Die Stiftskirche St. Cosmas und Damian zu Wunstorf – Untersuchung und Instandsetzung im Vorfeld des 1150-jährigen Gründungsjubiläums 2021
Von Markus C. Blaich & Jörg Richter
Im Januar 871 bestätigte König Ludwig der Deutsche die durch den Mindener Bischof Dietrich initiierte Gründung eines Kanonissenstiftes in Wunstorf. Für das Land zwischen Weser und Leine war dieser Akt in mehrfacher Hinsicht richtungsweisend: Innerhalb des Bistums Minden war Wunstorf die erste Stiftsgründung nach dem Domstift und zudem die erste an einem Ort weit östlich der Weser. Außerdem war Wunstorf als Damenstift die erste Institution im Bistum, die adligen Frauen Bildung im Rahmen eines geistlich konnotierten Lebens ermöglichte. Nach der Reformation bestand das Stift Wunstorf, wie im Fürstentum Calenberg üblich, als evangelisches Stift fort. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Stiftsgüter Teil des Allgemeinen Hannoverschen Klosterfonds, woraus bis heute die Verantwortung der Klosterkammer Hannover für den Erhalt der Stiftskirche folgt. Bereits im 19. Jahrhundert fand ein gemeinschaftliches Leben der Stiftsdamen nicht mehr statt. Im Jahre 1964 wurde schließlich die bis dahin gültige Stiftssatzung aufgehoben. Vom Stift Wunstorf, das die Region über ein Jahrtausend hinweg mitgeprägt hat, zeugt heute vor allem das Bauensemble des Stiftsbezirkes. In dessen Zentrum steht die eindrucksvolle Stiftskirche, die momentan Gegenstand bauhistorischer Untersuchungen sowie einer Grundinstandsetzung des Innenraums ist. Die Urkunde von 871 enthält sowohl die Ersterwähnung des Stiftes als auch des Ortes Wunstorf, ein Umstand, der 2018 Anlass zu ersten Gesprächen zwischen Vertretern der Klosterkammer Hannover, der Ev.-luth. Stifts-Kirchengemeinde und der Stadt Wunstorf war, um das im Jahr 2021 anstehende 1150-jährige Jubiläum der Ersterwähnungen vorzubereiten. Maßnahmen und Aktivitäten an der Stiftskirche werden seitdem regelmäßig gemeinsam abgestimmt. Vonseiten der Abteilung Bau- und Kunstpflege der Klosterkammer Hannover wurde 2018 mit vorbereitenden Dokumentationen begonnen: Das historische Inventar der Stiftskirche wurde neu erfasst, die Archivbestände zur Geschichte der Stiftskirche wurden durchgesehen und die Fassungen auf den Wandflächen durch einen Restaurator untersucht. Im April 2020 wurden alle beweglichen Ausstattungsstücke der Stiftskirche durch die Restauratoren der Klosterkammer deponiert, um Baufreiheit für die Instandsetzung des Innenraumes zu schaffen. Große ortsfeste Ausstattungsstücke wie der Hauptaltar, das Sakramentshaus, die Kanzel und die Orgel wurden zum Schutz eingehaust. Die Arbeiten im Inneren umfassen u. a. die Reinigung und Konservierung der historischen Fassungen und steinernen Architekturglieder, eine komplette Erneuerung der Elektrik, eine Erneuerung der Warmluftheizung samt Lüftungssteuerung sowie das Schließen von Rissen an den Wänden und in den Gewölben. Von den unteren Bereichen der Wände wurde eine dort in den 1960er-Jahren aufgebrachte Zementschlämme mit großem Aufwand entfernt und ein neuer Kalkputz aufgetragen. Des Weiteren ist bis Frühjahr 2021 vorgesehen eine Reinigung aller Oberflächen, auch die der historischen Ausstattungsstücke, sowie ein Neuanstrich der Wandflächen. Im Sommer 2021 soll der Innenraum der Wunstorfer Stiftskirche dann in neuem Glanz erlebbar sein. Parallel zu den oben umrissenen Arbeiten erfolgte ab 2020 eine Dokumentation wichtiger Befunde zur Baugeschichte der Stiftskirche durch ein Team aus Mitarbeitern der Klosterkammer und des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege. Dies erscheint umso lohnender, da viele Aspekte zum Kirchenbau noch nicht ausreichend untersucht sind. Am intensivsten mit dem Bau beschäftigt hat sich bislang Ernst Oeters, dessen Dissertation jedoch 1955 nur posthum veröffentlicht werden konnte, da der Autor im Zweiten Weltkrieg umgekommen war. Weitere Beobachtungen steuerte Urs Boeck bei.
