Die Taubenfibel aus Werlaburgdorf. Ein Zeugnis früher Christen im Nordharzvorland
Von Markus C. Blaich
Nach dem Ende der Sachsenkriege Karls des Großen in den Jahren um 800 setzte in Norddeutschland ein Wandel ein, der beinahe alle Lebensbereiche der Menschen erfasste: Auf die militärische Eroberung folgte die politische und administrative Erfassung, die sich beispielsweise in der Einführung der bis dahin unbekannten Grundverwaltung niederschlug, einem neuen System zu leistender Abgaben und Frondienste oder dem allmählichen Übergang von der Natural- und Tauschwirtschaft zur Geld- und Fiskalwirtschaft. Der wohl größte und bis heute prägende Einschnitt war die Christianisierung, die Einführung einer neuen Religion, die umfassend in den Alltag der Bevölkerung eingriff. Die Missionierung der Sachsen wurde überwiegend von Mönchen aus den Landschaften links des Rheins getragen. Sie brachten besondere Kenntnisse wie Lesen und Schreiben mit, und die von ihnen ausgeübte Religion erforderte mit den Kapellen und Kirchen völlig neuartige Gebäude, die zudem in einem bis dahin ungebräuchlichen Material (Stein) sowie in ungewöhnlicher Größe errichtet wurden.
Das Wissen um diese Vorgänge beruht vor allem auf den bekannten zeitgenössischen Schriftquellen, auf Besitz- und Abgabeverzeichnissen der Klöster, Heiligenviten oder erzählenden Werken. Damit erhält man einen Einblick in Rechtsverhältnisse und geistige Vorstellungen, aber nur bedingt in den Alltag der Menschen. Hier ist die Erwartung an die Archäologie besonders groß. Sie ist dank ihrer Quellen in besonderem Maße in der Lage, die allgemeinen Lebensumstände und vor allem längerfristige Entwicklungen zu erfassen. Doch welche Aussagen erlauben die archäologischen Befunde und Funde tatsächlich?
Hier scheint vor allem die Betrachtung von Kleidungsbestandteilen und Schmuck aussagekräftig zu sein. Die im 8. bis 10. Jahrhundert überwiegend einzeln getragenen Fibeln verschlossen, wie die Fundlage in Gräbern und zeitgenössische Abbildungen belegen, einen überwurfartigen Mantel. Dieses Kleidungsstück wurde vor allem von Frauen gehobeneren Standes getragen, ferner sind Funde aus Kindergräbern bekannt. Die Fibeln waren meist aus Buntmetall gefertigt und hatten auf der Rückseite eine den modernen Sicherheitsnadeln ähnliche Konstruktion. Teile der Kleidung erhalten sich nicht selten als ankorrodierte Stoffreste auf der Rückseite der Fibeln. Die verzierte Vorderseite der Fibeln blieb gut sichtbar und war also als „Schauseite“ durchaus geeignet, als Bild oder Symbol eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Diese für die Zeitgenossen wohl leicht verständliche, „lesbare“ Mitteilung konnte in ihrer Aussagekraft beispielsweise durch das für die Fibel verwendete Material – Silber oder gar Gold statt Buntmetall – noch verstärkt werden.
Die Taubenfibel aus Werlaburgdorf, Grab 26 mit Aquamarineinlagen und einem Kreuz auf dem Rücken, ist als christliches Symbol zu verstehen: In der christlichen Bildersprache gilt die Taube als Symbol für die Taufe bzw. den Heiligen Geist. Im ehemals sächsischen Gebiet stammen beinahe alle Taubenfibeln von ländlichen Friedhöfen (Zeit um 800 und erste Hälfte 9. Jahrhundert). Aus städtischen Zentren und den dort ergrabenen Handwerkervierteln sind entsprechende Funde bisher unbekannt. Auch wurden bislang, verglichen mit den Münz- und Heiligenfibeln, ungleich weniger Taubenfibeln bekannt. Diese Stücke dürften demnach als seltenere Objekte eine besondere Wertschätzung genossen haben. So liegt es nahe, diese Fibeln mit der neu christianisierten Oberschicht in Verbindung zu bringen.
Unter dem Eindruck der historischen Überlieferung ist man in der Archäologie zu der Deutung gelangt, dass diese Stücke ähnlich den modernen „Buttons“ Ausdruck eines persönlichen Bekenntnisses sind. Ihre hauptsächliche Verbreitung in den Landschaften zwischen Rhein und Elbe fügt sich in diese Interpretation sehr gut ein. Die Fibeln mit christlichen Symbolen sind zweifelsohne Bild- und Bedeutungsträger. Sie sind Zeugnis eines Ideentransfers, der eng mit einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch und der politischen Neuformierung des heutigen Norddeutschlands verknüpft ist.