Das sogenannte Sattelschwingdach auf dem Kunstgebäude in Bodenburg – zur Konstruktion eines Bogendachs von 1857
Von Eckart Rüsch
Unter den verbliebenen Wirtschaftsgebäuden der Vorburg von Schloss Bodenburg (Landkreis Hildesheim) fällt der wegen einer früheren Nutzung sogenannte Bullenstall – der heute als „Kunstgebäude“ genutzt wird – durch die Form seines ungewöhnlichen Bogendaches besonders auf. (Abb. 1) Es handelt es sich um ein lang gestrecktes Satteldach mit Außenabmessungen von rund 29 m auf 9 m und etwa 7,50 m Höhe, das keine wie üblich geraden, sondern gebogene Flächen aufweist. Die äußerliche Besonderheit der Dachform ist seit jeher bemerkt worden, was sich in ausgefallenen Benennungen spiegelte: Bei der Erfassung der Baudenkmale in Bodenburg 1984 wurde die Bezeichnung „geschweiftes Satteldach“ notiert und 1993 erfand der Hildesheimer Denkmalpflegeprofessor Martin Thumm den originellen und einprägsamen Begriff des „Sattelschwingdaches“. Diese Bezeichnungen stehen in einer Reihe von Wortschöpfungen, welche die oft unerkannten konstruktiven Zusammenhänge der Dächer durch Umschreibung der Form des Daches zu fassen versuchten.
Zuletzt glaubt man lange Zeit in Bodenburg als Konstruktion ein Bohlendach vor sich zu haben und datierte den Bau deswegen „um 1800“. Bei einer näheren Betrachtung, die der Verfasser ab dem Jahr 2011 vornehmen konnte, stellte sich heraus, dass dieses Dach aber ganz anders konstruiert worden ist. Am Ende der Untersuchung standen überraschenderweise ein neues Baujahr und neue Fragen. Der Fall ist daher auch ein Beispiel dafür, dass die Disziplinen Historische Bauforschung und Bautechnikgeschichte neue wissenschaftliche Erkenntnisse ergeben können.
Beschreibung der Dachkonstruktion
Im Gebäudeinnern des Bullenstalls zeigt sich ein relativ konventionelles Dachwerk auf einem Mauerwerks-Kniestock, das sich nur durch runde Bogensparren von vergleichbaren Scheunendächern unterscheidet. (Abb. 2, 3) Die Grundkonstruktion ist ein Kehlbalkendach auf doppelt stehendem Stuhl. Dabei werden die Sparrenpaare von Kehlbalken gegen seitliches Ausweichen gesichert. Die Länge der fast 9 m messenden Kehlbalken machte eine Unterstützung gegen Durchbiegung mit einem Stuhl erforderlich, der aus zwei Unterzügen und zwei Stützenreihen besteht. Jeder Bogensparren setzt sich zusammen aus drei etwa gleich langen, hölzernen Teilsparren, die zur jeweiligen Verlängerung und am First durch Scherzapfen verbunden sind. Die nur etwa 15 bis 20 cm kurzen Scherzapfen an den Verlängerungsverbindungen wären Knickstellen der Bogensparren, wenn sie nicht zusätzlich seitlich paarweise mit rund 1,20 m langen Eichenholz-Laschen gesichert worden wären (Abb. 4, 5). Seitliche Holzlaschen sind vor allem eine einfache Reparaturtechnik; in der Regel sind sie nachträglich angebrachte Konstruktionshilfen. Hier aber kann deren Anwendung nur ursprünglich, d.h. aus der Erbauungszeit sein: Die ungenügend verbundenen Sparren-Teilstücke wären ohne Laschen nach der Aufrichtung auseinander geknickt, das Bogendach wäre also bald eingestürzt.
Außer der technisch ungewöhnlichen Bildung der Bogensparren fällt im Dachwerk eine weitere merkwürdige Technik auf. Es ist die umfangreiche Verwendung von Metallbeschlägen, was von traditionellen Zimmerleuten eigentlich stets vermieden wurde. Sowohl die seitlichen Sparren-Anschlüsse der Kehlbalken, als auch die Verbindungen der Eichenlaschen auf den Bogensparren sind mit verschraubten Bolzen aus geschmiedetem Eisen gesichert. Offenbar befürchtete man an diesen Stellen gefährliche Zugkräfte und vertraute einer bloß konventionellen Holznagelsicherung nicht.
