Neandertaler in der Einhornhöhle
Die Einhornhöhle bei Scharzfeld im Südwestharz hat bereits seit Jahrhunderten die Aufmerksamkeit von Schatzsuchern und Wissenschaftlern erregt. Ihren ungewöhnlichen Namen verdankt sie dem Umstand, dass hier seit dem Mittelalter immer wieder Knochen gefunden und ausgegraben wurden, die dem Einhorn zugeordnet wurden. Dass sich eine solche Schatzsuche durchaus lohnte, bestätigt der damalige Handel mit diesen Knochen. Apotheken verkauften die vermeintlichen Einhornknochen (Unicornu verum) zu medizinischen Zwecken an ihre Kunden. Auch heutzutage gibt es noch etliche Einhornapotheken.
Der erste Schritt in Richtung Erforschung der Höhle folgte im 17. Jahrhundert u.a. durch Gottfried Wilhelm Leibniz, der die Höhle 1685 aufsuchte und in sein 1749 erschienenes Buch PROTOGAEA die berühmte Einhorn-Zeichnung nach einer Vorlage Otto von Guerickes aufnahm. Seit dieser Zeit hat die Höhle auch ihren endgültigen Namen. Eine „lebensechte“ Holzkopie des Leibniz-Einhorns findet sich vor dem heutigen Eingang zur Höhle.
Auch für Goethe war es 1784 ein Muss, die Höhle auf seinen geognostischen Harztouren aufzusuchen. Um die Wende des 18./19. Jahrhunderts begann die erste Phase einer systematischen wissenschaftlichen Erforschung der Einhornhöhle. Schon 1734 nahm der Wolfenbütteler Gelehrte Brückmann erste Fossilbestimmungen vor. Cuvier (Paris) und Blumenbach (Göttingen), beide Wirbeltierpaläontologen und Kenner der Höhle, verwiesen das Einhorn dann endgültig in das Reich der Fabelwesen.
Der weithin bekannte Berliner Arzt, Pathologe, Anatom, Anthropologe und Prähistoriker Rudolf Virchow leitete 1882 die archäologische Erforschung der Einhornhöhle mit ein. Er wollte hier – ähnlich wie Fuhlrott im Neandertal - den diluvialen Menschen nachweisen, was ihm aber nicht gelang. Bei nachfolgenden Grabungen wurden vor allem in der Blauen Grotte Artefakte und menschliche Knochenreste gefunden, die eine Nutzung der Einhornhöhle seit dem Neolithikum belegen.
Jacob-Friesen, langjähriger Direktor des Provinzialmuseums (heute Landesmuseum) Hannover, setzte 1925/26 die Erforschung der Einhornhöhle fort. Sein Ziel war das Auffinden verschütteter Höhlenzugänge verbunden mit dem Nachweis der Altsteinzeit. Zwar legte Jacob-Friesen einen neuen Nebengang frei, der später sogar nach ihm benannt wurde, jedoch fand er nach nur zwei Höhlenbärenknochen erst am Ende des Ganges eine Vielzahl an Knochen vorrangig vom Riesenhirsch und Wisent, allerdings keine Artefakte oder gar menschliche Knochen. Der erste Beweis für die Anwesenheit des Neandertalers in der Einhornhöhle konnte erst durch Zufallsfunde im Jahre 1985 erbracht werden. Bei einer zunächst rein paläontologisch ausgerichteten Sondage des Geologen Ralf Nielbock konnten erstmals diagnostische Artefakte wie ein Levalloiskern aufgefunden werden, die eindeutig in die Zeit des Neandertalers gehören. Darauffolgende archäologische Ausgrabungen wurden zusammen mit Anne Scheer, Universität Tübingen, und Stephan Veil, Landesmusuem Hannover, durchgeführt.
Jüngste Forschungen zeigen das große Potential der Einhornhöhle in Bezug auf Fragen zu Umweltveränderungen und menschlichem Verhalten während der letzten Eiszeit. Im Jacob-Friesen Gang konnten in sechs übereinanderliegenden Fundschichten Artefakte des Neandertalers geborgen werden. Hunderte von Steinartefakten wurden vorwiegend aus lokalem Rohmaterial wie Hornfels, Quarzit und Kiesel- und Tonschiefer hergestellt. Einige Feuersteinartefakte verweisen jedoch darauf, dass der Neandertaler seine Rohstoffe auch aus mindestens 30km Entfernung herangeschafft hat. Der nächstgelegene Aufschluss findet sich südlich von Seesen am westlichen Harzrand. Die Levalloiskerne und Abschläge, sowie das Basalfragment eines Faustkeils belegen dabei eindeutig die Anwesenheit des Neandertalers in der Einhornhöhle.
