Der Nikolaifriedhof in Hannover – Zur Geschichte von Kapelle, Hospital und Kirchhof St. Nikolai
von Michael Heinrich Schormann
„Diese Ruhestätte an der heutigen Goseriede ist für den Forscher in jeder Hinsicht reich an Problemen. Der Anfang ist in Dunkel gehüllt.“ So begann Ludwig Wülcker 1936 seine Ausführungen zum Nikolaifriedhof im Rahmen eines kleinen Aufsatzes über die hannoverschen Friedhöfe. Und dieser Satz hat auch nach über einem dreiviertel Jahrhundert nichts von seiner Bedeutung eingebüßt. Wenn man sich heute erneut der Geschichte des Friedhofes zuwendet, dann muss an dieser Stelle zunächst festgehalten werden, dass wir im Grunde genommen den Friedhof nicht allein betrachten dürfen, sondern ihn stets in einem Ensemble, bestehend aus der Nikolaikapelle, dem Nikolaihospital und dem Nikolaifriedhof– einem kompletten Leprosorium also – betrachten müssen.
Streng genommen sollten wir den Nikolaifriedhof auch als Nikolaikirchhof bezeichnen. Das wurde auch über Jahrhunderte hinweg so gehandhabt, wenngleich auch häufig die Bezeichnung „Altstädter Kirchhof“ benutzt wurde. Erst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich die Bezeichnung Nikolaifriedhof in Wort und Schrift eingeschlichen.
Kirchhöfe waren geweihte Begräbnisstätten um die mittelalterlichen Kirchen herum. Im Hannover des Mittelalters und der frühen Neuzeit wurde in und um die drei Altstädter Kirchen St. Georgii et Jacobii, St. Aegidien und St. Crucis zur Erde bestattet. Darüber hinaus gab es auch im Franziskanerkloster Bestattungsmöglichkeiten und einen Kirchhof. Dasselbe galt für das Hospital zum Heiligen Geist, außerhalb der Stadtmauer für die Marienkapelle vor dem Aegidientor – und eben für das Nikolaihospital vor dem Steintor.
Eine Bestattung auf den Kirchhöfen war für die meisten Bürger im Mittelalter und der frühen Neuzeit der Regelfall, denn nach kanonischem Recht durfte im Inneren der Kirche eigentlich nur ein Märtyrer unter dem Hauptaltar, in der sogenannten „confessio“, bestattet werden. Gleichwohl wurde schon früh den adeligen Stiftern von Kirchen dieses Recht zugestanden. Später folgte in den Städten das stets um sein Seelenheil besorgte und daher sehr spendenwillige Bürgertum den adeligen Stiftern in dieser Berechtigung nach.
Der Grund dafür, dass Bestattungen innerhalb der Kirchen so beliebt und begehrt waren, liegt auf der Hand: Man wähnte sich am Tage der Wiederkunft des Herrn und Heilandes dem Geschehen unmittelbar anwesend und machte sich so Hoffnungen, zu den Auserwählten zu gehören. Die Folge davon war eine soziale Bestattungshierarchie. Wer es sich finanziell leisten konnte, ließ sich im Inneren der Kirche bestatten. Je dichter man mit seinem Grab an den Altar heranrücken wollte, desto teurer wurde die Grabstelle. Auf dem Kirchhof galt dieselbe Hierarchie. Je dichter zur Kirche, desto besser war die Grabstelle, galten doch nach kanonischem Recht, diejenigen Grabstellen, die die Mauern der Kirche berührten, mithin unter deren Traufe lagen, als in der Kirche bestattet.
