Die Villa Simon

Von Frank Achhammer

In unmittelbarer Nähe eines der bedeutendsten Verkehrsknotenpunkte Hannovers, dem Königsworther Platz, befindet sich ein zweigeschossiges, hell verputztes Gebäude, das sichtbar älter als die umgebende Bebauung ist und den Eindruck des Überrestes eines ursprünglich völlig anderen Stadtbildes vermittelt. Tatsächlich ist die nach ihrem Bauherrn benannten Villa Simon in herausragender Weise ein Dokument der Stadtentwicklung und Entstehung einer spezifisch hannoverschen Architektur im 19. Jahrhundert, der Geschichte einer weltweit bekannten Erfinder- und Unternehmerfamilie sowie einer nachkriegszeitlichen Nutzung als Gebäude der hannoverschen Universität.

Die Villa Simon ist ein zweigeschossiger Putzbau auf hohem Sockelgeschoss unter flachem Walmdach, das weit übersteht und durch ein befenstertes Kranzgesims halbgeschossartig erhöht ist. Die Kassetten des Dachüberstandes sind teilweise mit farbiger ornamentaler Malerei versehen. Durch das nach Süden abfallende Gelände steht das Sockelgeschoss rückseitig völlig frei und ist durch eine quer angebaute ehemalige Remise erweitert. Auf die Herrenhäuser Allee ausgerichtet schließt sich im Nordwesten ein eingeschossiger Standerker mit Balkon, direkt daneben in der Mittelachse ein turmartig erhöhter zweiachsiger Risalit mit Aussichtsplattform an. Balkone und Aussichtsplattform sind durch Balustraden in Naturstein gesichert. Während die Fassaden im Erdgeschoss sich in rechteckigen Fenstern öffnen, bestimmen große Rundbogenfenster die Belétage und das Obergeschoss des Risalits. Sie sind durch charakteristische konsolengestütze Stuckbedachungen verziert. Die straßenseitige, symmetrisch gegliederte Hauptfassade besitzt an den mittleren drei Achsen einen gering ausladenden Balkon mit Natursteinbalustrade. Das Wandfeld über den mittleren Rundfenstern ist mit an englische Spätgotik angelehnten Zierformen in Stuck auffällig geschmückt.

