Das Grätzelhaus in Göttingen

Von Frank Achhammer

Das von 1739 bis ca. 1750 von Johann Heinrich Grätzel für eigene Zwecke errichtete und nach ihm benannte Grätzelhaus gehört zu den städtebaulich prägendsten und architekturgeschichtlich bedeutendsten Baudenkmalen aus der Zeit kurz nach Gründung der Göttinger Universität. Es steht im westlichen Teil der Innenstadt an dem Punkt, wo die zum Bahnhof führende Goethe-Allee die Prinzenstraße verlängert und der von der Leine abgezweigte Mühlengraben (Leinekanal) kreuzt. Östlich bzw. südöstlich gegenüber vervollständigen das ebenfalls barocke Michaelishaus und Bauten der alten Universitätsbibliothek die platzartige Anlage. Anders als die jüngere, südwestliche Bebauung trägt auch ein südlich am Papendiek um 1775 errichteter Gartenpavillon positiv zum Bild des gewachsenen räumlichen Gefüges bei.

Das Grätzelhaus ist ein dreigeschossiger traufständiger, verputzter Fachwerkbau unter einem ausgebauten Mansarddach. Der Grundriss ist dem stumpfen Winkel zwischen Goethe-Allee und Mühlengraben angepasst. Die 16-achsige Hauptfassade ist symmetrisch gegliedert, die mittleren vier Achsen sind durch stärkeren Putzauftrag risalitartig betont und durch ein eingeschossiges Zwerchhaus mit Dreiecksgiebel erhöht. Zwei etwa lebensgroße Sandsteinfiguren flankieren den Giebel, sie stellen Pallas Athene (röm. Minerva) und Hermes (röm. Merkur) dar. Zwei aufgeputzte Kolossalpilaster rahmen den mittigen Haupteingang im Erdgeschoss. Er ist als Sandsteinportal mit reichem plastischem Schmuck ausgeführt. Hier tragen schräggestellte Doppelsäulen ein vasenbekröntes Gebälk, das eine Supraporte mit figürlichem und floralem Reliefschmuck rahmt. Das ursprünglich in der Art der Obergeschosse befensterte Erdgeschoss zeugt von mehreren Umnutzungen und Umbauten als Geschäftsraum und Gastronomie. Überraschend ist der Blick auf die rückwärtige, nördliche Traufseite, denn hier sind die mittleren 12 Achsen zurückversetzt, wodurch das räumliche Volumen des Gebäudes beträchtlich geringer ist als von der Straßenansicht aus erwartet. Hinzu kommt der ungewöhnliche Anblick von teilweise offenen, teilweise verglasten Laufgängen, die von flachen Korbbögen überfangen und mit kleinteiligen Holzbalustraden gesichert sind. Im Inneren befindet sich eine bauzeitliche Haupttreppe aus Eichenholz; neben der in den oberen Geschossen noch ablesbaren ursprünglichen Raumstruktur sind barocke Kamine, Türen und Fenster erhalten, darüber hinaus Stuckdecken aus verschiedenen Zeiten.