Nach allem was wir wissen, war im Mittelalter das Platzangebot auf den hannoverschen Kirchhöfen und in den Kirchen auch für eine mit etwa 4.500 Einwohnern der Zahl nach eher geringen Stadtbevölkerung wohl begrenzt. Die Folge davon war eine sehr schnelle und häufige Wiederbelegung von Grabstätten. Hinzu kam ein erhöhter Platzbedarf zu Zeiten von Seuchen. Und mit dieser Feststellung gelangen wir unmittelbar zum Nikolaikirchhof. Im Mittelalter sahen sich die Menschen grundsätzlich mit zwei schweren Krankheiten konfrontiert: Pest und Lepra. In der Regel führte die Pest sehr schnell zum Tode des Infizierten. Die Pest, nach der Antike erstmals 1347 als „schwarzer Tod“ für Europa nachweisbar, trat in immer neuen Wellen auf und forderte enorm viel Menschenleben. Die Toten wurden in Massengräbern bestattet, häufig vor den Toren der Stadt, auf gesonderten Pestfriedhöfen. Die Lepra, auch als Aussatz bezeichnet, ist schon seit biblischen Zeiten bekannt. Sie gehörte zu den chronischen und unheilbaren Volkskrankheiten des Mittelalters und erreichte ihren Höhepunkt im 13. Jahrhundert.
Krankheitsübertragung durch Ansteckung war auch schon im Mittelalter bekannt. Von daher lag es nahe, von Lepra Betroffene abzusondern und möglichst am Betreten der Städte zu hindern. Zu diesem Zwecke wurden häufig vor den Toren Hospitäler, Kapellen und Friedhöfe angelegt um die Gefahr der Ansteckung zu verringern. Menschen die sich in diesen Einrichtungen um die Kranken kümmerten und nicht von ihr betroffen waren, standen nach der Meinung ihrer Zeitgenossen unter dem besonderen Schutz Gottes.
Die Insassen eines Leprahospitals bildeten „eine Art religiöser Genossenschaft, die zwar nicht als Orden, aber als Bruderschaft bezeichnet werden kann“. Die Insassen lebten nach einer eigenen Ordnung, wählten einen Leprosenmeister, wahrten Gleichheit in Kleidung und Nahrung und gelobten Gütergemeinschaft. Aussätzige besaßen schon seit dem frühen Mittelalter das Bettelrecht. Aus diesem Grunde wurden die Hospitäler an Hauptverkehrswegen angelegt, um das Betteln zu erleichtern.
Die Aussonderung der Leprakranken in den Hospitälern nahm Formen an, die für uns heute kaum verständlich erscheinen. Siegfried Reicke berichtet in seiner 1932 erschienen Arbeit „Das deutsche Spital und sein Recht im Mittelalter“ von folgender Praxis, die bis in das 16. und 17. Jahrhundert nachzuweisen ist:„… daß die Leprakranken bei ihrer Abtrennung von der bürgerlichen Welt und ihrer gleichzeitigen Einweisung in ein Siechenhospital wie bereits Verstorbene behandelt wurden. Nach ergangenem Entscheid über die Aussetzung las der Ortsgeistliche in Gegenwart der Gemeinde für den Aussätzigen in der Kirche eine Requiemmesse. Der Leprose hatte das mit anzuhören und lag dabei zuweilen, mit einem schwarzen Leichentuch bedeckt, auf einer Totenbahre. Priester und Kirchenvolk begleiteten sodann den Leprosen in einer Prozession zum Siechenhospital.“
Lepra- oder Leprosenhospitäler entstanden sicherlich seit dem Ende des 12. Jahrhunderts im Umfeld der Städte. Grundlage für die Entstehung der Einrichtungen bildeten die Beschlüsse des dritten Laterankonzils im Jahr 1179. Darin wurde ganz allgemein den kongregierten, d.h. den in Gemeinschaft lebenden Leprosen, gestattet, eigene Kapellen mit eigenen Priestern und eigenen Friedhöfe zu unterhalten. Aber auch die Absonderung der Leprakranken war von nun an verbindlich vorgeschrieben.
Aus Norddeutschland sind beispielsweise das Hamburger St. Georg Hospital von 1220, das Braunschweiger St. Leonhard Hospital von 1230, das Bremer St. Remberti Hospital von 1305 oder das Mindener St. Nikolai Hospital von 1325 zu nennen. Die Jahreszahlen beziehen sich stets auf die erste urkundliche Erwähnung, die Hospitäler an sich mögen durchaus noch älter sein.
