Der Heinemanhof in Hannover-Kirchrode
Von Katrin Bohley-Zittlau
Im hannoverschen Stadtteil Kirchrode kann man eines der späten Hauptwerke von Henry van de Velde bewundern, des belgischen Künstlers, Architekten und Wegbereiters der Moderne: den Heinemanhof. Das einstige jüdische Damenstift, das heute etwas abgelegen zwischen dem Südschnellweg und der Brabeckstraße liegt, ist 1929-30 im Auftrag der Minna-James-Heineman-Stiftung erbaut worden. Es lag auf freiem Felde und war umgeben von einer großen Park- und Gartenanlage, die der Hannoversche Gartenarchitekt Wilhelm Hübotter (1895-1976) in enger Zusammenarbeit mit van de Velde (1863-1957) entworfen hatte. Das langgestreckte Klinkergebäude, dessen Architektur sowohl in der Gesamtform als auch in den rhythmischen Gliederungselementen in Wechselwirkung zu den umgebenden Gartenanlagen stand, wird heute als überkonfessionelles Pflegezentrum für demenzkranke Menschen genutzt. Das einstige Heinemanstift ist als einziges erhaltenes Gebäude aus der späten Schaffenszeit Henry van de Veldes in Deutschland von herausragender architektur- und kunstgeschichtlicher Bedeutung. Durch seinen besonderen Stiftungszweck als Altersheim für jüdische Damen und die verheerende Entwicklung unter den Nationalsozialisten fällt dem Heinemanhof darüber hinaus eine besondere Erinnerungsfunktion innerhalb der deutschen Geschichte zu. Seit 2011 als Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung eingestuft, sind die zum Stift gehörenden Gebäude im Rahmen eines BKM-Denkmalpflegeprogramms zwischen 2011 und 2018 beispielhaft saniert worden.
Die Minna-James-Heineman-Stiftung ist 1928 von Dannie N. Heineman und seiner Frau Hettie in ihrem Heimatort Hannover gegründet worden und war seinen Eltern gewidmet – dem früh verstorbenen deutsch-amerikanischen Vater James und seiner aus Niedersachsen stammenden Mutter Minna, die 1867 nach Amerika ausgewandert, jedoch nach dem Tod ihres Ehemanns 1883 zusammen mit ihren beiden Söhnen nach Hannover zurückgekehrt und 1927 hier gestorben war. In der Stiftungsurkunde heißt es: „Zweck der Stiftung ist neben der steten Pflege des Andenkens der Mutter des Stifters ein ausschließlich mildtätiger. Zur Erfüllung dieses Zwecks soll nach dem Willen des Stifters älteren, bedürftigen, alleinstehenden Damen der gebildeten Stände, vorzugsweise jüdischen Glaubens und vorzugsweise aus der Stadt Hannover, in einem eigenen Stiftungsheim Wohnung und Verpflegung für ihren Lebensabend gewährt werden, und zwar in der Regel unentgeltlich“.
Dannie N. Heineman, der seit 1905 die Société Financière de Transports et d'Entreprises Industrielles in Brüssel leitete, hatte den renommierten belgischen Architekten Henry van de Velde mit Vorentwürfen für den Bau beauftragt. Schon im Frühjahr 1929 konnte auf einem 1928 erworbenen Grundstück inmitten des Agrarlandes zwischen Kirchrode und Bemerode mit den Bauarbeiten begonnen werden. Der Rohbau war im Herbst desselben Jahres fertig, die Einweihung fand am 1. Oktober 1930 statt. Die Bauleitung vor Ort hatte der Architekt Paul Kanold (1874-1946). Auch Heinemans Frau Hettie war am Gesamtentwurf sowie an der Planung in Brüssel maßgeblich beteiligt, kümmerte sich um die Aufsicht der Bauarbeiten in Hannover und wachte besonders über die Wohnqualität der einzelnen Appartements.
