Das Kreishaus in Rotenburg (Wümme)

Von Jan Lubitz

Als das neue Kreishaus von Rotenburg am 30. Mai 1968 feierlich eingeweiht wird, schreiben Landrat Fricke und Oberkreisdirektor Janßen voller Stolz, es sei „ein Sinnbild unserer kommunalen Selbstverwaltung“. In einer Zeit entstanden, die von einer gesellschaftlichen Stimmungslage zwischen Aufbruchsgeist und Revolte beherrscht ist, setzt das neue Kreishaus architektonisch das Streben um, alte Autoritätsformen abzulegen und ein neues Verständnis vom Bauen für die Demokratie zu entwickeln. Anstelle eines hierarchisch strukturierten, Ehrfurcht erheischenden Amtsgebäudes entsteht in Rotenburg ein demütig wirkender, stark gegliederter Baukomplex als eine Komposition aus in der Höhe gestaffelten Baukörpern. Das umgebende Gartengelände des alten, noch aus dem 18. Jahrhundert stammenden Amtshauses wird zeitgleich nach Plänen des Hamburger Landschaftsarchitekten Günther Schulze als Amtshofpark neu gestaltet.

Für den Entwurf des Kreishauses zeichnet das Hamburger Architekturbüro Ingeborg & Friedrich Spengelin verantwortlich, die das Projekt gemeinsam mit ihrem Mitarbeiter Lothar Loewe ausführen. Friedrich Spengelin greift die zeitgenössische Stimmungslage auf, als er in seiner Ansprache zur Eröffnung des Kreishauses sagt: „Man debattiert zur Zeit – wohl nicht ohne Grund – über den Substanzverlust der Autorität in der parlamentarischen Demokratie“. Sein Gebäudeentwurf trägt dem mit einer offenen, breit angelegten Eingangszone Rechnung, die zugleich Durchgang in Richtung Innenstadt sowie Zugang in den Verwaltungsbereich auf der östlichen und in den Kreistagsbereich auf der westlichen Seite des Gebäudekomplexes ist. Zum ideellen Konzept, das dahinter steckt, schreibt Spengelin: „Ein wichtiges Element der Gestaltung, das die Offenheit des Gebäudes dem ganzen Kreis gegenüber ausdrücken soll, ist die Transparenz der Kontaktzone hier im Erdgeschoß. Der breite Durchgang mit seinen Freitreppen ist mehr als ein isoliertes architektonisches Motiv, es ist ein Schlüssel zum Entwurf“. So integriert sich das Gebäude in den Landschaftsraum der Wümme-Niederung, und lässt zugleich Regierende und Regierte auf Augenhöhe zusammenkommen.

In seinem Erscheinungsbild präsentiert sich das Kreishaus betont schlicht und funktional. Im Äußeren beherrschen große hellrote Backsteinflächen und horizontale Fensterbänder, hinter denen sich die Büroräume der Kreisverwaltung befinden, das Bild. Im Inneren treten dagegen Holz und Beton – vor allem im zentralen, skulptural gestalteten Treppenhaus – offen in den Vordergrund. Der Dreiklang dieser Materialien mit ihrer verschiedenartigen Farbigkeit und Haptik prägt den architektonischen Charakter des Gebäudes. Darin folgt der Bau Tendenzen des sogenannten Brutalismus, dessen Ideale mit plastisch strukturierten Entwürfen und unverkleidet in Erscheinung tretenden Baustoffen („Bèton brut“) auf eine sinnliche Erlebbarkeit von Architektur abzielen. Zeitgenössische Vorbilder wie die Unité d’Habitation in Marseille von 1952 oder das Kloster La Tourette von 1956, zwei Werke des renommierten Architekten Le Corbusier, oder auch Einflüsse von Bauten des britischen Architekten-Ehepaars Alison & Peter Smithson, spiegeln sich im Entwurf des Kreishauses an vielen Stellen wider. Ebenso sind Motive aus der skandinavischen Moderne, allen voran Alvar Aaltos Entwurf für das Rathaus in Säynätsalo von 1952, von der Großform bis in einzelne Details im Rotenburger Kreishaus zu entdecken.

