gemeinde als Bruderschaft und Dienstgemeinschaft betont. Sie geht auf die Böhmischen Brüder zurück, die sich seit 1722 auf dem Gut Berthelsdorf des Grafen Zinzendorf niederließen. Die daraus hervorgegangene Siedlung erhielt den Namen Herrnhut. Seit den 1730er-Jahren begann eine umfassende Missionstätigkeit, durch die die Brüdergemeine heute weltweit vertreten ist. Seit 1948 ist die Büdergemeine in Deutschland der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) angegliedert. Bischof Steinberg meldete sich Ende 1945 bei der in Bad Boll gegründeten Brüderdirektion und bat um neue Aufträge im Dienst der Brüdergemeine. Er bekam den Auftrag, sich um die brüderischen Familien in der nordwestdeutschen Diaspora zu kümmern und mögliche Siedlungsoptionen für diese zu eruieren. Bischof Steinberg wurde in dieser Angelegenheit Ende 1945 bei Hinrich Wilhelm Kopf vorstellig, Oberpräsident der Provinz Hannover und ab November 1946 erster Ministerpräsident des Landes Niedersachsen. Kopf hatte 1943 während eines Krankenhausaufenthalts in Niesky bereits Kontakt zur Brüdergemeine und versprochen „in seinem Leben dieser Gemeinde gerne etwas Gutes zu tun, wo und wann immer sich eine Gelegenheit biete“. Kopf erklärte gegenüber Bischof Steinberg, dass er der Bitte der Brüdergemeine gern nachkommen wolle, er jedoch in der gegenwärtigen Lage nur das ehemalige Strafgefangenenlager XV in Alexisdorf anweisen könne.
Am 6. Februar 1946 besuchte eine Abordnung der Brüdergemeine mit Bischof Steinberg das Lager Alexisdorf. Dazu schrieb er in seinem Tagebuch: „Verlockend sieht es ja nicht gerade aus, das Landschaftsbild, das sich uns später an Ort und Stelle darbietet: viele überschwemmte Wiesen und dann hinter den Dörfern das braune Hochmoor, teils heidekrautbewachsen, teils nackter Torf, ohne Baum und Strauch“. Nichtsdestotrotz erfolgte bereits am 8. Februar 1946 die Genehmigung zur Belegung des Barackenlagers Alexisdorf durch die Herrnhuter Ostflüchtlinge, am 10. April 1946 trafen dann die ersten Familien im ehemaligen Lager ein. Da der Zuzug stetig zunahm, mussten die vorhandenen Räumlichkeiten in den ehemaligen Lagerbaracken kontingentiert werden und jeder bekam 4,5 Quadratmeter zugewiesen. Das ehemalige Lagerkasino, welches sich in einem guten Zustand befand, wurde im Mai 1946 als Kirchsaal eingerichtet. Im Juni 1946 konnten die erste Taufe und die erste Trauung durchgeführt werden. Ende des Monats waren bereits über 300 Personen in die Baracken eingezogen. Rund 60 Prozent der Bewohner stammten aus Leonberg bei Kutno/Polen. Viele kamen aus der Landwirtschaft. Am 24. Juni 1946 wurde der Name der neuen Brüdergemeine gewählt. In Anlehnung an das alte Gnadenfeld im früheren Oberschlesien entschied man sich für den Namen „Neugnadenfeld“. Mit dem Zuzug weiterer Flüchtlingsfamilien waren bald auch zusätzliche öffentliche Einrichtungen erforderlich. Im Mai 1946 wurde zunächst eine kleine Schulbaracke eingerichtet, in der über 90 Kinder unterrichtet wurden. Die Kultivierung des Moores und das Anlegen von Entwässerungsgräben waren zunächst die Hauptbeschäftigungen für die neuen Bewohnerinnen und Bewohner von Neugnadenfeld. Gleichzeitig setzte die Unterstützung der Brüderunität und verschiedener Hilfsorganisationen für sie ein. 1947 kam es zum ersten Sterbefall in der Brüdergemeine, der dazu führte, dass der Gottesacker angelegt und eingeweiht wurde.
Die Siedlungstätigkeit in Neugnadenfeld wurde schlussendlich mit dem Bau eines Kirchsaals und eines Dorfgemeinschaftshauses abgeschlossen. Das Dorfgemeinschaftshaus war ein Geschenk des Landes Niedersachsen und ist neben dem Dorfgemeinschaftshaus in Offleben (Helmstedt) eines der ersten seiner Art in Niedersachsen.
Die Lagerkirche war im Laufe der 1950er-Jahre zunehmend baufälliger und schließlich auch zu klein geworden, sodass die Brüdergemeine den Neubau eines Kirchsaals beschloss. Die Herrnhuter Brüdergemeinen entwickelten in der Vergangenheit einen besonderen Bautyp für ihre gottesdienstlichen Versammlungsräume. Dieser wird als „Saal“ oder „Gemeinsaal“ gelegentlich auch als „Bethaus“ oder „Kirch(en)saal“ bezeichnet.Der Baukörper gleicht dem eines größeren Wohnhauses mit einem zweigeschossigen Saal, der über eine Reihe hoher Fenster belichtet wird. Ein Dachreiter krönt das Dach. Die beiden Haupteingänge waren ursprünglich getrennt für Männer und Frauen bestimmt. Der quer gerichtete Innenraum ist so hell wie möglich gehalten. Die Mitglieder saßen nach Geschlecht und Familienstand getrennt auf weiß gestrichenen Holzbänken. Kreuze existieren in den Brüdersälen erst seit 1882. Kanzel, Altar und Taufstein werden für den Gottesdienst der Brüdergemeine nicht benötigt. Der Sitz des Predigers ist ein erhöht stehender Stuhl vor der Mitte der Längswand. An diese Bautradition knüpften die Architekten bei der Planung des Kirchsaals in Neugnadenfeld an. Nachdem vier Jahre Spenden für den Neubau gesammelt worden waren, erfolgten am 30. Juli 1958 der erste Spatenstich und die Grundsteinlegung am 24. August 1958. Nach einjähriger Bauzeit fand am 13. September 1959 die offizielle Einweihung des neuen Kirchsaals statt. Bischof Theodor Siebörger, der von 1949 bis 1957 der Gemeinde Neugnadenfeld als Seelsorger gedient hatte und danach in Hamburg als Seelsorger wirkte, hielt die Festpredigt.