Als der in Dresden geborene Tuchfabrikant Johann Heinrich Grätzel (1691-1770) mit dem Bau seines neuen Wohnhauses begann, besaß er im Stadtgebiet bereits mehrere Walkmühlen- und Färbereigebäude und war seit Beginn seiner Selbständigkeit 1722 mit der Produktion von Kamelott zu ansehnlichem Wohlstand gelangt. Die Gründung der Universität 1734 änderte nicht nur das gesellschaftliche Leben in Göttingen; Universitätsbaumeister Joseph Schädeler (1692-1763) schuf mit dem Umbau der Gebäude des kurz nach der Reformation aufgelösten Dominikanerkonvents, dem Neubau eines Kollegienhauses sowie einem Gasthaus (Londonschänke, heute Michaelishaus) westlich des mittelalterlichen Siedlungskerns eine städtebauliche Keimzelle der 1737 eröffneten Georgia Augusta. Mit dem gleichzeitigen Bau der Allee und der Erschließung des umliegenden Gebietes versuchte man, dieses Quartier aufzuwerten, zusätzlich wurde private Bautätigkeit steuerlich gefördert. Grätzel ergriff die Gelegenheit und plante sein neues Domizil auf einem der nunmehr attraktivsten Grundstücke der Stadt. Sein Neubau orientiert sich im Grundaufbau zwar an den im 18. Jahrhundert regional üblichen, schmuckarmen Fachwerkbauten mit Zwerchhaus und Mansarddach, mit seinen Dekorationselementen erhebt er jedoch deutlich den Anspruch des seinerzeit repräsentativsten Privatgebäudes mit unmissverständlichen Anlehnungen an barocke Adelspaläste. Der kurfürstliche „Manufactur-Comissarius“ hatte sich, basierend auf seinem wirtschaftlichen Erfolg, schon früh um gesellschaftliche Anerkennung in der jungen Universitätsstadt bemüht. Dazu gehörte auch der Kauf einer wertvollen Fossiliensammlung, wofür ihn die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina 1738 zum Mitglied ernannte. Ein wohl kurz darauf angefertigtes, noch im Besitz der Familie befindliches Wachs-Porträt zeigt den stolzen Fabrikanten als Sammlungsbesitzer und Akademie-Mitglied. Die öffentliche Ausstellung seines „Naturalien-Cabinets“ gilt als das erste Museum der Stadt und war möglicherweise Grundstock der universitären paläontologischen Sammlung, leider ist es seit Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr nachweisbar. 1747 wurde Grätzel Mitglied der ersten Freimaurerloge in Göttingen; sein Wunsch nach Nobilitierung wurde postum vom Kaiser mit der Verleihung des Namens „Grätzel von Grätz“ gewährt. Das Bedürfnis nach repräsentativer Darstellung des Erbauers spiegelt sich im individuellen „decorum“ des barocken Wohnhauses in zwar zeittypischer, doch in einer für lokale Verhältnisse ungewöhnlich aufwändigen Weise mehrfach wider. Die Skulpturen seitlich des Giebels sind Allegorien für Wissenschaft und Handel, die Supraporte des Portals zeigt ein (wohl selbst erwähltes) Familienwappen neben dem Wappen der Leopoldina; aus den seitlichen Füllhörnern, Attribute der Göttin Fortuna, ergießen sich nicht nur die üblichen Früchte, sondern – das „Hobby“ des Hausherrn verkündend – auch Fossilien. Ebenso kurios ist die unklassische Anwendung der Säulenordnung mit den original kein Gesims tragenden Kolossalpilastern der Hauptfassade. Die charakteristischen, ursprünglich symmetrisch angeordneten Laufgänge findet man ähnlich zwar an herrschaftlichen Bauten der frühen Neuzeit, etwa an Schloss Blankenburg im Harz, für ein niedersächsisches Bürgerhaus des 18. Jahrhunderts sind sie aber mehr als ungewöhnlich, wenn nicht einzigartig.