Das Kreishaus und die Niedersächsischen Gebietsreformen

Als ein Neubau für die Landesverwaltung ist das Rotenburger Kreishaus ein Produkt der Niedersächsischen Gebietsreformen, die zwischen 1965 und 1978 konzipiert und durchgeführt werden. Das Land Niedersachsen war 1946 durch die Zusammenlegung der eigenständigen Länder des vormaligen Königreichs Hannover, des Herzogtums Braunschweig, des Großherzogtums Oldenburg und des Fürstentums Schaumburg-Lippe gebildet worden. Eine verwaltungstechnische Binnengliederung dieser Länder war bereits Ende des 19. Jahrhunderts durch die Preußische Kreisverfassung von 1885 geschaffen worden, mit der die bis dato bestehenden Ämter – unter anderem das Amt Rotenburg mit seinem 1742 nach Entwurf des Oberlandbaumeisters Otto Heinrich von Bonn errichteten Amtshaus – aufgelöst und in Kreise überführt wurden. Mit der Preußischen Kreisreform von 1932 und der daran angelehnten Oldenburger Kreisreform von 1933 wurden erstmals einige kleinere Kreise fusioniert, um größere Verwaltungseinheiten zu schaffen.

Bei der Gründung des Landes Niedersachsen 1946 übernahm man die bestehenden Verwaltungsstrukturen der vormaligen Länder, infolge dessen das neu geschaffene Bundesland 60 Landkreise und 16 kreisfreie Städte umfasste. Um eine Verringerung dieser Zahlen und damit eine Vereinfachung der Landesverwaltung zu erreichen, beauftragte der Niedersächsische Landtag 1965 den Göttinger Staatsrechtler Prof. Werner Weber mit einem Gutachten für eine Verwaltungs- und Gebietsreform. Auf der Grundlage der von der Weber-Kommission bis 1969 erarbeiteten Vorschläge wurde zunächst bis 1974 eine Gemeindereform vollzogen, bei der zahlreiche kleinere Ortschaften zu Samtgemeinden zusammengelegt wurden. Als zweiter Schritt erfolgte zwischen 1972 und 1977 eine Kreisreform, bei der etliche Landkreise aufgelöst oder fusioniert wurden. Dadurch reduzierte sich die Zahl der Landkreise von 60 auf 37, und die Zahl der kreisfreien Städte von 16 auf neun. Als letzter Schritt der Verwaltungsreformen kam es 1978 zur Zusammenlegung von Regierungsbezirken, deren Zahl von acht auf vier halbiert wurde.

Der Kreis Rotenburg, der 1885 durch eine Zusammenlegung des Amtes Rotenburg und der Gemeinde Fintel gebildet worden war, gehörte nach 1946 zu den kleineren Landkreisen in Niedersachsen – ebenso wie die benachbarten Kreise Bremervörde und Osterholz. Da nach Einsetzung der Weber-Kommission absehbar war, dass Rotenburg mit umgebenden Landkreisen vereinigt werden würde, begannen 1966 die Planungen zum Bau des Kreishauses. Auch in Bremervörde und Osterholz wurden zeitgleich neue Kreishäuser errichtet, mit denen alle drei Landkreise ihre Selbstständigkeit untermauern wollten. Nachdem in Rotenburg 1974 die Gemeindereform vollzogen worden war, durch die sich die Zahl der Gemeinden drastisch von 64 auf 21 reduzierte, kam es zum 1. August 1977 zur Fusion der Altkreise Rotenburg und Bremervörde. Der dadurch neu gebildete Landkreis Rotenburg (Wümme) bezog seinen Amtssitz im erst neun Jahre zuvor eingeweihten Rotenburger Kreishaus, während das gleich alte Kreishaus in Bremervörde als Nebenstelle der Landkreisverwaltung weiter in Diensten des Landkreises verblieb. Somit nahmen die Bautätigkeiten in den Altkreisen Rotenburg, Bremervörde und Osterholz – der seine Selbstständigkeit bewahren konnte – die Kreisreformen der 1970er Jahre vorweg. In den meisten anderen neu strukturierten Landkreisen Niedersachsens setzte dagegen schließlich ab den frühen 1980er Jahren eine rege Bautätigkeit ein, die den Neubau von 18 weiteren Kreishäusern zur Folge hatte.