Zwei Torhäuschen flankieren an der Brabeckstraße bis heute die Einfahrt zum Heinemanhof. Die beiden zweigeschossigen kubischen Bauten dienten als Pförtner- bzw. Gärtnerwohnungen. Von hier führt die von einer Buchen- und Ahornallee begleitete Zufahrt zum Vorplatz des breit gelagerten, dreigeschossigen und mit einem Flachdach abgeschlossenen Hauptgebäudes, das ebenso wie die beiden Torhäuser mit handgestrichenen Ziegeln verblendet ist. Sie wurden eigens von der Maastrichter Belvedere-Ziegelei angefertigt. Der 15 Meter breite und 100 Meter lange Bau bildet einen lang gestreckten, in Ost-West-Richtung ausgerichteten Riegel, dessen plastisch gegliedertem Erscheinungsbild klare kubische Formen zugrunde liegen. Der Mittelteil der symmetrisch gegliederten Nordfassade wird durch schmale Fensterbänder horizontal gegliedert, während bei den seitlichen Risaliten durch schmal aufragende Treppenhausfenster die Vertikale betont wird. Der Mittelachse ist ein Eingangskubus mit doppelläufiger Rampe vorgelegt. Dahinter erstreckt sich das Entree, an das sich die Flure und die Empfangsräume mit Sekretariat und Garderobe anschließen. Gen Norden waren auch die Bade- und Bedienstetenräume untergebracht. Nördlich des Vorplatzes erstreckte sich der von Obstbäumen umgebene und geometrisch gegliederte Gemüsegarten mit Gewächshaus und Kleintierställen.
Ganz anders als die mit sparsamen Mitteln gegliederte Nordfront stellt sich die Südseite mit den Wohn- und Aufenthaltsräumen dar. Aus der Forderung des Bauherrn, dass jeder Balkon „offenen Himmel“ über sich haben und der Einblick auf andere Balkone vermieden werden sollte, schuf van de Velde eine rhythmisierte Fassade aus vorspringenden und polygonal abgeschrägten Formen mit optisch ruhigen Zwischenzonen. Hinter den gliedernden Erkern und Balkonen lagen in den Obergeschossen insgesamt 36 Appartements für die Bewohnerinnen, deren Ausstattung bis auf das Mobiliar der Wohnzimmer van de Velde eigens entworfen hatte. Sie bestanden jeweils aus einem Vorraum, einem dahinterliegenden Schlafzimmer und einem daneben angeordneten Wohnzimmer mit Balkon. Das Erdgeschoss beherbergte neben dem Entree auch die nach Süden ausgerichteten Gemeinschaftsräume wie Speise- und Bridgezimmer sowie einen Salon. Auch hierfür entwarf van de Velde die gesamte Innenausstattung – vom Parkett über Anrichtetische, Sessel, Stühle und Sofas bis zum offenen Kamin. Im Untergeschoss befanden sich Küche und Waschküche, Vorratskeller und Heizungsraum.
Die breite Südterrasse ist über rampenartige Stufenfolgen mit dem Garten verbunden und bildet den Übergang zum heute allenfalls fragmentarisch erhaltenen Parkgelände. Wie auf der Nordseite stand es zur Erbauungszeit in Wechselbeziehung zur Architektur und glich durch die Vielfalt an Gehölzen fast einem botanischen Garten. Er wurde von einem Hauptweg erschlossen, der am Geländerand verlief, in der Mitte befand sich eine große Rasenfläche. Die nördliche und die südliche Seite der Gartenanlage, die so unterschiedlich angelegt und genutzt waren, hatte Hübotter durch Beete und Ziersträucher verbunden, die sich seitlich des Hauptbaus erstreckten. Im Westen gab es zudem ein Wasserbassin mit Zierfischen und einen Rosengarten.
Bis 1941 lebten – einschließlich des Personals – rund 60 Personen im Heinemanhof. Die Stiftung war zunächst für amerikanisches Eigentum gehalten und deshalb nicht angetastet worden. Das änderte sich jedoch im September 1941, als Gebäude und Stiftungsvermögen auf Anordnung des Reichsinnenministers beschlagnahmt und entschädigungslos enteignet wurden. Die Stiftung wurde aufgelöst und das Damenstift in eines der 16 sogenannten „Judenhäuser" der Stadt Hannover umgewandelt. Es diente als Massenquartier für zwangsweise aus ihren Wohnungen vertriebene Hannoversche Juden und Sammelstelle zur Zwangsdeportation. Die Zahl der Insassen stieg innerhalb kürzester Zeit auf über 190 Menschen an. Das Heinemanstift war als letztes Gebäude in die Liste der „Judenhäuser“ aufgenommen worden und wurde als erstes wieder geräumt. Bereits Anfang Dezember waren alle Bewohner:innen nach Riga, Auschwitz oder Theresienstadt deportiert worden. Niemand von ihnen hat die Deportation überlebt.
Bis August 1942 nutzte die SS das Damenstift als Dienststelle, darauf übernahm die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt die Gebäude und brachte ein Altersheim darin unter. Von Oktober 1943 bis Mai 1945 diente es überwiegend als Hilfslazarett und Ausweichkrankenhaus, nach Kriegsende kamen britische Militärangehörige im Heinemanhof unter.
