Das Parkhaus an der Osterstraße

von Sonja Olschner

Beinahe zeitgleich mit dem Sparkassengebäude in der Karmarschstraße verwirklichte der Architekt Heinz Wilke 1974–75 im Auftrag der Firma Union-Boden das Parkhaus an der Osterstraße, das zwischen schlichten Geschosswohnungsbauten der frühen Nachkriegsjahre und unscheinbaren Ge- schäftsbauten der folgenden Dekaden zu lokalisieren ist. Es schließt rückwärtig an den Gebäudekomplex der Landeszentralbank an und bietet straßenseitig Sichtkontakt zur Ruine der Aegidienkirche. Die Gliederung des Baukörpers resultiert aus einer Parallelverschiebung zweier sich überschneidender Gebäuderiegel in Längsrichtung, deren Stirnseiten dem Fahrradius folgend gerundet ausgebildet sind. Die südliche Stirnseite ist dabei in Annäherung an die Nachbarbebauung terrassenförmig gestaffelt. Infolge der Baukörperverschiebung ergeben sich qualifizierte Außenbereiche, die in Verbindung mit der öffentlichen Erdgeschossnutzung Aufenthaltsräume im Freien bieten – sogar mit Springbrunnen. Der für die Nutzungsqualität erforderliche Abstand zum Verkehrsraum wird über eine geringfügige Anhebung des Gebäudes um einen halben Meter über Straßenniveau erreicht, sodass der Bau über eine breit angelegte Freitreppe erschlossen ist. Volumina mit besonderen Nutzungen sind als Kuben in das aufgeständerte Erdgeschoss eingeschoben und als zurückliegender Dachaufsatz auf die Flachdachebene gestellt. Als deutliches Überraschungsmoment wird die expressive Auflösung der Längsfassaden in balkonartige, einzeln gegeneinander versetzte Loggien wahrgenommen.

Die für einen Verkehrsbau untypischen Bauelemente wie Freitreppen und Balkone entspringen dem Formenkanon entfernter Baugattungen, nämlich dem der Kultur- und Wohnungsbauten. Die bewusste Erhebung des Bauwerks über einem Sockel und die der Funktion geschuldeten, formvollendet gerundeten Stirnfassaden generieren das Bild einer Ikone der Modernen Architektur, des Solomon R. Guggenheim Museums in New York von Frank Lloyd Wright, das 1959 fertiggestellt wurde. Das Museum ist als sich nach unten verjüngende Spirale konzipiert, die das äußere Erscheinungsbild mit breiten Brüstungsbändern und schmalen Fensterschlitzen determiniert. Die für einen Museumsbau ungewöhnliche Ikonographie hat laut Jürgen Tietz „mit dem traditionellen Kunsttempel, der auf distanzierte Anschauung zielt, nichts mehr gemein. Stattdessen hebt Wright die Rampen und Spiralen von amerikanischen Tankstellen und Parkhäusern – Chiffren der Mobilität – in den Rang einer Kunstform (…)“ (Jürgen Tietz, S. 63).

Eine zeitgenössische Aufnahme des Fotografen Helmut Trexler kann als Bestätigung dieser thematischen Verschränkung interpretiert werden. Das stark ausschnitthafte Bild, aufgenommen von einer Parknische im Obergeschoss, leitet den Blick von den Diagonalen der Brüstungen und den gerundeten Stirnseiten der Parkebenen auf den Turm der Aegidienkirche und die Kuppel des Neuen Rathauses am rechten Bildrand. Mit visuellen Mitteln wird eine intuitive Verbindung zwischen dem rationellen Verkehrsbau und den symbolgeladenen Monumenten hergestellt, wobei die neue Zeitschicht aus dem Vordergrund über das Kriegsmahnmal der Kirchenruine auf die Überwindung des eklektischen Historismus im Hintergrund hindeutet. Die bewegt auskragenden Parknischen lassen interpretatorisch einen Bildvergleich mit dem großen Saal der 1952–57 erbauten Kölner Oper von Wilhelm Riphahn zu, dessen Logen ebenfalls als weit ausgreifende Balkone körperhaft in das Raumvolumen vordringen. Die stringente Fassadenzergliederung durch umlaufende Balkonplattformen wurde zu einem identifizierbaren Markenzeichen der 1959–64 von dem Amerikaner Bertrand Goldberg errichteten Chicagoer Wohntürme, den Marina City Towers (1959– 1964), deren gebautes Duplikat als Hotel im Augsburger Stadtpark zu sehen ist, 1970–72 realisiert vom Augsburger Architekturbüro Brockel + Müller.

