Goldengel führen in den neuen Andachtsraum. Zur Umnutzung der ev.-luth. Kapelle in Duderstadt-Westerode
Einleitung
Gotteshäuser stellen einen der schönsten und oft auch ältesten Denkmalbestände dar, was ihrer zentralen Rolle in der vorsäkularen Gesellschaft entspricht. Doch seit Jahrzehnten ist die Bedeutung der Kirchen nicht mehr unangefochten, denn seitdem ihre Gemeinden kleiner und entsprechend die Kirchensteuereinnahmen geringer werden, wirkt sich dies auch auf ihren Baubestand aus: Zunehmend werden Kirchengebäude entwidmet, verkauft und umgenutzt, was damit auch zu einem Thema der Denkmalpflege wird. Sie muss sich mit weltlichen Nutzungskonzepten und dabei unvermeidlichen Verlusten auseinandersetzen.
Das Thema der Umnutzung historischer Gebäude ist alt und war immer schon ein Gegenstand der Denkmalpflege, die damit Abrisse abwenden und einen Fortbestand, wenn schon nicht der historischen Nutzung, so doch wenigstens der Gebäudehülle erreichen kann. Dabei ist die Umnutzung von Kirchengebäuden noch jedes Mal Aufsehen erregend und eine Herausforderung für alle Beteiligten. Ursache dafür sind selbstverständlich die besonderen Eigenschaften von Kirchengebäuden, d.h. ihre spirituelle Bedeutungsebene und in der Regel auch umfassende historische Ausstattungen und Zubehör zur Religionsausübung, also Altar, Kanzel, Glocken, Taufe, Gestühl usw.
Hier vorgestellt wird die Umnutzung einer Dorfkapelle bei Duderstadt im Landkreis Göttingen, bei deren Verkaufsabsicht das NLD frühzeitig 2016 eingeschaltet wurde. Das gab Gelegenheit zu einer eingehenden Beschäftigung mit der Baugeschichte und zur Bestimmung des Schutzumfangs für das Verkaufs-Exposé. 2017 fand sich eine kunstsinnige neue Eigentümerin und es kam glücklicherweise eine ähnliche Neunutzung zustande, die es erlaubt den ursprünglich kirchlichen Charakter weiter zu erleben.
Baugeschichte und Vorzustand
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der Anlass zum Bau einer evangelischen Dorfkapelle in Westerode im katholisch geprägten Eichsfeld die Zunahme der Dorfbevölkerung. Ursache war u. a. der das Dorf berührende Eisenbahnbau mit dadurch vermehrt evangelischen Einwohnern, die zunächst ihre Bibelstunden provisorisch in einem Gasthof abhielten. Mit Unterstützung des Landeskonsistoriums in Hannover fiel 1899 der Entschluss zu einem Kapellenneubau für 80 Sitzplätze und zum Ankauf einer engen Parzelle mitten im Dorf. Den Entwurfsauftrag erhielt Architekt Otto Bollweg (1857-1927) aus Hannover; die Ausführung besorgte die Maurerfirma Borchard aus Duderstadt. Die Grundsteinlegung erfolgte am 25. Juli 1900 und die Einweihung gut ein Jahr später am 4. August 1901. Die „Zeitung für’s Eichsfeld“ urteilte im Einweihungsbericht: „Das kleine Kirchlein macht auf den Beschauer trotz seiner beschränkten Größenverhältnisse einen prächtigen Eindruck; der rothe Verblendsteinbau mit schlankem Thurm gereicht dem Orte zur Zierde.“ Rund zwei Jahre später fand die Glockenweihung am 13. September 1903 statt. Die Gesamtkosten betrugen 8.925 Mark. Zur Einweihung stiftete Kaiserin Auguste Viktoria eine Bibel mit handgeschriebener Widmung (jetzt im Pfarrarchiv Duderstadt).
