Die Wandmalereien von Julius Klingebiel in der Zelle Nr. 117 im ehemaligen Verwahrungshaus in Göttingen
Julius Klingebiel, am 11.12.1904 in Hannover geboren, wurde 1930 als gelernter Schlosser in Hannover bei der Wehrmacht im Proviantamt eingesetzt. Seine Ehefrau Luise schilderte, wie hart er dort von früh morgens bis spät abends arbeitete. Damals soll er einmal gestürzt und mit dem Hinterkopf auf Schienen aufgeschlagen sein, ein andermal sei ihm eine eiserne Kugel vor den Kopf geschlagen. 1939 wurde er durch Bedrohungen sowie innerfamiliäre Tätlichkeiten auffällig und „wegen Geistesgestörtheit“ festgenommen. Nach Angaben der polizeilichen Festnahmeanzeige gehörte er der Standarte Nr. 73, Sturmbann Nr. 4, Sturm Nr. 13 der SA an. Klingebiel wurde ohne Strafverfahren in die Nervenklinik Hannover eingewiesen, wo Ärzte eine wahnhafte Schizophrenie diagnostizierten. Von dort aus kam er in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf, wo er 1940 um Entlassung bat. Im Juli desselben Jahres wurde er zwangssterilisiert und im August als „gemeingefährlicher Geisteskranker“ in das Göttinger Landesverwahrungshaus verlegt. In diesem Zeitraum erfolgte in der Provinz das Meldeverfahren der Aktion T4, von der Klingebiel verschont blieb. Wie er überlebte und wo er bis zur Wiederinbetriebnahme des Verwahrungshauses um 1947 untergebracht war, ist nicht bekannt. Spätestens 1951 wurde er ohne rechtliche Grundlage in das Verwahrungshaus zurück verlegt. Dort begann er im selben Jahr die Wände seiner ca. 9,4 m2 großen Zelle zu bemalen. Ab 1960 erhielt er Neuroleptika, wirkte ruhiger und hörte auf zu malen. 1963 wurde er auf die „Hofstation“ des Landeskrankenhauses verlegt und musste dort mit vielen anderen Patienten auf engem Raum zusammen leben. Er starb am 26.5.1965 in der Universitätsklinik Göttingen.
Klingebiel zeichnete auf den Zellenwänden zuerst mit Materialien, die er beim Hofgang fand. Als sich zeigte, dass sich diese Betätigung positiv auf seine Psyche auswirkte, bekam er von der Leitung des Krankenhauses Blei-, Buntstifte und Farben, mit denen er die Wände lückenlos bemalte. Weil er einige seiner Malereien nicht fertig stellte, lässt sich seine Maltechnik nachvollziehen. Zuerst legte er Skizzen mit Bleistift an und führte dann seine Malereien mit Farben und Bundstiften aus. Er klebte auf seine Malereien auch Stückchen von dick bemaltem und metallbeschichtetem Papier, Pappe, Zeitungen, Filz und Metallauflagen. Einige seiner Malereien übermalte er partiell und auch vollständig.
Dank der Aufmerksamkeit von Ärzten und Pflegern wurde die Zelle nach Klingebiels Auszug, trotz der Nutzung des Gebäudes als Maßregelvollzugszentrum zur Unterbringung psychisch schwer erkrankter Patienten, nicht mehr dauerhaft belegt. Deshalb blieben die Malereien fast vollständig erhalten. Klingebiels Bilder der „outsider art“, sind historisch, künstlerisch und denkmalpflegerisch sehr bedeutend.
Literatur:
Klein, K.; Rüsch, E.: Die Klingebiel-Zelle im Festen Haus Göttingen – Vorbericht zu einer Gefängniszelle als Kulturdenkmal, In: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen, 4/2014.
Spengler, Andreas et al.: Die Klingebiel-Zelle, Leben und künstlerisches Schaffen eines Psychiatriepatienten, Göttingen, 2013.