Von Interesse ist die aufgefundene Großfauna, die durch einige tausend Knochen und Zähne belegt ist. Diese konnten zumeist Höhlenbären zugeordnet werden. Es wurden aber auch Höhlenlöwe, Wolf, Fuchs, Reh sowie Wisent und Riesenhirsch nachgewiesen. Einige Knochen zeigen Schnittspuren, die das Häuten und Filettieren mithilfe von Steingeräten durch Neandertaler belegen. Schnittspuren konnten bislang an Höhlenbären-, Fuchs-, und Wolfsknochen nachgewiesen werden. Dies zeigt, dass Neandertaler diese Tiere eher wegen ihres Pelzes, als wegen ihres Fleisches jagten.
Klimaveränderungen können mithilfe der Kleinsäugerfauna besonders gut nachvollzogen werden. Im Jacob-Friesen Gang finden sich wald- und wärmeliebende Kleinsäuger wie Waldspitzmaus, Maulwurf und Schermaus sowie kleinere Wühlmäuse besonders häufig in den unteren Neandertalerschichten. Thermophile Kleinsäuger werden dann jedoch zunehmend von Tieren, die offene Waldsteppen bevorzugen, verdrängt. Diese Sukzession kombiniert mit bisherigen radiometrischen Datierungen legen nahe, dass die untersten Schichten mit dem letzten Interglazial (Warmzeit) vor 130-110.000 Jahren zusammenfallen oder kurz darauf folgten. Somit lassen sich die archäologischen Fundschichten wahrscheinlich zwischen 70.000 und 130.000 Jahren vor heute einordnen, womit die Einhornhöhle eine von lediglich fünf Fundstellen in ganz Deutschland wäre, die in diesen frühen Abschnitt der letzten Eiszeit datiert. Weitere Untersuchungen laufen derzeit und werden sicherlich zur Klärung beitragen können.
Die Einhornhöhle bietet somit exzellentes Potential für spannende zukünftige Forschungen zu den Themenbereichen Neandertaler in Niedersachsen, frühe Jagd, menschliches Verhalten, sowie Umwelt- und Klimawandel in der Vergangenheit.
Zum Weiterlesen:
Hillgruber u.a. 2014
F. Hillgruber, J. Lehmann, R. Nielbock, T. Terberger, Die Einhornhöhle im Lichte alter und neuer Forschungen. - Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: 34. JG, H.4, 153 - 155; Hannover 2014.
Kaufmann u. a. 2010
G. Kaufmann / D. Romanov / R. Nielbock, Geophysikalische Untersuchungen an der Einhornhöhle, Südharz. Mitteilungen des Verbandes deutscher Höhlen- und Karstforscher 56(3), 72–77.
Kotula u.a. 2020
A. Kotula/ D. Leder/ J. Lehmann/ K.F.H. Hillgruber/ R. Nielbock/ T. Terberger. Eiszeitliche Besiedlung in Niedersachsens Höhlen: Neue Forschungen an der Einhornhöhle im Harz, Ldkr. Göttingen. Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 88, 2020, 211–229.
Nielbock 1989
R. Nielbock, Die Tierknochenfunde der Ausgrabungen 1987 / 88 in der Einhornhöhle bei Scharzfeld. Archäologisches Korrespondenzblatt 19, 1989, 217–230.
Nielbock 2019
R. Nielbock, Die Einhornhöhle. Die Welt der Einhörner, Höhlenbären und Neandertaler (2. Aufl. München 2019).
Am 16. November 2020, ab 18.30 Uhr, stellen Thomas Terberger und Dirk Leder aktuelle Ergebnisse der Ausgrabungen im virtuellen Montagsvortrag im YouTube-Kanal des Denkmalatlas Niedersachsen vor: https://www.youtube.com/channel/UCk1AYVxawKSUQpp_jMJMN8Q