Formal beruht die Auffächerung und Anordnung der auskragenden Parknischen des Parkhauses auf der Schrägaufstellung der Stellplätze im 60-Grad-Winkel und dem Fahrtrichtungswechsel in jedem Geschoss, der durch eine doppelläufige Wendelrampe ermöglicht wird. Mit der seriellen Stützenstellung im Rücksprung der Parkkojen wird die horizontale Ausdehnung der zur Straße orientierten Längsfassade vertikal aufgefangen. Das Unterbrechen des horizontalen Duktus durch vertikale Gliederungselemente bewirkt eine regelmäßige Rhythmisierung der Baumassen und stellt mit der dadurch beabsichtigten relativen Kleinteiligkeit einen maßstäblichen Bezug zu der umgebenden Bebauung her.

Die Plastizität der Baukörpergestaltung ist abgestimmt auf die Materialität der Fassaden, die von horizontal strukturierten Sichtbetonflächen dominiert werden. Den groben Betonoberflächen sind punktuell die braun getönten Acrylgläser der Stirnbrüstungen der Parkkojen sowie braun eloxierte Aluminiumelemente der Erd- und Dachgeschossfassaden gegenübergestellt. Die durchlaufenden Rundstützen der Fassaden bilden mit ihrer glatt geschalten, hell gestrichenen Oberfläche einen wirksamen Kontrapunkt. Der ursprünglich mit 334 Stellplätzen ausgestattete Baukomplex ist nicht nur auf das Parken von Automobilen beschränkt, sondern multifunktional ausgerichtet. Die Parkhausnutzung wird von einer Freizeitnutzung mit Bowling- und Kegelbahnen, Billardbereich, Bar und Gastraum im Untergeschoss, Läden und Gastronomie mit Küche im Erdgeschoss und Büronutzung im Staffelgeschoss flankiert. Die Innenausstattung, insbesondere die qualitätvolle Gestaltung der Bowlingbahn mit Bar und Gastronomiebereich, wurde von dem Planungsbüro Wilke in enger Zusammenarbeit mit Licht- und Möbeldesignern entworfen. Das Konzept für Werbeanlagen und Leitsystem gehörte ebenfalls vor dem Hintergrund eines schlüssigen Gesamtkonzepts zum Planungsumfang des Architekturbüros. Die mit dem Bauboom der 1960er- Jahre auf Wirtschaftlichkeit abzielenden Vorfertigungsmethoden in der Betonherstellung führten zu variantenreichen Elementserien für Fassadenfertigteile. Die Produktion flexibler Schalungsformen bildete die Grundlage für die Gestaltung unterschiedlichster Strukturbetonoberflächen, die durch elastisches (Strukturbeton, S. 74) Einschalen des Betons gefertigt wurden. Entsprechende Strukturschalungen und Strukturmatritzen wurden katalogisiert von der in Herne ansässigen Firma RECKLI angeboten, deren Design auf individuellen Entwürfen beruht. Neben Ziegel-, Kratzputz-, Brett- und Rautenmustern enthält der zeitgenössische Firmenkatalog auch unter der Musterbezeichnung Malta (Strukturbeton, S. 24) eine Strukturbetonoberfläche in Riffelstruktur, die mit Sandstrahlen und Abschlagen zwei Bearbeitungsmöglichkeiten aufzeigt. Die nachträgliche Manipulation bewirkt, dass der vermutlich als Zuschlagstoff verwendete, braunwertige Kies aus dem Aller-Urstromtal gestaltungsrelevant in Erscheinung tritt. Das Parkhaus präsentiert die handwerklich bearbeitete Oberfläche mit Brucheffekt (Strukturbeton, S. 24), die ein unverwechselbares Charakteristikum prominenter Bauten Heinz Wilkes darstellt, wie beispielsweise bei dem 1969 realisierten Landesarbeitsamt Niedersachsen-Bremen in Hannover, das 2015 einem Abbruch zum Opfer fiel. Die prägnante Oberflächenästhetik mit verstärktem Licht- und Schattenspiel weckt Assoziationen an Säulenkanneluren antiker Tempelarchitekturen, die bereits im Produktnamen des Schalungsherstellers anklingen.