Während des Siebenjährigen Krieges, in Abwesenheit der geflohenen Besitzer, residierte die französische Kommandantur im Grätzelhaus. Die Enkelgeneration der Familie, an die auch ein 1806 erbautes Mausoleum auf dem Weender Friedhof erinnert, geriet in finanzielle Schwierigkeiten und musste ab 1846 weite Teile des Wohnhauses vermieten, unter anderem war das Städtische Museum die ersten vier Jahre nach seiner Gründung 1889 im westlichen Erdgeschoss des Grätzelhauses untergebracht. 1891 wurde das Haus an den Inhaber der Pianofortefabrik W. Ritmüller & Sohn, Bernhard Schröder, verkauft. Er ließ 1893 im Erdgeschoss Verkaufsräume und das Café National einrichten sowie an der Rückseite einen sogenannten Ballsaal anbauen, zusätzlich wurde die rückwärtige Front mit den Laufgängen ostseitig um ca. 2,60 m nach außen verschoben. Große, teilweise erhaltene Fabrikgebäude wurden in zum Kanal offener Anlage um den rückwärtigen Garten gruppiert. Nach dem Verkauf 1899 eröffneten die neuen Eigentümer zusätzlich zum Café das Hotel National, das bis 1920 existierte. Im selben Jahr erwarb die Stadt Göttingen das Gebäude und brachte im ersten Obergeschoss verschiedene Ämter unter. Ab 1935 nutzte die 51. SS-Standarte den Sitzungssaal, den Friedrich Grätzel von Grätz (1776-1860) nach 1824 mit einer Pariser Bildtapete ausgestattet hatte. Teile davon werden seit 1963 im Städtischen Museum präsentiert. Von 1925 bis 1984 unterhielt die Musikalien- und Elektrohandlung Caspari einen Laden im Erdgeschoss, der sich zunächst nur im westlichen Teil befand. In der Folgezeit gab es hier sowie auf der Seite des „Stadtkaffees“ (seit 1928) diverse Veränderungen der Schaufensterfront. Der Laden dehnte sich zunächst ins erste Obergeschoss aus, was mehrere Deckendurchbrüche nach sich zog. Seit 1972 nutzte die Firma Caspari auch das östliche Erdgeschoss. Die deutliche Veränderung des Zwerchhausgiebels ist Folge eines Sturmschadens im Winter 1946/47, der 1950 eine Generalrenovierung unter Stadtbaurat Walther Krauspe nach sich zog. In diese Bauphase fällt u. a. auch ein weiterer Anbau an der Rückseite des Gebäudes.

Dem Gebäude ist heute nicht mehr anzusehen, dass es ab etwa Ende der 1980er Jahre massiv vom Verfall bedroht war. Der Leerstand im Erdgeschoss durch Aufgabe des Elektro-Fachgeschäftes 1986 sowie die Überbelegung der Obergeschosse durch Flüchtlinge brachte den damals stark sanierungsbedürftigen Fachwerkbau an seine Grenzen. Dieser Missstand wurde von den Göttingern stets aufmerksam beobachtet, Bauhistoriker verwiesen öffentlich auf die geschichtliche Bedeutung, Denkmalpfleger meldeten dringenden Handlungsbedarf. Seitens der Stadt und der Universität wurden bauforscherische Untersuchungen durchgeführt und denkmalpflegerische Konzepte erstellt. Ab 1995 stand das Gebäude komplett leer, was der Erhaltung nicht förderlich war, wie ein Schwammbefall an der barocken Treppe zeigte. Der rückwärtige Ballsaal war schon 1990 diesem Problem zum Opfer gefallen. Zahlreiche Pläne zur Sanierung des Grätzelhauses, u. a. als Hotelanlage unter Einbeziehung der rückwärtigen ehemaligen Fabrikgebäude, scheiterten. Der stadteigenen Gesellschaft für Wirtschaftsförderung gelang es 1996 schließlich, im Rahmen eines Investorenwettbewerbs Göttinger Unternehmer zu finden, die das Haus für einen symbolischen Preis erhielten und sich dafür zu einer denkmalgerechten Behandlung verpflichteten. Um diese sicherzustellen, wurde im Vorfeld eine weitere Dokumentation der historischen Substanz in Form eines Raumbuchs erstellt, zudem wurde die von 1997-1999 dauernde Maßnahme von der Unteren Denkmalschutzbehörde Göttingen und dem zuständigen Konservator der Bezirksregierung Braunschweig intensiv betreut. Das Erdgeschoss wurde unter größtmöglicher Bewahrung noch vorhandener historischer Substanz für zwei gastronomische Betriebe ausgebaut, ihre neuen Fassaden integrieren Teile aus der Zeit um 1900 und berücksichtigen die ursprüngliche Kleinteiligkeit und Proportion. In den Obergeschossen bot man neben Wohnraum auch eine Nutzung durch Arztpraxen an; um zusätzlich barrierefreie Behandlungsräume zu schaffen, wurde ein unauffälliger eingeschossiger Nebenbau auf dem rückwärtigen Grundstück errichtet. Die Außenfarbigkeit des Putzes und der Fenster wurde nach Befund wiederhergestellt; Restaurierungsmaßnahmen wurden u. a. an den Stuckdecken, Skulpturen, Balustraden, Kamine und Fenster durchgeführt. Besonders seltene und wertvolle Ausstattungsteile sind fünf erhaltene barocke Kreuzstock-Hebefenster, die in der Werkstatt der Fachhochschule Hildesheim aufwändig restauriert wurden.

