Das Sanatorium Dr. Barner in Braunlage/Harz
von Anke Fritzsch
Den Tag des offenen Denkmals 2012 eröffnete die niedersächsische Kulturministerin Prof. Dr. Johanna Wanka im Sanatorium Dr. Barner in Braunlage. Ein zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts geschaffenes Jugendstilensemble, dass 2010 in das Denkmalpflegeprogramm „National wertvolle Kulturdenkmäler“ des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) aufgenommen wurde. Ein bemerkenswerter Status für ein Bauwerk, das in den bauzeitlichen Periodika keinerlei Erwähnung fand. Aber vielleicht ist es mit einem Bauwerk ja wie mit einem guten Wein … und die „Anbaubedingungen“ in dem „klimatischen Gebirgs-Curort“ waren durchaus gut. In dem Wohn- und Logierhaus „Sonnenblick“ (Vorderhaus) fand der Hornburger Arzt und Lebensreformer Dr. Friedrich Barner 1899 die geeignete Keimzelle für sein „Rekonvaleszentenheim der besseren Stände“. Sein ganzheitlicher Therapieansatz für „die Müden, Abgespannten und die seelisch aus der Bahn Geworfenen“ zeigte rasch Erfolg. Nach dem Erwerb der benachbarten „Villa am Walde“ wuchs der Wunsch nach einem Neubau, mit dessen Realisierung er seinen Patienten und Freund Albin Müller 1910 beauftragte.
Albin Müller, der gelernte Tischler, Möbeldesigner und Innenarchitekt wurde 1906 an die Künstlerkolonie Mathildenhöhe berufen und erwarb sich mit seiner umfangreichen Bautätigkeit im Rahmen der Hessischen Landesausstellung in Darmstadt 1908 auch eine nationale Anerkennung als Architekt. Als Nachfolger Joseph Maria Olbrichs prägte er die Spätphase der Künstlerkolonie maßgebend.
Eine interessante Konstellation also, zwei erfolgreiche, selbstbewusste, bis an ihre Grenzen beanspruchte Geschäftsmänner, begaben sich in ein intensives Wechselspiel zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber. Ein Verhältnis, das man mit kleineren Baumaßnahmen, wieder Neugestaltung des Eingangsbereiches und des „Wartezimmer des Arztes“, bereits im Vorfeld erprobt hatte.
Basierend auf einem früheren Entwurf des hallensischen Architekten Th. Lehmann konzipierte Albin Müller einen dreigeschossigen, zweiflügeligen Neubau im Zentrum der Anlage, der die beiden Bestandsgebäude mittels ein- bzw. zweigeschossiger Gangbauten verbindet. Dabei nimmt der nach Südosten ausgerichtete Flügel neben den repräsentativen Gesellschaftsräumen im Hauptgeschoss die Küche im Souterrain und die Wohnung des Arztes im Obergeschoss auf. Die erforderlichen neuen Patientenzimmer sowie die Behandlungs- und Untersuchungszimmer sind in dem rückseitigen Flügel konzentriert. Für die Gestaltung der äußeren Hülle griff Albin Müller Motive der im sogenannten Schweizer Stil erbauten Bestandsvillen als verbindendes Element auf und inszenierte den wuchtigen Neubau inmitten der Schaufassade mit einer weit heruntergezogenen Dachfläche und dem fassadenübergreifenden hölzernen Zwerchhaus als eine „dritte Villa“.