Das Rotenburger Kreishaus als Baudenkmal

Seit 2023 wird das Rotenburger Kreishaus als Baudenkmal im Verzeichnis der Kulturdenkmale von Niedersachsen geführt. Es ist das bislang jüngste Objekt im Landkreis Rotenburg, das dort als Baudenkmal erkannt wurde. Neben seiner künstlerischen Bedeutung, die sich etwa in der plastischen Gebäudekonfiguration oder der zeitgenössischen Kunst am Bau manifestiert, sowie seiner städtebaulichen Bedeutung durch die behutsame Einfügung in den Landschaftsraum entlang der Wümme, sind es vor allem geschichtliche Aspekte, die ein öffentliches Interesse an der Erhaltung des Kreishauses begründen. Entstanden in einer Phase der Neuordnung der Verwaltungsstrukturen in Niedersachsen, dokumentiert es als Regierungs- und Verwaltungsgebäude des Landkreises einen wichtigen Abschnitt der jüngeren Landesgeschichte. Die Übersetzung der Bauaufgabe Kreishaus in eine zeitgemäße Architektursprache ist zudem von hoher baugeschichtlicher Bedeutung.

Die konzeptionellen und gestalterischen Qualitäten des Rotenburger Kreishauses wurden schon kurz nach der Fertigstellung erkannt. Als der Bund deutscher Architekten in Niedersachsen (BDA) 1976 erstmalig einen Architekturpreis für die seit 1946 im Lande errichteten Bauten verlieh, gehörte das Rotenburger Kreishaus zu den mit dieser Auszeichnung versehenen Objekten. Der BDA würdigte das Kreishaus: „In seiner klaren Gestalt und angenehmen Maßstäblichkeit, was die bauliche Dimension und ebenso die Einfügung in den Ort betrifft, ist der Bau ein wichtiger Beitrag zum Thema ‚Darstellung und Erscheinungsbild einer regionalen Verwaltung‘. Er setzt seinerseits Qualitätsmaßstäbe für alles weitere Bauen in der engeren und auch weiteren Umgebung.“ Eine im Treppenhaus in der obersten Etage angebrachte Plakette des BDA-Architekturpreises weist bis heute auf diese Auszeichnung hin.

Besonders das Thema des Bauens für einen demokratischen Staat war dem Architekten Friedrich Spengelin ein großes Anliegen. Eingeweiht am 30. Mai 1968, also in einem Jahr, das später zum Synonym einer breiten Bewegung wurde, die gegen erstarrte gesellschaftliche Strukturen revoltierte, führte Spengelin in seiner Ansprache zur Eröffnung des Rotenburger Kreishauses aus: „An der Art, wie sie baut, läßt sich der Geist ablesen, der eine Staatsform bildet. […] Der Bauherr und der Architekt haben sich hier bemüht, den Maßstab zu wahren, haben sich bemüht, den Menschen zum Maß der Dinge zu machen und das auszudrücken in Holz, Stein und Beton“. Das Leitbild „mehr Demokratie wagen“, das Willy Brandt nur ein Jahr später bei seinem Amtsantritt als deutscher Bundeskanzler postulierte, wurde in Rotenburg in beispielhafter Weise umgesetzt. Bis heute markiert das dortige Kreishaus in so selbstverständlicher Weise den Mittelpunkt der Landkreisverwaltung, dass es schon die Aufnahme ins Verzeichnis der Kulturdenkmale braucht, um die gleichermaßen geschichtlichen wie ästhetischen Qualitäten ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu rücken.

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