Vom Schafstall zum Landladen Rullstorf. Über die nachhaltige und denkmalgerechte Umnutzung eines ländlichen Nebengebäudes
Im Land Niedersachsen hat sich eine Vielzahl an ländlichen Gebäuden vergangener Jahrhunderte erhalten, die vom Leben und Wirtschaften der Menschen zeugen. Sind diese Baulichkeiten möglichst vollständig in ihrer Substanz und vermögen Raum- und Funktionsbeziehungen abzubilden, so sind sie in aller Regel in die Denkmalliste eingetragen und genießen einen begründeten Schutzumfang. Sie prägen die hiesige Kulturlandschaft wie selbstverständlich und bezeugen regionale Besonderheiten wie beispielsweise die Heidschnuckenwirtschaft, eine der Hauptstützen der bäuerlichen Existenz bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts: „Die harten, trockenen, fast hölzernen Heidekräuter wollen keinem anderen Tiere behagen als diesen Heidschnucken. Das Pferd frißt sie gar nicht. Die Kuh nur im Notfalle, und sie wird mager und elend dabei, ja für die Dauer wäre die Existenz eines Rindes nicht auf Heide zu begründen. Nur das Schaf hat glücklicherweise das Gebiß, den Magen und auch den rechten Appetit dazu.“
Anders als Rinder vertragen Schafe den Rauch, der im Wohn-/Wirtschaftsgebäude über der offenen Feuerstelle durch die Fläche des Reetdaches abzieht, nicht. Von daher benötigten sie von jeher eigene rauchfreie Gebäude, die Außen- und Hofschafställe. Auf großen Höfen war die Haltung zweier Herden üblich. Da war zum einen die Großherde mit 300-400 Schafen, in der die Mutterschafe für die nächste Zuchtzeit vom Großschäfer den ganzen Sommer mit Ausnahme der Lammzeit auf der Heide, weit außerhalb des Dorfes gehütet wurden. Die Großherde verbrachte die Nacht im Außenschafstall, dem sogenannten Butenschapkoben. Und es gab die Kleinherde mit 200-300 Schafen, die die Zuchtböcke, Hammel, Gülste und Lämmer umfasst, und vom Kleinschäfer bei eintretender Dämmerung auf den Hof in den Hofschafstall getrieben wurde. Als ein solcher Hofschafstall kann das Rullstorfer Objekt angesprochen werden.
Um die Mitte des letzten Jahrhunderts vollendete sich der tiefgreifende Wandel von einer handwerklichen zu einer industriellen Produktion und brachte den ländlichen Gebäuden Nutzungsänderungen oder Nutzungsverlust und in deren Gefolge bauliche Veränderungen, die teilweise verunklarend waren oder sie gar in ihrem Bestand gefährdeten. So war der fragliche Schafstall wohl in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Wagenschauer landwirtschaftlicher Kleingeräte umgenutzt und dafür mit einer leichten Noteindeckung in Wellasbestzementplatten eingedeckt, eine Abschleppung traufseitig angesetzt und ein Tor und die Schäfertür mit Backsteinen zugesetzt worden.
Am Anfang jeder Instandsetzung eines Baudenkmals steht die Grundlagenermittlung mit der Leitfrage: Um was für ein Objekt handelt es sich und was war baulich wann und wie daran ausgeführt? Bei dem Rullstorfer Schafstall handelt es sich um einen Wandständerbau in Oberrähmzimmerung mit eingehälsten Ankerbalken und Ausfachungen in Backstein, Lehmstakung und Grünlingen unter einem typischen Sparrendach mit einfacher Kehlbalkenlage in leichter Weicheindeckung, ursprünglich in Stroh, heute in Reet. In den Giebeln befinden sich zweiflügelige, bei Schafställen stets nach außen aufschlagende, Tore. Nach Norden ist zudem eine einzelne Tür angeordnet, die als Schäfertür angesprochen werden darf. Der Boden ist in Stampflehm ausgeführt. Als aufsteigende Nummerierung von Nord nach Süd sind die sechs Ständerpaare des Baus durch die Verwendung von Abbundzeichen in Form von eingekerbten Dreiecken, sogenannten Fähnchen, eindeutig kenntlich gemacht. Dieser Befund als Ausgangslage erlaubte Rückschlüsse auf ein hohes Alter des Schafstalls und mögliche Archivalienfunde in den einschlägigen Sammlungen Niedersachsens. Das ist zum einen der Nachlass von Gerhard Eitzen (1916-1996) im Archiv des „Museumsdorf Hösseringen. Landwirtschaftsmuseum der Lüneburger Heide“. Eitzen war einer der profiliertesten Gefügeforscher innerhalb der volkskundlichen Hausforschung. Ausgehend von systematischen überregionalen Untersuchungen der aus Holz abgezimmerten Gerüste ergeben sich vergleichende Analysemöglichkeiten, die eine wissenschaftlich abgesicherte Datierung, aber auch die Darstellung des immanenten Zusammenhanges zwischen Gefüge und Nutzung ermöglichen. Die schriftlichen, zeichnerischen und fotografischen Arbeiten Eitzens sind Teil des Nachlasses, der in Hösseringen aufbewahrt wird und durch ein online verfügbares Findbuch erschlossen ist.