Dokumente aus der Planungs- und Bauzeit sind leider weitgehend verschollen. Jedoch befindet sich eine undatierte und unsignierte Blaupause im Stadtarchiv Hannover im Nachlass des Bollweg-Lehrers Conrad Wilhelm Hase, die kaum vom ausgeführten Kirchenbau abweicht. Außerdem sind im Pfarrarchiv Duderstadt Kostenschätzungen von 1899 und 1900 zum Ausführungsentwurf erhalten. Darin erfährt man zwar nichts über die Gründe zur Architektenauswahl, doch wird deutlich, dass ein Vorschlag der Landeskirche entscheidend war, denn am 7. Juni 1899 nahm Konsistorialbaumeister Karl Mohrmann (ebenfalls 1857-1927) gegenüber dem Konsistorium zu zwei Vorentwürfen Bollwegs positiv Stellung. Er betonte, dass „unter der kundigen Hand des Architekten (…) aus dem Betsaal eine ansprechende Kapelle und bei dem etwas größeren Plane mit geringem Mehraufwand ein kleines Kirchlein geworden (ist), das seine Bedeutung in anmutender Weise zum Ausdruck bringt ohne kleinlich zu werden. Die Arbeit erweist, wie richtig es war, die Aufgabe von vornherein einer berufenen Kraft anzuvertrauen. (…) Zum Zwecke der Ersparnis Vereinfachungen vorzunehmen, kann ich nicht empfehlen, da der Reiz der Entwürfe nicht durch besonderen Aufwand sondern das künstlerische Geschick des Entwerfenden erzielt ist.“
Entstanden war 1901 ein für dörfliche Verhältnisse ungewöhnlich kunstvoller Kapellenbau im neugotischen Stil. Der enge ideelle Zusammenhang zur sogenannten Hannoverschen Architekturschule mit deren Absicht zur Wiederbelebung mittelalterlicher Baukunst ist erkennbar und wird zudem mehrfach am Gebäude durch das Kennzeichen der „Bauhütte zum weißem Blatt“ dokumentiert.Die Kapelle ist genordet und liegt mit ihrer südlichen Turmfront an der dörflichen Hauptstraße, unfern der ähnlich ausgerichteten katholischen Kirche, die kurz zuvor 1899-1900 entstanden war. Vor der Kapelle liegt ein schmaler Vorplatz, der von einem bauzeitlichen Eisengitter mit Torflügel eingefriedet ist. Die Saalkirche mit eingezogenem Chor und vorgesetztem Turm zeigt in den Fassaden einen Backsteinbau mit Putzfelderungen auf einem Sockel aus Natursteinquadern. Sämtliche Bauformen nehmen stilistisch Anleihen an der norddeutschen Backsteingotik des Mittelalters. Die Gebäudeteile sind durch abweichende Detailformen voneinander unterschieden und jeweils plastisch reich gegliedert. Die Wände des Chors und der Seiten prägen mehrfach getreppte Einfassungen der Rundbogenfenster und gestufte Strebepfeiler. Die Dachdeckungen aus Doppelmuldenfalzziegeln und der Firstknauf auf dem Chordach dürften noch bauzeitlich sein. Der gedrungen wirkenden Glockenturm trägt einen Helm, der sich mit einer Abstufung nach oben verjüngt und als Laterne mit Schallluken ausgebildet ist. Auf der Turmspitze sitzt ein Knauf mit Wetterhahn. Die hölzernen Türflügel des Haupteingangs und zur Sakristei sind bauzeitlich erhalten und im Sturz des Hauptportals ist das Jahr der Fertigstellung „1901“ eingeschnitzt. Die Verglasungen der Spitzbogenfenster im Kirchenschiff, Chor und Turm sind mit wohl ebenfalls noch aus der Erbauungszeit stammenden Eisenrahmen ausgestattet, während die ursprüngliche Verglasung aus rautenförmigen Gläsern bei einer Instandsetzung von 1959 durch Rechteckscheiben ersetzt wurde.