Dem Bauherrenwunsch entsprechend, wurde im Herbst 1911 mit der Herstellung der Baugrube und dem „Aussprengen“ der Heizungskeller begonnen, ungeachtet dessen, dass es noch an baureifen Plänen und einer erfahrenen örtlichen Bauleitung fehlte. Die sich anschließenden Rohbauarbeiten beanspruchten das gesamte Folgejahr. Baubegleitend erstellte Albin Müller die Planung für den Innenausbau und die Ausstattung. So berichtete er Friedrich Barner im Januar 1913: „Ich bin heute mit den Entwürfen für die Möbel der Fremdenzimmer und mit den Zeichnungen für die eingebauten Schränke und Waschtische fertig geworden. [...] Ferner will ich nächste Woche noch einige Entwurfsskizzen der anderen Räume machen, so daß mit Ende der Woche schon allerhand zu sehen sein wird. Eine Besprechung ist dieserhalb und auch der weiteren Gestaltung der Bauführung wegen dringend nötig.“ Letztere hatten beide offensichtlich immer noch nicht klar definiert und verbindlich fixiert, denn angesichts der sich weiter verzögernden Rohbauarbeiten klagte Friedrich Barner im Mai 1913: „Meine Häuser sind diese Woche völlig besetzt; statt daß ich baldige Aussicht, neue Zimmer im Neubau zu belegen, gewinne, sehe ich mit tödlicher Sicherheit die Herstellung sich immer mehr verschleppen.[…] Es scheint mir so, als ob mein Neubau Ihnen sehr gleichgültig ist; daß es Ihnen einerlei ist, ob der Bau gefördert wird oder weiter mich viel an Geld und Arbeit kostet. [...] Sie selbst wollten bei Ihrer letzten Anwesenheit –es ist lange her – Alles klären und nicht eher arbeiten, bis Alles geklärt war. Ich persönlich habe damals nicht den Eindruck gewinnen können, daß dieser gewollte Zweck erfüllt war. […] Es fehlen Zeichnungen für den Musiksaal, für den Frühstückssaal, Zeichnungen, die eine wirkliche Ausführung ermöglichen und verdienen. Technische Ratschläge vermisse ich alle Tage: sie sollten mal sehen, wie mein wundervoller Frühstückssaal durch die breiten Anschlagsäulen für die Fenster verhäßlicht ist. […] Sie sollten nur an meiner Stelle fühlen, wie schwierig, zeitraubend und betrübend es ist, wenn ich – statt des Architekten – Estriche p.p. wählen muß, herumreisen muß, wie bei meinen Decken, und alles selbst wählen.[…] So kann es nicht weiter gehen: - entweder- oder.“
Deutliche Worte an den Auftragnehmer und vermutlich nicht ganz unberechtigt, wenn man Albin Müllers Jahresbilanz in seinem Dezemberbrief an Frau Toni Barner in diesem Kontext liest: „Zwölf große Bauten sind in diesem Jahre nach meinen Entwürfen der Vollendung entgegengeführt worden. Unendlich viel kunstgewerbliche Kleinarbeit wurde erledigt und zahlreiche Pläne für die Zukunft sind im Keimen!“
Doch ungeachtet der harschen Kritik hat Albin Müller mehr als 40 Patientenzimmer, das Vestibül, die zentrale Halle, den Musiksaal und die repräsentative Enfilade vom Wandelgang über das Damenzimmer den Blauen und den Grünen Speisesaal bis zum Wintergarten sowohl die feste als auch die bewegliche Ausstattung im Sinne eines Gesamtkunstwerkes entworfen. Virtuos verlieh er jedem dieser Räume durch die Wahl und Kombination ganz spezieller Materialien einen harmonischen Farbklang, einen ganz individuellen Charakter Formvollendet spielt er bei der Gestaltung jedes einzelnen Gegenstandes, von den Belägen für die Raumoberflächen über die einzelnen Möbel bis hin zum Tischgedeck auf der Klaviatur des Darmstädter Jugendstils. Allein für die Böden entwarf er zahlreiche verschiedene Inlaid-Linoleum-Fußbodenbeläge.
Wenngleich seine Grundrissdisposition nur bedingt überzeugt, gelang es dem Raumkünstler Albin Müller vortrefflich in der Tradition großbürgerlicher Ausstattungskultur eine Grand-Hotel-Atmosphäre zu schaffen.