Nirgendwo lässt sich die älteste mit der Gründung der Georg-August-Universität verbundene bauliche Entwicklung Göttingens heute besser ablesen, als an der Brücke über den Leinekanal, wo die aus dem Zentrum kommende Prinzenstraße auf die zum Bahnhof führende Goethe-Allee trifft und die Verlängerung des Papendiecks in Richtung Waageplatz führt. Südöstlich dieser Kreuzung zwischen Paulinerstraße und Prinzenstraße gruppieren sich weiträumig historische Universitätsbauten um die mittelalterliche, 1808-1812 zur Bibliothek umgebaute Paulinerkirche. Das Kirchengebäude und die Neubebauung des zugehörigen, bereits im 16. Jahrhundert säkularisierten Klosterareals bildeten im 18. Jahrhundert die Basis universitärer Bautätigkeit. Durch die Entfestigung der Stadt nach Ende des Siebenjährigen Krieges öffnete sich die Goethe-Allee mit dem Walldurchbruch auch nach Westen. Eine weitere, bis heute bestehende Aufwertung bekam sie, als sie die Hauptverbindungsachse zum Empfangsgebäude der 1854 eröffneten Hannöverschen Südbahn wurde. Neben seiner Bedeutung für Architekturgeschichte ist das ehemalige Wohnhaus eines der bedeutendsten Honoratioren der Stadt nicht nur Zeugnis der ersten Jahre des Bestehens der Universität, sondern auch der vor- und frühindustriellen Wirtschaftsgeschichte Göttingens. Zusammen mit wenigen anderen historischen Gebäuden der Stadt stand der Barockbau an der Goethe-Allee bereits 1931 auf der Liste eines „Statuts zum Schutz vor Verunstaltung“; heute fehlt er bei keiner Aufzählung bedeutender Architektur, die es in der Stadt zu besichtigen lohnt. Die Rettung des Grätzelhauses ist das vorzeigbare Ergebnis eines über mehrere Jahre gehenden privaten und öffentlichen Engagements zahlreicher Beteiligter. Vielleicht kann seine Geschichte Ansporn und Ideen zur Lösung aktueller, teilweise gar nicht allzu weit entfernter Probleme liefern.

 

Zum Weiterlesen:

Achhammer, Frank / Schwager, Bärbel: Das Grätzelhaus in Göttingen – ein bedrohtes Baudenkmal. In: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen. Jg. 14, Heft 1, 1994, S. 16-20

Arndt, Karl: Das Graetzelhaus in Göttingen [Leserbrief an das Göttinger Tageblatt]. In: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen. Jg. 8, Heft 1, 1988, S. 72

 Beer, Günther: „Nachbleibsel der Sündfluth“. Das „Naturalien-Cabinet“ des Göttinger Tuchfabrikanten Johann Heinrich Grätzel, das erste Museum Göttingens 1737. In: Göttinger Jahrbuch, Band 56 (2008), S. 171-189

Koch, Diether, Das Göttinger Honoratiorentum vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung der ersten Göttinger Unternehmer (Veröff. der Historischen Kommission für Niedersachsen 24, Untersuchungen zur Ständegeschichte Niedersachsens, Heft 1), Göttingen 1958

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