Im Innern betritt man zunächst den Vorraum im Turmerdgeschoss und dann den kleinen Kapellenraum. Dessen Langhaus wird oben von einem offenen Holzdachwerk mit Zierbinder-Gespärren überfangen; der Chorraum zeigt ein massives Rippengewölbe. Eine Besonderheit des Grundrisses ist der seltene 4/6-Chorschluss, der außen einen Mittelstrebepfeiler und innen eine fensterlose Ecke in der Raummittelachse ausbildet. Aus der Erbauungszeit stammte der Plattenboden sowie die hölzerne Kirchenausstattung: ein kleiner Altartisch (Entwurf Christoph Hehl), ein Lesepult, eine Liedtafel, ein in zwei Blöcken auf Holzpodesten aufgestelltes Gestühl aus zweimal sieben Bänken (ursprünglich zweimal acht Bänke) sowie die Brüstung der Westempore, auf der ursprünglich eine kleine Orgel stand. Teile der Ausstattung waren von Architekt Bollweg im Kirchengerätehandel der Gebrüder Stoffregen in Hannover ausgewählt und zum Ankauf vorgeschlagen worden. Der ursprüngliche Leuchterkranz war schon 1982 nicht mehr vorhanden. Im Kirchturm hing zuletzt eine vom evangelischen Kirchenchor Duderstadt gestiftete und 1903 eingeweihte Glocke aus der Gießerei Gebrüder Ulrich in Laucha/Unstrut.Entwidmung, Verkauf und Umnutzung
Nachdem schon seit 1993 in der Kapelle keine regelmäßigen Gottesdienste mehr stattfanden, kam es im September 2016 zur Verkaufsausschreibung durch den Kirchenkreis Harzer Land und im April 2017 zur kirchlichen Entwidmung. Als Kaufinteressenten traten mehrere Bewerber auf, die eine Umnutzung zur Wohnung und/oder als Kunstatelier anstrebten, was erhebliche bauliche Eingriffe mit sich gebracht hätte. Ausgewählt wurde aber das Kaufangebot der Duderstädter Unternehmerin Gudrun Bernhard-Schmutzer, die zusammen mit ihrem Ehemann und Architekten Michael Schmutzer ein Konzept zu einem überkonfessionellen, spirituellen Raum der Stille vorlegte. Es sollte ein stets offener Ort der Begegnung ohne kommerziellen Hintergrund werden – ein ruhiger Platz zum Lesen, Nachdenken, für Gespräche und Meditation. Die Auswahl des mäzenatischen Projekts fiel nicht schwer; 2018 konnte der Kaufvertrag geschlossen werden. 2019 bis 2020 fand die Beseitigung der Bauschäden statt, wozu öffentliche Fördermittel aus dem ELER-Programm eingeworben wurden. Die Einweihung des täglich geöffneten Andachtsraums konnte im Juni 2020 gefeiert werden.
Im Ergebnis entstand eine im Außenbau instandgesetzte Kapelle, an der nur zwei Goldengel am Eingangsportal neu sind, die auf das Innere neugierig machen; sie stammen von dem Nürnberger Kunstprofessor Ottmar Hörl. Der Innenraum behielt trotz Umnutzung im Wesentlichen seine kirchliche Anmutung und damit auch einen Teil der Denkmalaussage bei. Im Gegensatz zu anderen Kirchenumnutzungen gab es keine Einbauten und keine Raumabtrennungen. Allerdings wurde die Kirchenausstattung empfindlich reduziert, so dass heute nur sechs Bänke (von ursprünglich 16 Bänken) erhalten sind. Eine auffällige Veränderung gegenüber dem Vorzustand ist der Ersatz des ursprünglich schlichten Mittelgang-Steinbodens durch nunmehr farbig gemusterte Steingutfliesen. Erhalten blieben Lesepult und Orgelempore. Die Dezimierung der Originalausstattung geht auf Kirchenvorschriften zurück, weil liturgisch genutzte Gegenstände nicht in profanierten Kirchen verbleiben sollen, um Missbrauch zu unterbinden. Das führte dazu, dass der Altartisch und die Glocke nicht mitverkauft werden durften, sondern an St. Servatius in Duderstadt als Mutterkirche gingen. Stattdessen steht nun zentral im Chorraum eine künstlerisch gestaltete Cortenstahl-Stele mit einer Kerze. Im hinteren Kapellenraum wurde eine Leseecke mit Gästebuch eingerichtet.
Würdigung
Die Instandsetzung und Umnutzung der Westeröder Kapelle zu einem überkonfessionellen Andachtsraum stellt eine Fortsetzung der Baugeschichte dar, die im Anschluss auch in der Denkmalbeschreibung des NLD im Denkmalinformationssystem ADABweb dokumentiert wurde. Die Besonderheit dieser Umnutzung ist der für einen Kirchenbau vergleichsweise behutsame Umgang mit dem Baudenkmal, was dem uneigennützigen Engagement der Bauherrin und ihres Architekten zu danken ist. So blieb der sakrale Charakter im Innern erlebbar und die Tradition der ursprünglichen Nutzung wird sinnvoll weitergeführt.
Zum Weiterlesen:
Die Kapelle Westerode im Denkmalatlas Niedersachsen
Einweihungsbericht, in: Zeitung für’s Eichsfeld, 7. August 1901, S. 3
Haase, Enno: Die Evangelischen in Duderstadt. Duderstadt 1984, S. 152f.
Ebeling, Hans-Heinrich et al.: Die Dorfgeschichte von Westerode, Duderstadt 1996, S. 72 f., 116Der Text wurde erstmals veröffentlicht in den Berichten zur Denkmalpflege in Niedersachsen, 43. Jg. (2023), Heft 1.