Allerdings verzögerten sich auch die Ausbauarbeiten und der Unmut des Bauherren wuchs vor allem angesichts der stetig steigenden Baukosten. Die wiederholten Vorwürfe nahm Albin Müller im November 1914 nicht schweigend hin: „Bei der Ausführung habe ich außer einer anständigen Arbeit niemals etwas Überflüssiges oder gar unnützen Luxus vorgeschlagen. Im Gegenteil Sie selbst haben in den meisten Fällen Steigerungen herbeigeführt und kostspieligere Materialien gewählt. So haben Sie z.B. (um nur einiges herauszugreifen) statt der von mir vorgesehenen Ziegeleindeckung Schiefer genommen. Im Vestibül bestanden Sie auf Marmorausstattung, in der Diele aufpoliertem Birkenholz statt des von mir vorgeschlagenen hellen Eichenholzes. […] Man kann mir nicht vorwerfen daß durch mein Verschulden irgendetwas versäumt oder irgendeine Änderung notwendig geworden wäre. Dagegen ist gar manches verteuert worden durch Ihre nachträglichen Entschließungen und eigenmächtigen Anordnungen.“
Die Koalition Bauherr/Architekt litt sehr unter dem Gefühl beidseitiger Enttäuschung und Albin Müller bilanzierte: „Ist denn das so schlecht was ich gegeben habe oder zeigten meine Pläne technische oder künstlerische Fehler? – Ach, ich wünsche jetzt auch, diesen Bau lieber nicht übernommen zu haben. Er kostet mich viel, er kostet mich meinen letzten Freundschaftsglauben!“ Aber das Bündnis zerbrach nicht gänzlich, im Oktober 1916 lieferte Albin Müller den Entwurf für eine zweite Liegehalle. Erst der Tod von Friedrich Barner am 27.10.1926 beendete das zwanzigjährige Verhältnis Bauherr/Architekt.
Bei allem Verdruss gab es eine große Identifikation des Bauherren mit „seinem Neubau“ und seine Passion wurde prägend für die Generation seiner Kinder, Kindeskinder… Aus ihr erwuchs ein Traditionsbewusstsein und eine große Wertschätzung für das Überlieferte, so dass das Sanatorium bis heute ohne nennenswerte Eingriffe oder Veränderungen erhalten geblieben ist. Es „repräsentiert in einzigartiger Weise die vielfältigen Facetten der deutschen Reformbewegung im frühen 20. Jahrhundert und ist das einzige in seiner gestalterischen Ganzheit erhaltene Spätwerk des Darmstädter Jugendstils wie auch das einzig erhaltene Hauptwerk Albin Müllers. Typologisch ist das Sanatorium der letzte geschlossen überlieferte Vertreter eines Grand-Hotel-Sanatoriums auf deutschem Boden und damit ein prägnantes Zeugnis eines medizinhistorisch und gesellschaftlich signifikanten mitteleuropäischen Sonderphänomens.“
Allen „Gesundheitsreformen“ trotzend wurde und wird das Sanatorium als Klinik für Psychosomatik/Psychotherapie und Psychotraumatologie mit einem ganzheitlichen Behandlungsansatz betrieben. Mit dieser kontinuierlichen „Nutzungsgeschichte“ hat das Sanatorium noch eine zweite kulturgeschichtliche Bedeutungsebene aufzuweisen, ein vollständig erhaltenes Krankenblattarchiv. „Neben den Aufzeichnungen der Mediziner finden sich hier alle Patientenakten sowie die umfangreiche Korrespondenz mit Hausärzten, Angehörigen und Patienten. Es gibt keinen zweiten Ort in Deutschland, an dem die philosophischen und ganzheitlichen Konzepte, die einen wesentlichen Bestandteil der Medizin des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausmachen, in ähnlicher Form greifbar werden. Die Akten machen das Sanatorium Dr. Barner zu einem Ort, in dem sich die Sozialgeschichte und die politische Geschichte des ausgehenden Kaiserreichs und der Weimarer Republik spiegeln.“
Für den langfristigen Erhalt des Ensembles galt es nach 100 Jahren eine neue Konstellation zu finden. Formell wurde 2002 die „Stiftung Sanatorium Dr. Barner“ errichtet und 2008 das Eigentum an der Liegenschaft an diese übertragen. Personell bedurfte es einer neuen Bauherr-Architekt-Beziehung. Tradition oder Déjà-vu, basierend auf einer langjährigen freundschaftlichen Verbindung wurde David Chipperfield Architects 2007 mit der Erstellung eines „Denkmalpflegerischen Masterplans“ beauftragt.