Diese Art der texturierten Wandgestaltung setzte der amerikanische Architekt und Hochschullehrer Paul Rudolph ab den 1960er-Jahren in großem Stil bei seinen Projekten ein.  Beispielhaft sind das State Service Center in Boston, Massachusetts (1963–72), zu nennen, das typologisch Parallelen zu dem Baukörper der Sparkasse in Hannover aufweist, die ENDO-Laboratorien in Garden City, New York (1962–64), sowie das spektakuläre Art and Architecture Building der Universität Yale in New Haven, Connecticut (1958–63), das eine große Resonanz in der Fachöffentlichkeit auslöste. Unterstützt durch anfänglich euphorische Architekturkritik wurde Paul Rudolph somit international zum Vorbild einer Architektengeneration, die zu diesem Zeitpunkt eine bewusste Abgrenzung von den Dogmen der Klassischen Moderne suchte. Das Ergebnis des damaligen Paradigmenwechsels (Rüdiger P. Kühnle, S. 159 ff.) ist noch heute an dem, aus dem Mittelmaß herausragenden, innerstädtischen Bau des Parkhauses an der Osterstraße in Hannover abzulesen, das neben seiner Botschaft zu Konstruktionsmethodik und Materialverwendung generell Zeugnis über das Ringen der zweiten Nachkriegsgeneration um eine individuelle, sinnlichere Architektursprache ablegt, die sich jedoch formal nicht durchsetzen konnte. Insofern ist der gezeigte Bau wichtiger, noch weitgehend original existierender Zeitzeuge einer Bauepoche, deren zunehmender Drang zur Überschreitung konventioneller baulicher und konsensualisierter ästhetischer Maßstäbe das Phänomen des Scheiterns evozierte.

Positionsbestimmung

Die beispielgebenden Bauten aus Hannover, das Parkhaus an der Osterstraße und die Sparkasse an der Karmarschstraße, die dem Spannungsfeld funktionaler Klarheit und andeutungsweise metaphorischer Fassadenästhetik ausgesetzt sind, können der Zeitschicht der Spätmoderne zugeordnet werden. Deren dualistische Entwurfskonzepte gründen noch auf den universellen Prinzipien der Klassischen Moderne, zeigen aber zugleich eine Weiterentwicklung von der puristischen zu einer reichhaltigeren Architekturauffassung. Der aus der Moderne abgeleitete elitäre Anspruch an die Architektur bleibt jedoch weiterhin, auch wegen der fehlenden eigenen Bildsprache, erhalten. Es werden keine neuen Bedeutungsebenen übermittelt, wie dies für die doppelcodierte (Charles Jencks) Architektursprache der unmittelbar darauf folgenden Postmoderne symptomatisch ist. Dennoch sind die beiden Anschauungsobjekte nicht als Produkte nüchterner Banalität wahrzunehmen, da sich der beabsichtigte architektonische Ausdruck jeweils im präzise ausformulierten Detail mitteilt, das die Qualität des Ganzen begründet.



Zum Weiterlesen:

  • Das Parkhaus in der Osterstraße im Denkmalatlas Niedersachsen
  • 1960+ in Hannover im Denkmalatlas Niedersachsen
  • Jürgen Tietz: Architektur als Skulptur, in: Geschichte der Modernen Architektur, China 2008
  • Strukturbeton. ® RECKLI-Verfahren. Firmenkatalog RECKLI-KG, Wiemers u. Co., Herne
  • Rüdiger P. Kühnle: Große Erwartungen und die zweite Generation: Paradigmenwechsel I, 1958-65, in: Paul Rudolph und die zweite Generation der amerikanischen Moderne. Dissertation, Universität Stuttgart 2005
  • Charles Jencks: The Language of Post-Modern Architecture, London 1978

Der Text wurde erstmals veröffentlicht in den Berichten zur Denkmalpflege in Niedersachsen, 36. Jg. (2016), Heft 2, S. 137–141.

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