Die Bogenform machte weitere Sonderkonstruktionen am Dach gegen Niederschlagswasser und zur statischen Sicherung nötig. Oben ist der gedrückte Spitzbogen so flach, dass Wasser in den First eingedrungen wäre. Zur Vermeidung wurde eine Aufhöhung von etwa 75 cm gebildet, die aus einem auf dem First längs verlaufenden Fachwerkträger besteht. Außen kaschieren Aufschieblinge diese Aufhöhung. Unten am Fußpunkt stehen die Bogensparren senkrecht auf kurzen Balkenstummeln. Um die Niederschläge über die Mauerkante hinaus zu leiten, mussten auch an die Sparrenfüße Aufschieblinge angesetzt werden. Die konkaven Formen der Aufschieblinge oben und unten führen zusammen mit der konvexen Bogenform der Sparren zu dem eleganten Gegenschwung des Bodenburger Daches, der zum hier eingeführten originellen Begriff des Sattelschwingdaches führte. Die Längsaussteifung des Dachwerks übernimmt außer dem eingestellten Dachstuhl und den Längshölzern der Firstkonstruktion zusätzlich auch die vollflächige Dachschalung, die früher direkter Träger der Schieferdeckung war.
Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Dachkonstruktion uneinheitlich entstanden sei. Vielmehr sind alle 25 Gespärre und die zugehörigen Konstruktionshölzer mit durchgehenden Abbundzeichen versehen. Auch kann der Dachstuhl nicht nachträglich untergeschoben worden sein, weil einige Fußverbindungen des Bogendachwerks ohne Störung mit der Stuhlkonstruktion verbunden sind. Festzustellen ist also ein (bis auf die durch helles Neuholz klar erkennbaren Reparaturstellen der 1990er Jahre) einheitlich konstruiertes und vollständig erhaltenes historisches Dachwerk.
Zur Konstruktion von hölzernen Bogendächern
Für eine historische Einordnung des Bodenburger Dachwerks muss man sich vergegenwärtigen, dass Bogendächer stets etwas auffällig Besonderes waren und auch sein wollten und dass es verschiedene baukonstruktive Möglichkeiten gab, solche Dächer herzustellen. Bogenförmige Dächer hat es in der Baugeschichte immer wieder gegeben, vor allem für Kirchen- und Schlosskuppeln, also zur gestalterischen Auszeichnung besonderer Gebäudefunktionen. War aus Kostengründen ein Steingewölbe nicht möglich, suchte man Ersatz in Holzkonstruktionen, wobei die Herstellung hölzerner Bogendächer technisch nicht weniger kompliziert war. Im Wesentlichen kennt man zwei unterschiedliche Bauweisen hölzerne Bogendächer, die Bohlendächer und die Krummholzdächer.
Im 16. Jahrhundert erfand der französische Hofarchitekt Philibert de l’Orme eine Holzbauweise, welche es erlaubte, Bogendächer aus zusammen genagelten kurzen Bohlensegmenten herzustellen. Die im 18. Jahrhundert in Paris wieder entdeckte Erfindung wurde seit den 1790er Jahren von Berliner Baumeistern aufgegriffen und als klassisches Bohlendach weiter entwickelt. (Abb. 6) Ausgehend von Berlin war diese Bauweise bis in die 1820er Jahre in den deutschen Ländern und im angrenzenden Ausland relativ bekannt deshalb, weil der preußische Baubeamte und Akademielehrer David Gilly (1745-1808) sie als eine Holzsparbauweise propagierte und ab 1797 in zahlreichen Schriften dafür warb. Bohlendächer gründen ihre Besonderheit in der verwendeten Bohlenbauweise, die sich von anderen historischen Dachkonstruktionen unterscheidet, namentlich den Pfetten- und Sparren-Kehlbalken-Dächern. Die Gilly’schen Bohlenbauweise verbindet zwei Konstruktionsprinzipien (Abb. 7): Zunächst werden keine langen Vollhölzer, sondern kurze Bohlenstücke verwendet. In mehreren Lagen stehend sind sie mit versetzten Stößen so zusammengenagelt, dass lange Bohlensparren entstehen. Dann werden die Bohlensparren bogenförmig nach außen gekrümmt zugerichtet, so dass die Stöße wie beim Steingewölbe auf einen gemeinsamen Mittelpunkt zulaufen. Der Bohlenbogen soll frei gespannt ein drucksteifes Gespärre bilden, bei dem zusätzliche holzverbrauchende Queraussteifungen und stützende Stuhlkonstruktionen entfallen können.