Eingehendere bauhistorische Analysen oder bauarchäologische Untersuchungen fehlen hingegen. In der aktuellen Forschung zu den mittelalterlichen Damenstiften spielt Wunstorf daher nur eine marginale Rolle. Die bei Erdarbeiten im Innenraum der Kirche, aber auch in deren Außenbereich erfassten Mauerzüge konnten in Beziehung zu den aufgehenden Gebäudeteilen gesetzt werden und sind wohl als Fundamente weiterer, in der Forschung bislang nicht angemessen gewürdigter Gebäude zu deuten. Die Erfassung von Bauschäden im Fundamentbereich ergänzte die Dokumentation der archäologischen Befunde, und durch die parallele Beschäftigung mit dem aufgehenden Mauerwerk wurde die in der modernen Bauforschung geforderte Verbindung von Archäologie, Bau- und Architekturgeschichte hergestellt. Durch die enge Zusammenarbeit zwischen Architekturhistorikern und Mittelalterarchäologen gelang so ein wichtiger Schritt zur Neubewertung des Stiftsensembles und seiner Anbindung an die benachbarte, durch eine heute kaum noch wahrnehmbare Geländesenke getrennte Marktsiedlung im Bereich der heutigen Langen Straße.
Den bislang gemachten Beobachtungen zufolge findet sich das älteste aufgehende Mauerwerk im heutigen Westturm, dessen komplizierte, mehrfach überformte Struktur Reste eines dreiteiligen und mehrgeschossigen Westbaus mit Emporen enthält. Bestimmte Einzelformen und die Mauerwerkstechnik erlauben, wie bereits von Ernst Oeters vorgeschlagen, eine Datierung dieses Westbaus in das 11. Jahrhundert. Verändert wurde der Westbau wohl in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, als man nach Osten hin eine neue dreischiffige Basilika mit Querhaus, Chorquadrum und Apsiden errichtete. Es ist dieser Bau, der das Erscheinungsbild der Wunstorfer Stiftskirche bis heute maßgeblich prägt. Erhalten blieben die Langhausarkaden mit sächsischem Stützenwechsel, der Obergaden, der südliche Querhausarm sowie der Chor mit ihren Apsiden. Bemerkenswert ist, dass dieser Bau von vornherein für eine vollständige Wölbung konzipiert worden ist. Ein reicher Baudekor und sorgfältig ausgeführtes Quadermauerwerk führen den Anspruch dieser Stiftskirche vor Augen. Zu einem bislang unbekannten Zeitpunkt (14. Jahrhundert?) wurde die Basilika durch einen Großbrand schwer beschädigt. Massive Schäden am Mauerwerk zeigen, dass die Dachstühle abbrannten und ein Teil der Gewölbe einstürzte. In der Folge wurden der nördliche Querhausarm neu errichtet, das nördliche Seitenschiff erhöht und dort sowie im Langhaus neue Gewölbe eingezogen. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts häuften sich Klagen über den schlechten Zustand der Stiftskirche, was zu einer groß angelegten, in den Jahren 1853–1859 realisierten Restaurierungskampagne führte. Unter Leitung zunächst von Georg Ludwig Comperl, dann von Eduard Wellenkamp wurden nicht nur schadhafte Gebäudeteile neu aufgeführt – u. a. wurde das gesamte südliche Seitenschiff neu errichtet –, sondern auch die Ausstattung der Stiftskirche völlig neu geordnet und gestaltet. Heute darf das Wunstorfer Ausstattungsensemble als eines der frühesten und vollständigsten Raumkunstwerke des Hannoverschen Historismus in der Regierungszeit König Georgs V. gelten. Kleinere Veränderungen und Ergänzungen erfolgten im frühen 20. Jahrhundert und in den 1960er-Jahren. Das im Wesentlichen 1853–1859 durch die umfassende Anverwandlung der romanischen Basilika geschaffene Raumbild dient auch der aktuellen Instandsetzung als Leitlinie.
Literatur:
Boeck, U. (1988). Die Stiftskirche in Wunstorf. Große Baudenkmäler. (S. 249). München/Berlin.
Karpa, O. (1958): Die Kunstdenkmale des Landes Niedersachsen. Regierungsbezirk Hannover. Die Kunstdenkmale des Kreises Neustadt am Rübenberge. Textband. (S. 191–229). München/Berlin. Im zugehörigen Bildband Abb. 398–506.
Krumm, C. (2005). Region Hannover. Nördlicher und östlicher Teil. Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Baudenkmale in Niedersachsen, 13.2. (S. 527–548). Hameln.
Mahmens, S. (2012). Wunstorf – Kanonissenstift mit angeschlossenem Kanonikerstift. In: J. Dolle (Hrsg.): Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810. (S. 1576-1590). Bielefeld.
Oeters, E. (1955). Die Stiftskirche zu Wunstorf. Ihre Baugeschichte und Stellung innerhalb der sächsischen Architektur. In: R. Hamann-Mac Lean & F. Dettweiler (Hrsg.): Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 16. (S. 121–180). Marburg.
Richter, J. (2019). Programmatische Oberflächen. Beobachtungen zu Kirchenausstattungen im Königreich Hannover zwischen 1848 und 1866. In: M. Jager , T. Albrecht & J. W. Huntebrinker (Hrsg.): Conrad Wilhelm Hase (1818–1902). Architekt, Hochschullehrer, Konsistorialbaumeister, Denkmalpfleger. (S. 123-139). Petersberg.
Der Text wurde erstmals veröffentlicht in den Berichten zur Denkmalpflege in Niedersachsen, 40. Jg. (2020), Heft 4, S. 32–36.