Im 14. Jahrhundert war der Höhepunkt der Lepra bereits überschritten und bis zum Dreißigjährigen Krieg verschwand sie nahezu gänzlich aus Deutschland. Um noch einmal Siegfried Eicke zu Wort kommen zu lassen: „Mit mehr Recht als bei den anderen Spitälern kann man sagen, dass das Leprosenspital seinen Zweck erfüllt und den ihm gestellten besonderen Aufgaben gerecht geworden ist.“ Als Folge dieser Entwicklung veränderten sich die Leprosenhospitäler hin zu Altenheimen. Auffällig sind die unterschiedlichen Patrozinien der Leprosenkapellen. Zu erwarten wäre eigentlich eine Bennennung nach Lazarus. Beim Evangelisten Lukas ist in Kapitel 16, Verse 20-31 das Gleichnis vom armen Lazarus und dem reichen Mann überliefert. Lazarus, von Krankheit gezeichnet liegt vor der Tür des Reichen Mannes, Hunde lecken seine Schwären. Mit anderen Worten, Lazarus litt an Aussatz, an Lepra.
Und in der Tat wird in einer Bulle von Papst Benedikt IX. aus dem Jahre 1043 der später unter dem Namen „Hospitalischer Orden des Heiligen Lazarus von Jerusalem" noch heute bestehende, zunächst als monastischer, später dann als Ritterorden organisierte Betreiber eines Leprosenhospitals vor den Toren der Heiligen Stadt genannt. Die auch als „Lazariten“ bekannten Ordensmitglieder waren ab der Mitte des 13. Jahrhunderts unter anderem auch in Deutschland, Frankreich und England aktiv.
Hinsichtlich der Patrozinien bestanden in Norddeutschland andere Gepflogenheiten. Die für Schleswig-Holstein und Hamburg belegten 24 Leprosenhospitäler tragen alle den Namen des Heiligen Georgs. Für Niedersachsen sind 65 Hospitäler nachgewiesen, von denen zehn nach St. Georg und sieben nach St. Nikolaus benannt sind, gefolgt von einer bunten Liste mehr oder weniger bekannter Heiliger, darunter einmal Lazarus in Emden. Auch in Hannover gab es, wie eingangs bereits erwähnt, vor dem Steintor, dort wo sich die Straßen aus Bremen, Stade, Hamburg und Lüneburg trafen, ein Leprosenhospital. 1284 wird erstmals eine „capella leprosorum“ urkundlich erwähnt. In diesem Jahr genehmigte Bischof Volkwin von Minden die Abtrennung eines neuen Kirchspiels aus der Marktkirchenpfarre. Zur neuen Pfarre „St. Spiritus“ gehören der Nordteil der Altstadt, die nördlich von Hannover liegenden Dörfer Herrenhausen, Hainholz, Vahrenwald und List, sowie die „capella leprosorum extra muros“. Mithin gehörte dies alles vorher zur Marktkirche und ist demzufolge auch älter als 1284. Das Bestehen eines Leprosenhospitals kann für diese Zeit ebenfalls schon vorausgesetzt werden, denn ohne Hospital macht die Leprosenkapelle keinen Sinn.
1323 wird dann erstmals eine „capella sancti Nycolai“ urkundlich erwähnt und verschiedentlich ist angezweifelt worden, ob die „capella leprosorum“ und die „capella sancti Nycolai“ identisch sind, oder ob es sich um zwei verschiedene Kapellen handelt. Das Hospital St. Nicolai wird zwei Jahre später, im Jahre 1325 erstmals genannt. Und zu einem mittelalterlichen Hospital gehörte auch stets eine Kapelle, in der Regel unmittelbar mit dem Hospital baulich verbunden. Von einem dazugehörigen Kirchhof ist auszugehen, doch findet er in den schriftlichen Zeugnissen erst sehr spät Erwähnung. Der hannoversche Theologe und Chronist Heinrich Bünting berichtet in seiner ab 1584 erschienenen „Braunschweig-Lüneburgischen Chronik“, dass 1348 die Pest erstmals Hannover erreicht habe und vier Jahre in der Stadt wütete. Als Reaktion auf die vielen Toten sei der Nikolaikirchhof erstmals erweitert worden.
Dazu würde gut die erste schriftliche Erwähnung passen. Ein 1355 in Avignon ausgestellter Ablassbrief für die Nikolaikapelle spricht von „capellam sancti Nicolai episcopi extra muros ejusdem sepultorum“,also ganz allgemein von Bestattungen im Umfeld der Kapelle. Gänzlich unhaltbar ist die Meinung, dass der Friedhof schon gegen 1105 bestand, wie der Grabstein der Lucke Bekemann mit der römischen Jahreszahl MCV beweisen würde. Allein, hier liegt ein Lesefehler vor, denn der Steinmetz meinte das Jahr 1500.