David Gillys Fachpublikationen waren im In- und Ausland bekannt, so auch im Hannöverschen, wo 1804 ein Kollege die Konstruktion der Bohlendächer in zwei Zeitschriftenaufsätzen beschrieb. Gleichwohl sind im heutigen Niedersachsen nur wenige Bohlendächer errichtet worden; beispielsweise ab 1798 einige Salinenbauten in Lüneburg und im etwa 40 Kilometer von Bodenburg entfernten Pattensen das Dach auf der 1802 umgebauten Lukaskirche. In beiden Fällen ist überliefert, dass Gillys Schriften vorbildlich waren. Konstruktionsgeschichtlich gesehen waren die Bohlendächer allerdings eine Sackgasse innerhalb der Entwicklung weitgespannter Dachwerke. Denn handwerkliche Schwierigkeiten bei der Herstellung, folgende Bauschäden und schließlich ästhetische Vorbehalte führten dazu, dass seit den 1820er-Jahren kaum noch Bohlendächer entstanden.
Außer den Bohlendächern hat es noch eine andere ältere Konstruktionsweise für bogenförmige Holzdächer gegeben: Die in Nordwestdeutschland, England und in den Niederlanden verbreiteten sogenannten Krummholzdachwerke (auch Cruck- oder Krummspanndächer) sind deswegen aufwändig, weil dafür speziell bogenförmig gewachsene Hölzer, „Krümmelhölzer“, gesucht werden mussten. Die bogenförmige Besonderheit war allerdings im Äußeren selten erkennbar, weil man öfters gerade Sparren oder Aufschieblinge darüber legte. (Abb. 8) Krummholzdachwerke sind in Niedersachsen meist nur auf einfachen landwirtschaftlichen Gebäuden bekannt. Aufwändiger konstruiert sind große Krummholzkuppeln der Renaissance- und Barockzeit: Um die gewünschte, modisch-geschweifte Umrissform herzustellen, hatte man auch hier krumm gewachsene Sparren verwendet oder gerade Hölzer zurechtgesägt. Das räumlich nächste Beispiel hierfür ist die geschweifte Barockhaube auf dem Treppenturm von Schloss Bodenburg. Solche kurzen Krummsparren sind statisch nicht sehr anspruchsvoll, da sie nur sich selbst und die Dachdeckung zu tragen haben. Sie sind auch nicht frei gespannt, sondern lehnen sich gegen eine innere Stützkonstruktion.
Bemerkenswert ist schließlich eine sehr kleine Anzahl von herausragenden Bogendächern des 16. Jahrhunderts auf den Welfenschlössern in Gifhorn und Celle. Diese Tonnen- und Kuppeldächer bestehen nicht aus krumm gewachsenen Sparren, sondern ihre Sparren sind aufwändig bogenförmig zugesägt worden, um eine ästhetisch auffällige Dachform zu erzielen. Die Konstruktion der Verlängerungs-Verbindungen für die Sparren geschah in Gifhorn mit Hilfe von langen Blättern und Holznägeln, in Celle dagegen mit Zapfenverbindungen und Holznägeln.
Datierung des Bogendachs
Bei der historischen Einordnung des Bodenburger Bogendachs ist die Datierung entscheidend: Aus welcher Zeit genau stammt diese besondere Dachkonstruktion? Dankenswerterweise finanzierte der Kunstverein Bad Salzdetfurth im November 2011 eine dendrochronologische Altersbestimmung der Bauhölzer. Sie ergab eine klar datierbare Fällzeit der Bauhölzer im Herbst/Winter 1856/57. Eine willkommene historische Absicherung wäre, das Bauholz-Datum mit Archivalien zur Erbauung des Bullenstallgebäudes in Verbindung bringen zu können. Jedoch sind im Schlossarchiv Bodenburg bisher kaum Nachrichten zu diesem Bauwerk gefunden worden. Immerhin ist ein schematischer Lageplan des Schloss- und Wirtschaftshofes vom 9. Juli 1857 erhalten, auf dem der Bullenstall mit roten Strichen hervorgehoben und als „das neu zu erbauende Gebäude“ bezeichnet ist. Auf dieser doppelt abgesicherten Datierungsgrundlage kann man vom Neubau des gesamten Gebäudes, das einer noch unbekannten Wirtschaftsnutzung diente, Mitte 1857 ausgehen. Die Bauvorbereitungen begannen bereits im vorangegangenen Herbst/Winter, als das nötige Bauholz für das Dach eingeschlagen wurde.