Am 12.8.1952 bestätigte die Stadt Hannover die Rückgabe des Heinemanhofs an die 1951 wieder errichtete Minna-James-Heineman-Stiftung. Vom eigens für das Damenstift entworfenen Inventar war nichts erhalten, wie ein 1958 erstelltes Gutachten belegte. Da die Stiftung den Schwerpunkt ihrer Förderung nach dem Zweiten Weltkrieg auf die internationale Verständigung und die Wissenschaftsförderung legte, verkaufte sie 1960 Gebäude und Grundstück an die Stadt Hannover mit der Auflage, dort wieder ein Altenheim einzurichten. Nachdem zunächst Obdachlosenwohnungen im Heinemanhof entstanden waren, wurde die Anlage seit 1968 wieder als Alters- und Pflegeheim genutzt. Das war nicht nur mit diversen Umbaumaßnahmen im Inneren des Hauptgebäudes verbunden, sondern auch mit dem Verkauf großer Grundstücksteile sowie der Errichtung eines Erweiterungsbaus nach Plänen des hannoverschen Architekten Georg Seewald, der Alt- und Neubau durch zwei eingeschossige Gänge miteinander verband. Seither hat sich der bauliche Zustand stets weiter verändert. Heute sind beide Gebäudeteile den Anforderungen an Pflegeheime für demenzkranke Menschen entsprechend ausgestattet. 2008 erfolgte der Anbau eines weiteren Flügels an das Seewald-Gebäude. Um die Westfassade des van-de-Velde-Baus wieder freizustellen, wurde zeitgleich einer der Verbindungsgänge aus den 1960er Jahren abgebrochen.
Durch die verschiedenen architektonischen Eingriffe und die Bebauung des einst großflächigen Geländes ist das gestalterische Gesamtkonzept van de Veldes und Hübotters heute nur noch rudimentär ablesbar. Trotz der verschiedenen Umbaumaßnahmen ist die grundsätzliche Innenstruktur des Heinemanhofs aber bis heute erhalten geblieben. Als zusätzliche Nutzung befindet sich im östlichen Teil des Souterrains des van-de-Velde-Gebäudes eine Kindertagesstätte, eines der Torhäuser wird als Hort genutzt. Das nördliche Torhaus ist zurzeit an die Hannoversche Musikschule vermietet.
Nachdem der Heinemanhof 2011 in das Denkmalpflegeprogramm der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) „National wertvolle Kulturdenkmäler“ aufgenommen worden war, begann eine umfassende Sanierung sowohl des Hauptgebäudes als auch der beiden Torhäuser mit dem Ziel, den bauzeitlichen Zustand der Außenfassaden so weit wie möglich wiederherzustellen. Das Hannoversche Architekturbüro woelk wilkens architekten übernahm in enger Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege und der Unteren Denkmalschutzbehörde der Stadt Hannover die Gesamtplanung und die Bauleitung. Dank nahezu jährlicher finanzieller Förderungen durch Bund und Land konnte die Sanierung der Fassaden 2018 abgeschlossen werden konnten. Ergänzt wurde die BKM-Maßnahme im Eingangsbereich und im Bereich der Flure durch eine Förderung aus Landesmitteln der Denkmalpflege. Da die Architektursprache des Heinemanhofs im Wesentlichen durch seine plastisch gegliederten Ziegelfassaden geprägt ist, war der Anspruch an die Ersatzziegel, ihre bauphysikalischen Eigenschaften und ihre optische Wirkung hoch. Rund 100 000 Handformziegel sowie viele Sonderformate sind speziell für die Fassadensanierung angefertigt worden. Ebenso prägend waren die ursprünglich schwarzen Fenster, die van de Velde auch an der Südseite einbauen ließ. Für ihre Rekonstruktion konnte auf einige bauzeitliche Fenster zurückgegriffen werden, die bei einer früheren Sanierung eingelagert worden waren. Sie versetzen den Heinemanhof zusammen mit der aufwändig sanierten Ziegelfassade in einen Zustand, der dem ursprünglichen Erscheinungsbild des einzigartigen van-de-Velde-Baus sehr nahekommt.
zum Weiterlesen:
Günther Stamm: Zur Architektur Henry van de Veldes. Das Heinemann-Stift in Hannover und Vorläuferbauten. In: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte, Bd. 11/1972, München und Berlin, S. 284–320
Andrea Volz: Henry van de Velde und der Heinemanhof in Hannover. In: Hannoversche Geschichtsblätter, Neue Folge 48 (1994), S. 1–45
Der Heinemanhof im Denkmalatlas Niedersachsen:
Gesamtanlage
Die Hauptgebäude
Torhaus 1 und Torhaus 2