Liegen die Anfänge des Nikolaikirchhofs im Dunkeln, sein Bestehen um oder vor 1300 ist anzunehmen, so ist seine Geschichte schnell erzählt. Anfangs war der Kirchhof wohl hauptsächlich für Verstorbenen des Hospitals bestimmt, ab 1284 aber auch für die Bewohner der Dörfer Herrenhausen, Hainholz, Vahrenwald und List. Auch an die Bestattung von Pestopfern ist zu denken. Vom Beginn des 15. Jahrhunderts an ist zunehmend mit der Bestattung von Bürgern aus der Stadt Hannover zu rechnen, war doch die Lage in der Stadt im wahrsten Sinne des Wortes beengt geworden –man musste die Toten hier „dicht gedrängt, oft ohne Särge oder in rasch zersetzenden Eichensärgen bestatten. “Während der Pest im Jahre 1428 wurden die Toten sogar auf freiem Felde, aber vermutlich immerhin im engeren Umfeld des Nikolaikirchhofes, bestattet. Während die Zahl der Leprakranken in diesen Jahrzehnten beständig abnahm, nahm die Zahl der Pestopfer beständig zu. Bürgermeister Anton von Berckhusen berichtet in seinen Aufzeichnungen, die Pest habe im Jahre 1566 „so gräulich rumoret…[und] der St. Nikolaifriedhof ward so voll begraben, dass kein Raum mehr war, man musste drei oder vier in eine Kuhle setten.“ Doch es sollte noch schlimmer kommen: 1598 wütete die Pest grausamer als zuvor. In der Folge „hat [man den Kirchhof] noch mal so groß gemacht und mit einer neuen Mauer nach dem Felde hinzu umzogen.“ Diese Erweiterung scheint auf Jahrzehnte hin ausreichend gewesen zu sein. Zudem wurden die Leichen häufig ohne Särge, nur mit Stroh umwickelt, bestattet. Im Dreißigjährigen Krieg gerät der Kirchhof mehrmals in das kriegerische Umfeld: Als am 23. Juli 1632 Dragoner des Grafen von Gronßfeld den Hannoveranern das Vieh rauben, wehren sich die aufgebrachten Bürger und es gibt zahlreiche Tote auf beiden Seiten. Eine Tafel in der Marktkirche nennt zum Gedächtnis die Namen der getöteten Hannoveraner. Am Ende des Krieges ist der Friedhof mit Soldaten, Pestopfern und den Toten der Stadt Hannover überfüllt. Als die Stadt bei der Regierung darauf hinwies, „das bereits mehr als 100 Tote auf freiem Felde beerdigt werden mussten“, genehmigte der Herzog eine neuerliche Erweiterung um zwei Morgen Fläche, die allerdings erst 1657 zur Ausführung gelangte.
80 Jahre nach dieser Erweiterung beschweren sich hannoversche Bürger über die, ihrer Meinung nach, unzumutbaren Zustände auf dem Kirchhof beim Rat mit den Worten: „Man könne die Leichen nicht mehr beerdigen ohne die halbverwesten Körper wieder aufzugraben. “Daraufhin bilden Rat und Regierung zunächst einmal eine Kommission, die nachlangwierigen Überlegungen beschließt, den Nikolaikirchhof nicht zu erweitern, sondern vor dem Aegidientor einen neuen Kirchhof anzulegen, den heutigen Gartenkirchhof. Er wird mit seinen knapp sechs Morgen als ausreichend angesehen, denn man rechnete seitens der Kommission damit, dass ein Morgen für 1.100 Tote reiche. Mithin war der Gartenkirchhof eine Investition für die Zukunft. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass bis in das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts hinein sowohl auf dem St. Nikolaikirchhof, auf dem Neustädter Andreasfriedhof am heutigen Conti-Hochhaus und auf dem Gartenkirchhof, aber auch immer noch auf den Kirchhöfen in der Stadt und in den Kirchen bestattet wurde. Spilcker berichtet, dass noch 1771 in den Kirchen bestattet wurde. So auch in der Nikolaikapelle, denn hier wurden nachweislich seit 1625 Grabstellen verkauft. Noch 1750 ließ der unmittelbar neben dem Nikolaikirchhof auf dem Posthof wohnende Postmeister v. Hinüber in der Kapelle eine eigene Prieche und ein Erbbegräbnis einrichten.