Ziel dieses Planes war es, zum einen eine vollständige Übersicht über die erforderlichen Instandsetzungs- und Restaurierungsmaßnahmen zu erstellen, diese in eine denkmalpflegerische Gesamtkonzeption einzubinden, sie kostenseitig zu erfassen und sie nachvollziehbar in Übersichtsplänen darzustellen. Zum Anderen unter Berücksichtigung der heutigen Nutzungsanforderungen (Brandschutz, ...) eine strategische Konzeption zu entwickeln und eine Priorisierung bzw. Koordinierung der einzelnen Maßnahmen vorzuschlagen. Dieses Dokument war und ist die Grundlage einer nachhaltigen und effizienten Förderung durch die Zuwendungsgeber. Diese sind neben dem BKM das Land Niedersachsen vertreten durch das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege, die Europäische Union im Rahmen der ELER-Fonds sowie die Deutsche Stiftung Denkmalschutz.
Die Aufnahme des Sanatoriums Dr. Barner in das Denkmalpflegeprogramm des BKM ermöglichte die Umsetzung der ersten „Maßnahmenpakete“. In diesen wurden und werden die im Masterplan als „dringlich“ eingestuften Instandsetzungsmaßnahmen zu sinnvollen Bauabschnitten zusammengefasst. Die Größe der jeweiligen Bauabschnitte wird dabei sowohl von dem jährlichen Baubudget als auch der „Zumutbarkeitsgrenze für den Klinikbetrieb“ bestimmt. Die Maßnahmen selbst konzentrieren sich zuvorderst auf die Instandsetzung der äußeren Hülle, wobei es keine großflächige Erneuerung ganzer Bauteile im Stil der üblichen Sanierungsprojekte gibt, sondern es sind im Wesentlichen lokale Reparaturen, die entsprechend der Bestandswerktechnik behutsam und substanzschonend auszuführen sind. Ziel aller Reparaturen ist es, die Schadensursache zu beseitigen und den geschädigten Bereich konstruktiv und funktional zu ertüchtigen ohne dabei das historisch gewachsene Erscheinungsbild zu beeinträchtigen. Diese „charming old lady“ braucht eine Kur, kein Face Lifting.
Exemplarisch sei die Reparatur des Mittelhausdaches erwähnt. Die bauzeitliche Schieferdeckung des rückwärtigen Flügels wurde in den 1970er Jahren durch Faserzementplatten ersetzt. Infolge der defekten Dachentwässerungssysteme konzentrierten sich die Feuchteschäden im Traufbereich, die oberen Bereiche waren und sind intakt. Daher wurde im Rahmen der Fördermaßnahme 2010 lediglich der Dachbelag im Traufbereich aufgenommen, die geschädigten Konstruktionshölzer zimmermannsgerecht repariert, die Dachrinne inklusive Einhangblech und Fallrohr erneuert und der Traufstreifen im Sinne der Nachhaltigkeit entsprechend dem bauzeitlichen Bestand wieder mit Schiefer geschlossen. Präventiv wurde ein dezenter Schneefang montiert.
Die Planung und Umsetzung der partiellen Reparaturen bei laufendem Klinikbetrieb sind auch heute keine konfliktfreien Prozesse, aber das freundschaftliche Miteinander ist weiterhin tonbestimmend. Vielleicht weil die Parameter der Konstellation im Detail doch anders sind: Der Bauherr, natürlich ein Barner in der vierten Generation, Geschäftsführer der Klinik, ist kein Arzt, sondern ein sehr bestandskundiger Kunsthistoriker. Der Architekt, Direktor der Architektur-Biennale 2012 in Venedig, macht bereits mit deren Titel „Common Ground“ deutlich, dass es ihm nicht um Selbstdarstellung geht, sondern dass er die Herausforderung darin sieht, nachhaltig für die jeweilige Situation und Aufgabenstellung eine maßgeschneiderte, individuelle Lösung zu finden. Und schließlich ist sie nicht mehr ausschließlich eine Bilaterale. Die Koalition wird jetzt ergänzt durch eine sehr kompetente Stiftungskuratorin, durch die engagierte örtliche Bauleitung des Büros Ortsbild, durch das im Prozess stets konstruktive Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege und durch die umsichtig regulierende Oberfinanzdirektion Niedersachsen.
Das Sanatorium Dr. Barner in Braunlage/Harz im Denkmalatlas Niedersachsen
Der Text wurde erstmals veröffentlicht in den Berichten zur Denkmalpflege in Niedersachsen, 32. Jg. (2012), Heft 2, S. 230-234.