Bei dem Kirchsaal in Neugnadenfeld handelt es sich um einen zum Vorplatz traufseitig ausgerichteten, achsensymmetrischen Baukörper unter flachem Satteldach mit mittigem Dachreiter. Rechts- und linksseitig des Gebäudes, dem zentralen Platz zugewandt, befindet sich je ein Eingang unter grazilem Vordach, getragen von zwei schlanken Rundstützen, darüber jeweils eine Fensteröffnung mit massiver, kreuzförmiger Füllung. Mittig in der Fassade sind sieben hochrechteckige Fenster angeordnet, die den Saal von beiden Traufseiten aus belichten. Im Inneren ist giebelseitig je eine Empore angeordnet, darunter befindet sich im Westen ein Gemeinderaum, im Osten die ehemalige Teeküche und Sakristei. Ursprünglich waren die Emporen sowie die zweigeteilte Bestuhlung als getrennte Bereiche für Frauen und Männer vorgesehen. Im Inneren ist die tragende Stahlbetonkonstruktion wandgliedernd abzulesen, außen ist die Konstruktion mit einem Verblendmauerwerk umfasst. Eine abgehängte Decke aus Rabitzgewebe mit einer umlaufenden Voute bildet den Raumabschluss des Saales. Bemerkenswert ist die bauzeitliche Raumausstattung, bestehend aus den Bankreihen, Bodenbelägen (Sollnhofer Platte und Dielenbelag), Wandverkleidungen, Innentüren, Wandleuchtern und Emporengeländern. Besonders hervorzuheben sind die beiden vielarmigen Leuchter, die den Saal ausleuchten. Als Architekten verantwortlich für den Entwurf zeichneten Vogt und Schrieber-Wülfken. Beide waren Architekten am Landeskirchenamt der Hamburgischen Landeskirche. Insofern waren sie eng vertraut mit den Grundzügen des protestantischen Kirchenbaus. Die Bauten dieser Architekten, vorwiegend Wiederaufbauten kriegszerstörter Hamburger Kirchen, zeigen einen handwerklichen Traditionalismus mit einer hohen Qualität im architektonischen Detail und in der Verarbeitung. Der Kirchsaal in Neugnadenfeld wurde 1991 im Westen mit einem gelungen gestalteten Anbau, dem Johann-Amos-Comenius-Gemeindehaus, ergänzt.
Seit 2020 steht der Kirchsaal in Neugnadenfeld unter Denkmalschutz. Es ist in der Hauptsache die besondere geschichtliche Bedeutung dieses Bauwerks und des Ortes sowie seine wissenschaftliche Grundriss, Ausschnitt aus dem Plan „Neubau eines Kirchensaales“ von 1958 (Plan im Eigentum der Brüdergemeine Neugnadenfeld). und städtebauliche Bedeutung, die das öffentliche Erhaltungsinteresse begründen. Gleichermaßen 63 bedeutet die Unterschutzstellung auch eine Würdigung und Anerkennung der Aufbauleistung, die viele Menschen und Familien in Neugnadenfeld geleistet haben. Neugnadenfeld und Niedersachsen, beide haben nach den Zerstörungen und dem Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg in vielerlei Hinsicht eine positive Entwicklungsgeschichte. Zum Schluss sollen hier die Worte von Hermann Winckler – Vorsteher der Brüdergemeine von 1954 bis 1970 – stehen, die er zum Ende seiner Amtszeit fand: „Sagt es immer wieder Euren Kindern, wie es einmal aussah, mit welchen Opfern und welcher Arbeitskraft ihr hier gewirkt und aufgebaut habt. Es ist Euch nichts geschenkt und nichts in den Schoß gefallen. Haltet Eure Kinder an, dass sie Euer schwer erarbeitetes Erbe pflegen und erhalten …“.
Die Herrnhuter Brüdergemeine in Neugnadenfeld im Denkmalatlas Niedersachsen:
https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/metadata/48132753/1/-/
Literatur:
Zur Brüdergemeine: Albert Rötterink: Die Siedlungsgeschichte der Herrnhuter Brüdergemeine Neugnadenfeld, in: Heimatverein der
Grafschaft Bentheim (Hrsg.): Bentheimer Jahrbuch 1990, S. 241–279.
Zu den Emslandlagern: Andrea Kaltofen und Bernd Faulenbach (Hrsg.): Hölle im Moor – Die Emslandlager 1933–1945, Göttingen, 2.
Aufl., 2017
Zur Grafschaft Bentheim: Steffen Burkert (Hrsg.): Geschichte und Gegenwart eines Landkreises – Die Grafschaft Bentheim, Bad
Bentheim, 2. Aufl., 2010
Ein virtueller Besuch des Kirchsaals ist empfehlenswert und möglich unter:
https://grafschafter-kirchen.de/herrnhuter-bruedergemeine-neugnadenfeld/
Der Text wurde erstmals veröffentlicht in den Berichten zur Denkmalpflege in Niedersachsen, 41. Jg. (2021), Heft 2, S. 56-63.