Noch zweimal, in den Jahren 1783 und 1824, wurde der Kirchhof erweitert, bevor er 1866 zu Gunsten des Neuen St. Nikolaifriedhofes an der Strangriede geschlossen wurde. Die Provisoren des St. Nikolaihospitals veräußerten den alten Nikolaikirchhof samt Kapelle im Jahre 1890 für 194.000 Mark an die Stadt Hannover. Das Geld benötigten sie dringend für den Neubau des Nikolaihospitals in der List. Zum Schutz der bedeutendsten Grabmale aus dem 16. und 17. Jahrhundert wurde 1906 auf dem Kirchhof nach Plänen des Architekten Otto Lüer ein Denkmalhof erbaut. Von Steinen des 15. Jahrhunderts sind durch den Chronisten Redecker die Bilder von zwei Grabmalen, einem Andachtsbild und einem Bildstock überliefert, die heute nicht mehr vorhanden sind. Aus dem 16. Jahrhundert sind durch Redecker 16 Grabmale bekannt, von denen bis vor kurzem noch sieben vorhanden waren.
Wie eingangs dargelegt gehören zum Leprosorium unmittelbar das Hospital und die Kapelle. Über die Lebensumstände der Hospitalbewohner im Mittelalter wissen wir nur allzu wenig. Neben den Leprakranken kamen hier ab 1354 auch zunehmend Pilger und Arme, die so genannten Prövener unter. Deren Zahl wurde 1402 auf 18 festgesetzt. Seitdem gilt für das Nikolaihospital die Dreiheit bestehend aus Siechen, Armen und Elenden. Möglicherweise kommt diese Dreiheit auch in den Baulichkeiten zum Ausdruck, wie sie uns Redecker in seiner Chronik überliefert. Er zeigt einen Backsteinbau mit hohen Rundbogenfenstern und spitzbogiger Pforte, daran anschließend einen Fachwerkbau mit hohen Rechteckfenstern und zum Schluss einen Fachwerkbau mit kleineren Fenstern. Ob der Backsteinbau derjenige ist, für dessen Bau Herzog Wilhelm im Jahre 1354 zwei Hausplätze schenkte, wissen wir nicht genau. Wir wissen auch nichts über sein Inneres, aber möglicherweise glich es dem Hotel Dieu in Beaune, das der burgundische Kanzler Nicolas Rolin im Jahre 1443 erbauen ließ. Es könnte sich mithin bei dem Backsteinbau durchaus um ein Siechenhaus mit einem Altar an der Ostwand gehandelt haben. Wiederum ist aber auch nicht ganz auszuschließen, dass es sich bei dem Backsteinbau um eine Kapelle handeln könnte, denn die urkundlichen Erwähnungen von 1284 und 1323 scheinen ja durchaus auf zwei Kapellen vor dem Steintor hinzuweisen: eine 1284 genannte „capella leprosorum“ einerseits und eine 1323 erwähnte „capella sancti Nycolai“ andererseits.
Neben diesem Gebäudetrakt gab es noch einige Wirtschaftsgebäude, die zum Hospital gehörten. Die gesamte Hofanlage stand etwa dort, wo sich heute das Gewerkschaftshaus erhebt. Diese ganze Anlage war zu Beginn des 18. Jahrhunderts baufällig und genügte wohl kaum noch den an sie gestellten Anforderungen, so dass sich die Provisoren zu einem Neubau entschlossen, der 1728/30 auf dem Südteil des Grundstückes, an der Stelle des heutigen Goseriedebades, entstand. 1857 erfuhr das barocke Hospital noch einmal eine Erweiterung um zwei Eckbauten, ehe es kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert abgerissen wurde. Die Zeit und die veränderten Umstände hatten in der List den heute noch bestehenden großen Gebäudekomplex erfordert. Dort haben sich – trotz Totalverlust eines ganzen Gebäudeflügels– von der Barockanlage die Figur des Hl. Nikolaus und die Steintafel mit der Gründungsinschrift erhalten. Auch über das Aussehen der ersten Nikolaikapelle, die nach den Grabungen von Plath in das 2. Drittel des 13. Jahrhunderts datiert wurde, wissen wir im Grunde nur durch den Grabungsbefund und eine Abbildung bei Redecker so viel, dass sie anfangs einen rechteckigen Grundriss hatte, der uns bekannte gotische Chor kam erst 1325 hinzu.