Hypothesen zur historischen Einordnung
Die Datierung des Bodenburger Bullenstalls und seines Bogendachs auf 1857 wirft Fragen zur historischen Einordnung und Bedeutung auf. Das Dach ist in baukonstruktiver Hinsicht weder ein Bohlendach, noch ein typisches Krummholzdach. Eine Erklärung für die besondere Dachkonstruktion kann man in der gewollten äußerlichen Bogenform in Verbindung mit der Person des Auftraggebers suchen.
Rittergutsbesitzer auf Bodenburg war seinerzeit Bodo v. Steinberg (1819-1897), der letzte männliche Steinberg in Bodenburg. Bis zu seinem Rücktritt zum Jahreswechsel 1857/58 war v. Steinberg Diplomat für das Königreich Hannover. Seine Dienstorte waren die europäischen Hauptstädte Paris, Rom, Berlin, Brüssel, Dresden und zuletzt wieder Paris, nun im Range „eines außerordentlichen Abgesandten und bevollmächtigten Ministers“. Als Bodo v. Steinberg 1853 vom verstorbenen Vater die Herrschaft Bodenburg erbte, wird er sich in den ersten Jahren wegen seiner Auslandsaufenthalte wohl kaum intensiv und persönlich um die Wirtschaft vor Ort gekümmert haben. Solches war erst nach dem Abschied von Paris Anfang 1858 möglich. Zu diesem Zeitpunkt aber stand der später sogenannte Bullenstall bereits.
Solange Biographie und gutsherrliche Ambitionen des Auftraggebers ungeklärt sind, müssen Begründungsversuche für die besondere Dachform des Bullenstalls spekulativ bleiben. Einige Überlegungen liegen aber auf der Hand: Denn man darf annehmen, dass der weit gereiste Diplomat v. Steinberg in Paris oder Berlin die dort damals noch häufiger anzutreffenden, älteren Bohlendächer gesehen hat. Und wahrscheinlich ist ihm auch zu Ohren gekommen, dass man früher in Preußen mit dieser Dachform fortschrittliche Landwirtschaftsbetriebe in Verbindung brachte. So wäre eine Erklärungsmöglichkeit, dass Bodo v. Steinberg die auffällige Dachform deswegen auch daheim in Bodenburg für seine Gutswirtschaft sehen wollte und dies seinem Gutsverwalter ausrichtete. Weiter ginge die Überlegung damit, dass jedoch einheimische Zimmerleute die besondere Bohlenbauweise nicht beherrschten, so dass sie das bestellte Bogendach in herkömmlicher Bauweise nach Art der Krummholzdachwerke herstellten. Letztendlich muss man das Bodenburger Bogendach in eine kleine Reihe von Pseudo-Bohlendächern einreihen, welche die klassischen Bohlendächer der Zeit um 1800 in ihrer äußeren Form zu imitieren suchten.
Zum Weiterlesen:
Der sogenannte "Bullenstall" von Schloss Bodenburg im Denkmalatlas Niedersachsen.
Eine ausführliche Darstellung der bautechnikgeschichtlichen Untersuchung zum Bodenburger Dachwerk – mit allen wissenschaftlichen Nachweisen – können Interessierte hier nachlesen:
- Eckart Rüsch: Die Bogendachkonstruktion des sogenannten ‚Bullenstall‘-Gebäudes. In: Eine Arche für die Kunst. Das Kunstgebäude auf dem Schlosshof in Bodenburg. Hrsg. Stiftung Kunstgebäude Schlosshof Bodenburg. Hildesheim 2017, S. 48-63.
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