Das Bauhaus in der Provinz: Hans Martin Frickes „Ziegenbock-Station“ in Osterholz-Scharmbeck
Ikonische Bauten der ‚weißen Moderne‘ sind im westlichen Niedersachsen, dessen architektonische Moderne in den 1920er-Jahren eher vom gemäßigten Backsteinexpressionismus geprägt wurde, äußerst rar. John Zukowskys Überblickswerk „Architektur in Deutschland 1919–1939. Die Vielfalt der Moderne“ (München; New York 1994) nennt westlich von Bremen nur Fritz Högers Bauten in Delmenhorst und Wilhelmshaven. Bauhaus-Bauten, die diese Bezeichnung wirklich verdienen, gibt es in dieser Region so gut wie gar nicht.
Eine interessante – und bislang so gut wie unbekannte – Ausnahme bildet der skurrile Bau einer ehemaligen Ziegenbesamungsstation, der abseits des Ortszentrums von Osterholz-Scharmbeck (Auf dem Knorren 1) liegt. Die Lage, jenseits jeglicher Wohnbebauung, an der Bahnlinie zwischen Ritterhude und Bremerhaven, ist dem ursprünglichen Zweck des Baus geschuldet und trug vermutlich entscheidend mit dazu bei, dass das abgelegene Gebäude in seiner äußeren Kontur heute noch weitgehend unverändert erhalten ist.
Über die Entstehungsgeschichte war bislang kaum etwas bekannt. Obwohl es bereits 1983 als Denkmal ausgewiesen wurde, war dessen Architekt bis vor Kurzem nicht zu ermitteln. Aufgrund der topographischen Nähe zu Bremen-Nord und der markanten Bauform wurde daher zunächst Ernst Becker (1900–1968) als Architekt angenommen, der mit seinen Wohnbauten in Bremen-Vegesack und dem ikonischen Bootshaus des Vegesacker Rudervereins von 1927 als bislang einziger Schöpfer kubischer Bauformen in der Region bekannt war. Erst die Aufarbeitung des Nachlasses des Oldenburger Bauhäuslers Hans Martin Fricke (1906–1994), zunächst in Weimar und schließlich im Rahmen eines Forschungsprojekts am Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, konnte Licht in die Entstehungsgeschichte des Bauwerks bringen.
Fricke war 1922, mit 16 Jahren, nach dem Abschluss der Oberrealschule in Oldenburg und einem Semester an der Bremer Kunstgewerbeschule, an das Staatliche Bauhaus in Weimar gekommen und absolvierte hier – nach dem obligatorischen Vorkurs – eine Ausbildung als Tischler. Gemeinsam mit Marcel Breuer, mit dem er sich in Weimar befreundete, gehört er zu der kleinen Zahl an Studierenden, die am Bauhaus eine ‚reguläre‘ Handwerkergesellenprüfung bestritten. Mit Breuer, Erich Consemüller, Erich Dieckmann und Felix Klee zählte Fricke zu den wenigen Tischlern, die die Bauhaus-Tischlerei somit mit dem Gesellenbrief verließen.
Zu den am Bauhaus ausgeführten Möbelentwürfen Frickes gehören Stühle, Schreibtische und ein extravaganter Teetisch, der 1925 in das offizielle „Verzeichnis der Arbeiten und Eigentumsrechte der Werkstätten des Staatl. Bauhauses in Weimar“ aufgenommen wurde. Zwei seiner kubisch-funktionalen Stuhlentwürfe, einen Papierschrank und einen Tisch konnte das Landesmuseum Oldenburg 2016 aus Familienbesitz für seine Sammlung erwerben.
Zurückgekehrt in seine Heimatstadt Oldenburg, entschloss sich Hans Martin Fricke zum Wintersemester 1925/26, an der dortigen Ingenieur-Akademie ein Architekturstudium anzuhängen, das er mit der Prüfung zum Diplom-Ingenieur beendete. Ab 1927 war er daraufhin in Oldenburg und Bremen als Architekt tätig. Unter dem Oldenburger Stadtbaurat Jean Robert Charton wurde Fricke zunächst mit dem Innenausbau der „Volksmädchenschule Blumenhof“ (heute: Freie Waldorfschule) in Oldenburg-Osternburg betraut, die er mit funktionalen Einbauschränken, Holzmöbeln und Leuchten, u. a. des ehemaligen Bauhäuslers Christian Dell, versah. Vor allem jedoch führte er kleinere Bauten im kubisch-expressionistischen Stil der Reformarchitektur und durchweg in Backstein aus, die heute allerdings nicht mehr erhalten und nur durch Fotografi en aus seinem Nachlass dokumentierbar sind. Zu den eindrucksvollsten Beispielen seines ‚Frühwerks‘ gehört der Entwurf eines Verteilungspavillons des Oldenburger Konsumvereins, der, wie Glasplattennegative aus dem Nachlass belegen, in zwei Varianten ausgeführt wurde.
Das Forschungsprojekt „Das Bauhaus in Oldenburg – Avantgarde in der Provinz“ am Landesmuseum Oldenburg und die daraus resultierende Ausstellung „Zwischen Utopie und Anpassung“, die vom 27. April bis zum 4. August 2019 im Oldenburger Augusteum zu sehen war, gehen jedoch darüber hinaus und nehmen, neben den Lebensläufen von weiteren drei Bauhäuslern aus Nordwestdeutschland, den ‚ganzen Fricke‘ in den Blick, der sich damit als Januskopf entpuppt. Sein Leben und Werk illustrieren exemplarisch, was der Architekturhistoriker Werner Durth in seiner Studie „Deutsche Architekten“ (1986) als „biographische Verflechtungen“ beschrieben hat: Fricke, der einst am Bauhaus studiert hatte, wurde während der Zeit des ‚Dritten Reichs‘ zu einem einflussreichen und überzeugten NS-Funktionär und Anfang der 1950er-Jahre zum Repräsentant der architektonischen Nachkriegsmoderne in Oldenburg.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangen ihm in Oldenburg ikonische Bauten der Nachkriegsmoderne, zu denen vor allem die Rollofabrik Justin Hüppe (1953/1954), das Bürohaus Ludwig Freytag (1954/1955), der Neubau der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Oldenburg (1956) und das Modehaus Peter Schütte (1957) gehören. 1953 bis 1976 war Fricke Vorsitzender der Bezirksgruppe Oldenburg-Ostfriesland des BDA. Die Ehrenmitgliedschaft wurde ihm nach dem Ende seiner Berufstätigkeit verweigert, als in den 1980er-Jahren eine jüngere Architektengeneration erstmals kritische Nachfragen zu Frickes politischer Vergangenheit stellte.
Prof. Dr. Rainer Stamm ist Direktor des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg und leitet das Forschungsprojekt „Das Bauhaus in Oldenburg – Avantgarde in der Provinz“.
Zum Weiterlesen:
- Die Ziegenbockstation im Denkmalatlas Niedersachsen
- Ingo Sommer: Die Stadt der 500 000. NS-Stadtplanung und Architektur in Wilhelmshaven, Braunschweig 1993.
- Der Bauhäusler Hans Martin Fricke. Möbeldesign. Architektur. Freie Kunst, Weimar [2017].
- Gloria Köpnick/Rainer Stamm (Hg.): Zwischen Utopie und Anpassung. Das Bauhaus in Oldenburg, Petersberg 2019.
Der Text wurde erstmals veröffentlicht in den Berichten zur Denkmalpflege in Niedersachsen, 39. Jg. (2019), Heft 1, S. 45–49.