Bemerkenswert ist ein Vorfall aus dem Jahre 1533. Am Vorabend der Reformation in unserer Stadt drang aufgebrachtes Volk aus der Stadt nächtens in die Kapelle ein, zerstörte die vier Altäre und Bilder, verwüstete den Kirchhof und riss Kreuze von den Gräbern. Wir wissen nicht genau welcher Schaden dabei entstand, aber vielleicht haben die Frevler das silberne Kruzifix und die 14 Reliquien zerstört, die Bischof Hilmar von Orthosias im Jubeljahre 1400 der Kapelle vermacht und mit einem Ablas ausgestattet hatte, möglicherweise ließen die Täter ihre Wut aber auch an den Petrusbildern aus, deren Anbetung ebenfalls mit einem Ablas versehen war. Das anbetungswürdige Christusbild im Oratorium neben der Hauptpforte des Friedhofes, Bischof Konrad von Orthosias hatte es bereits 1369 mit einem Ablas von 40 Tagen ausgestattet, ließen sie wohl unangetastet, seine Spur verliert sich erst nach der Reformation. Zu dieser Zeit wurde der Kapelle dann auch der gotische Hochaltar der Aegidienkirche als Ersatz für den zerstörten Altar überwiesen.
Natürlich wurde die Kapelle weiterhin vom Hospital St. Nikolai genutzt, deren Provisoren sich auch um die Bauunterhaltung und Ausstattung kümmern mussten. So 1742 auf 43, als die Kapelle baufällig war. Zu diesem Zeitpunkt wurde das mittelalterliche Schiff größtenteils erneuert und die Kapelle erhielt die Saalform mit angehängtem gotischem Chor. Je mehr der Nikolaikirchhof durch die Bürger der Stadt genutzt wurde, desto mehr geriet die Kapelle von der Hospitalkapelle zur reinen Friedhofskapelle. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts feiern die Hospitalbewohner hier nur noch ihre Abendmahlsgottesdienste, im 19. Jahrhundert sogar nur noch einmal im Quartal. Dafür warten die Leichen manchmal tagelang bis zu ihrer Bestattung in der Kapelle.
Die Hainhölzer Gemeinde nutzte die Kapelle als Ausweichquartier während sie einen Kirchenneubau errichtete, bald darauf fand die neu gegründete Christuskirchengemeinde hier bis zur Fertigstellung der eigenen Kirche eine Heimstatt. Von 1873 bis zum ersten Weltkrieg diente sie der englischen Gemeinde als Gotteshaus, danach, bis zu ihrer Zerstörung vor 70 Jahren, in der Nacht vom 8. Auf den 9. Oktober 1943, den unterschiedlichsten freikirchlichen Gemeinschaften. Hannovers Stadtarchivar Herbert Mundhenke schrieb dazu im Jahre 1957: „Die Bomben der Schreckensnacht treffen die Kapelle schwer. Der Westteil wird völlig vernichtet, vom Ostteil bleibt der Chor mit einigen Mauerresten des Schiffes erhalten. Er wird nach dem Kriege restauriert und erfreut sich als das älteste Baudenkmal der Stadt besonderer Pflege. “ Ein Bild aus dem Jahr 1944 deutet allerdings daraufhin, dass die Kapelle nicht vollständig zerstört war, sondern nur ausgebrannt. Erst die durch Hillebrecht ausgeführten Straßenerweiterungen zerstörten die Kapelle grundlegend. Mundhenke hätte also mit seinen Worten die Zerstörungen der Nachkriegszeit den Bomben des Krieges „untergeschoben.“
Der Text wurde erstmals veröffentlicht in den Berichten zur Denkmalpflege in Niedersachsen, 33. Jg. (2013), Heft 4.