Zum anderen ist die sogenannte Bauernhauskartei des Landkreises Lüneburg, die sich in den Sammlungen des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege im Regionalreferat Lüneburg befindet, zu nennen. Deren Verfasser war der Bürgermeister a.D. Dr. Paul Albers (1875-1948). Die Erforschung des niedersächsischen Bauernhauses und zugehöriger ländlicher Nebengebäude begann er 60-jährig im Rahmen des Erfassungsprojektes „Haus und Hof deutscher Bauern im Gebiet der Lüneburger Heide“, in dem zunächst alle Bauten, die vor 1750 errichtet worden waren, textlich und fotografisch erfasst wurden. Albers bearbeitete die Landkreise Bremervörde, Celle, Harburg, Lüneburg, Rotenburg, Soltau und Verden. Der Direktor des damaligen „Vaterländischen Museums zu Celle“, Dr. Albert Neukirch, und der Direktor des damaligen Helms-Museums, Dr. Willi Wegewitz, schlossen mit Albers Ankaufverträge ab und sind, nach derzeitigem Kenntnisstand, im Besitz der gesamten Sammlung, während im Landesamt lediglich die Landkreise Harburg und Lüneburg vorhanden sind. Sowohl Gerhard Eitzen als auch Paul Albers haben den Schafstall erfasst und es konnten Archivalien zum Objekt ausgehoben werden.Die Frage nach dem möglichen Baujahr des Objektes beantworten Eitzen und Albers mit Informationen, die sie aus Gesprächen vor Ort gewonnen haben: „Der Eigentümer berichtet, daß an dem Grotdörgiebel [des Wohn-/Wirtschaftsgebäudes] lt. Überlieferung von seinem Vater 1614 als Baujahr gestanden habe.“ In Verbindung mit dem Gefüge des Schafstalls kann davon ausgegangen werden, dass er annähernd zeitgleich entstanden ist. Als Erbauungszeitraum ist demnach die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts anzunehmen. Für den heutigen denkmalfachlichen Umgang können diese Archivalien als wertvolle Quelle und Glücksfall bezeichnet werden, bilden sie doch den baulichen Zustand ante quem, also vor den verunklarenden Umbauten im Gefolge von Nutzungsverlust und -änderung ab. Ihre Abbildungen und Beschreibungstexte sind Hilfsmittel und Entscheidungsgrundlage für beispielsweise Rückführungen in frühere bauliche Zustände oder (Teil-)Rekonstruktionen.
Während der ersten gemeinsamen Besprechung mit den Eigentümern, den beauftragten Architekten vom Architekturbüro Rabeler, der zuständigen Denkmalschutzbehörde des Landkreises Lüneburg und dem Landesamt am 11. April 2018 herrschte wohl zunächst Ernüchterung und auch Erstaunen über die Arbeit der Denkmalpflege. Denn die Eigentümer planten eine Nutzungsänderung zum Hofladen. Aufgrund der gewonnenen umfangreichen Erkenntnisse entstand jedoch schnell ein ausgeprägtes Bewusstsein über den Wert und die Bedeutung des Objektes. So fanden die denkmalfachlichen Anforderungen Reparatur unter dem Primat des größtmöglichen Substanzerhaltes, Wahrung des Erscheinungsbildes und Rückführung in die belegte letzte Nutzungsphase als Schafstall in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Niederschlag in einer sensiblen und auf das Nötige beschränkten Planung. Dies war keine einfache Aufgabe, bedeuteten die denkmalfachlichen Anforderungen in der Praxis beispielsweise den Verzicht auf die Errichtung eines Schornsteins, die Wiedereindeckung in Reet und den Verzicht auf eine Innendämmung. Nach vorbildlicher Bestandsaufnahme mit zeichnerischer Schadenskartierung gelang es den Architekten, in Abstimmung mit den Bauherrn und der Denkmalschutzbehörde diese Herausforderung zu meistern: Ein, ungefähr die Hälfte der Grundfläche beanspruchender, eingestellter gedämmter, von den Außenwänden abgerückter temperierbarer Baukörper nimmt neben dem WC den Raum für Nebenarbeiten, Vor- und Zubereitung und den Tresen auf. Der verbleibende Raum wird von Regalen, Kühlschränken und einer Sitzmöglichkeit gefüllt. Die Nutzung und dieser folgend die Öffnungszeiten sind saisonal angepasst. Diese behutsame, dem Baudenkmal entsprechende Nutzung und deren architektonische Umsetzung wurden von mehreren Fördergebern honoriert: Von der Europäischen Union mit Mitteln aus ELER Kulturerbe mit einer Kofinanzierung des Landes Niedersachsen aus Landesmitteln der Denkmalpflege und von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz.
Dem Engagement aller Beteiligten aber vor allem der Eigentümer ist es zu verdanken, dass der Schafstall, als Repräsentant der Kulturlandschaft Lüneburger Heide und ihrer Besonderheiten und als selten gewordenes Objekt mit einer sinnvollen Nutzung in die Zukunft getragen wird und auch kommenden Generationen von den Lebens- und Wirtschaftsverhältnissen der Menschen in früheren Zeiten Zeugnis abzulegen vermag. An diesem Objekt ist es gelungen, Denkmalpflege als interdisziplinäre und gesamtgesellschaftliche Aufgabe erfolgreich wahrzunehmen.
Zum Weiterlesen:
Bomann, Wilhelm: Bäuerliches Hauswesen und Tagewerk im alten Niedersachsen. Weimar 1927.
Dörfler, Wolfgang / Klages, Ulrich / Turner, Hans-Joachim: Die Schafställe der Nordheide. Eine Bestandsaufnahme unter besonderer Berücksichtigung der Grenzgebiete zwischen den ehemaligen Stiften Bremen und Verden sowie dem Fürstentum Braunschweig-Lüneburg. Hannover 1994.
Eitzen, Gerhard: Bauernhausforschung in Deutschland. Gesammelte Aufsätze 1938 bis 1980, Heidenau 2006.
Engel, Friedrich: Schafställe, in: Durm, Josef et al.: Handbuch der Architektur, Teil 4, Halbbd. 3, Darmstadt 1884, S. 67-75.
heute: Landladen Rullstorf