Als der Bauherr Eduard Simon (1805-1867), ein angesehener Jurist aus einer alteingesessenen jüdischen Familie, die Villa ab 1858 vom hannoverschen Architekten Christian Heinrich Tramm (1819-1861) für sich errichten ließ, war der Königsworth genannte Ort vor den Toren der Stadt noch überwiegend von Gartenhausbebauung geprägt. Kurze Zeit später wurde er eingemeindet. Die Besonderheit des Grundstücks bestand darin, dass es fast genau in der Achse der Herrenhäuser Allee lag, die seit 1726/27 als repräsentative Verbindung zwischen der Stadt und dem Herrenhäuser Schloss diente. Auf dem Messtischblatt der Preußischen Landesaufnahme ist der direkte Bezug zur Allee und die städtebaulich prominente Lage der Villa noch gut zu erkennen. Der von Simon beauftragte Hofbaumeister Tramm gehörte wie zunächst auch Conrad Wilhelm Hase (1818-1902) seit Ende der 1840er Jahre zu den bedeutendsten Vertretern des Rundbogenstils in Hannover. Ebenso wie Hase verbrachte er frühe Lehrjahre in München im Umfeld von Friedrich von Gärtner (1791-1847). Seine Verbindung des Rundbogens mit Elementen der englischen "Perpendicular Gothic" gilt als stilprägend und wird häufig als "Tramm-Stil", die stabwerksartigen Verzierungen mit fensterbegleitenden Rundbögen als "Trammsche Bögen" bezeichnet. Seine, Hases und die Bauten weiterer hannoverscher Architekten wurden etwa ab den 1850er Jahren als eigenschöpferische Hannoversche Architekturschule wahrgenommen. Tramm starb bereits im Alter von 42 Jahren, bevor er seinen größten Auftrag, die neue Residenz im Welfengarten vollenden konnte. Hase wurde fast doppelt so alt, anders als Tramm setzte er sich vehement für den unverputzten Backsteinbau ein und führte die Hannoversche Schule später zu einer dogmatisch neugotischen Richtung mit langanhaltendem und geografisch weitreichendem Einfluss. Die Villa Simon gehört heute zu den seltenen und am besten erhaltenen Beispielen des frühen hannoverschen Rundbogenstils. Als Vorbild diente Tramms für eigene Zwecke 1850/51 am Schiffgraben gebautes, leider nicht erhaltenes Wohnhaus. Neben der wegweisenden Fassadengliederung besaß auch das Haus Tramm einen Risalit mit erhöhter Aussichtsplattform, sehr ähnlich dem, der an der Villa Simon dem Blick auf die Herrenhäuser Gärten dient.
Eduard Simon starb 1867 und wurde auf dem Jüdischen Friedhof An der Strangriede begraben, seine Erben verkauften die Königsworther Villa 1895 an den Unternehmer Joseph Berliner (1858-1938). Josephs Bruder Emil Berliner (1851-1929) war 1870 in die USA ausgewandert und dort als Erfinder erfolgreich, u.a. 1877 mit der Entwicklung eines Mikrophons für das erste marktreife Telefon von Alexander Graham Bell (1847-1922). Zahlreiche Patente folgten, in späten Jahren auch im Bereich der Luftfahrt. 1887 meldete er ein Patent auf einen scheibenförmigen Tonträger mit schneckenförmiger Rille zur Konservierung von Tonmembranaufnahmen an: die Schallplatte. Das benötigte Abspielgerät, das Grammophon, erfand er gleich mit. Auf dieser Grundlage gründete er 1898 mit seinem Bruder die weltweit erste Fabrik für eine Massenanfertigung von Schelllack-Schallplatten, die Deutsche Grammophon Gesellschaft. Sie befand sich zunächst in der Kniestraße 18 in der hannoverschen Nordstadt und zog später in die Podbielskistraße um, wo heute noch bauliche Anlagen der ehemaligen Produktionsstätte erhalten sind. Die Grabstätte der Familie Joseph Berliner befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof An der Strangriede. Nachdem 1938 beide Eltern verstorben waren, wurde die Villa Simon von Josephs Tochter Klara Berliner bewohnt, die dort Familienangehörige und Bekannte aufnahm. Ab 1939 wurden weitere Familien jüdischer Herkunft zwangseingewiesen. Nach dem Verkauf des Hauses an die Stadt 1941 zog Klara Berliner in ein jüdisches Altersheim in Hannover, von dort wurde sie 1943 in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie kurze Zeit später starb. Vor der Villa Simon erinnern zwei Stolpersteine an die ehemaligen Bewohner Martin und Betty Schlesinger, die unmittelbar nach dem Verkauf des Hauses deportiert wurden und in Riga starben. Die fragwürdigen Umstände des Verkaufs führten 1952 zu einer Rückgabe des Hauses an in den USA lebende Angehörige der Familie Berliner, die es an das Land Niedersachsen verkauften. Seitdem wird es von der Universität Hannover mit wechselnden Einrichtungen überwiegend als Lehr-, Forschungs- und Verwaltungsgebäude genutzt. Die Verdienste der Brüder Berliner um die Erfindung und Produktion von Schallplatten war 2014 mitbegründend für die Aufnahme Hannovers in die Liste der „UNESCO-Cities-of-Music“, nebenbei bemerkt wurden hier 1965 auch die erste Audiokassette hergestellt und 1982 die erste Compact Disc gepresst. Nur wenige Baudenkmale in Hannover sind in ihrem guten Erhaltungszustand, ihrer städtebaulichen Lage und ihrer Bedeutung als stilprägendes Werk eines bekannten Architekten gleichzeitig noch vielfältiges Zeugnis für die Geschichte der Stadt und einiger ihrer bedeutendsten Bürger, wie es bei der Villa Simon der Fall ist.

Zum Weiterlesen:

G. Kokkelink, Baukunst in Norddeutschland Architektur und Kunsthandwerk der Hannoverschen Schule 1850 - 1900. Schlütersche: Hannover, 1998, S. 31 ff, 67, 68, 72, 570.

H. Obenaus, Brühlstraße 27: Die Villa Simon. In: S. Auffarth, Die Universität Hannover: ihre Bauten, ihre Gärten, ihre Planungsgeschichte. Petersberg: Imhof, 2003, S. 239-246.

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