Die Christuskirche in Hannover

Von Frank Achhammer

Die von Conrad Wilhelm Hase (1818-1902) gebaute Christuskirche inmitten der Landeshauptstadt gehört zu den bedeutendsten Bauten der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Am östlichen Rand der Nordstadt, an der Grenze zum Stadtteil Mitte gelegen, bildet sie einen platzprägenden Blickpunkt am nordwestlichen Ende des Klagesmarkts. Die in überwiegend rotem Backstein ausgeführte dreischiffige Hallenkirche mit Querhaus, hohem Westturm und polygonalem Chorschluss ist mit aufwändigen Bildhauerarbeiten in hellem Sandstein geschmückt. Der ehemalige Haupteingang an dem in das Langhaus eingestellten Westturm ist über eine Vorhalle erreichbar, in der sich lebensgroße Sandsteinfiguren und ein Gefallenendenkmal befinden. Die Querhausgiebel besitzen Eingänge mit figürlichen Reliefs in den Tympana. Neben der Bauplastik im Außenbereich gehören Altar, Kanzel und Taufbecken zu den erhaltenen bauzeitlichen Ausstattungsstücken, darüber hinaus zwei Radleuchter von 1914. 1959-1961 wurde eine Orgel von Hermann Hillebrand eingebaut, die als einzige viermanualige neobarocke Orgel dieser Art angesehen wird. Seit 2015 prägt der Einbau einer Tribüne über einem neu geschaffenen Probenraum für das Kinder- und Jugendchorzentrum den Innenraum des Langhauses.

Im Jahr 1859 war die Einwohnerzahl im Bereich der heutigen Nordstadt derart gestiegen, dass sich die Notwendigkeit der Gründung einer neuen Gemeinde ergab. Als Bauplatz für eine neue Kirche kaufte man vom Magistrat der Stadt Hannover den ehemaligen Viehmarkt am Klagesmarkt. Die Nähe des im Bau befindlichen neuen Welfenschlosses bewog König Georg V. (1819-1878) dazu, den Bau selbst und in hohem Umfang zu finanzieren, was Auswirkungen auf den Entwurf und die Qualität der Ausstattung hatte. Conrad Wilhelm Hase, Architekt und Lehrer an der Polytechnischen Schule, war zu diesem Zeitpunkt bereits vom König mit dem Bau der Marienburg bei Pattensen beauftragt, zuvor hatte er sich u. a. mit dem 1852-1856 gebauten Museum für Kunst und Wissenschaft hohes Ansehen erworben. Ein Vorentwurf zu einem kostengünstigen Bau, vermutlich in Rundbogenstil, wurde auf Wunsch des königlichen Paares zugunsten einer aufwändigen neugotischen Hallenkirche verworfen. Die das gesamte 19. Jahrhundert bestimmende Stilfrage wurde im Kirchenbau besonders emotional und kontrovers geführt. Zunächst hielt man die Gotik für einen genuin deutschen Stil, die nationalistische Euphorie wurde jedoch seit den 1840er Jahren durch die Entdeckung ihres Ursprungs in der Ile de France stark gedämpft. Ihre Wahrnehmung als christlichsten aller Stile störte wiederum einige Protestanten aufgrund der vorreformatorischen Entstehungsgeschichte. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden nur wenige große Kirchen neugotisch gebaut, darunter die bereits 1824 begonnene Friedrichswerdersche Kirche von Karl Friedrich Schinkel (1781-1841). Die 1831-1839 von Joseph Daniel Ohlmüller (1791-1839) gebaute katholische Pfarrkirche Maria Hilf in der Au zeigt sich, Schinkels Kirche ähnlich, zumindest im Langhaus konstruktiv noch mit dem Klassizismus eng verbunden; ähnliches gilt für die neugotische Marktkirche in Wiesbaden (1853-1862), ein ebenfalls unverputzter Backsteinbau. Einen Aufschwung hatte die neugotische Bewegung durch Publikationen u. a. von Carl Alexander Heideloff (1789-1865), Georg Gottlob Ungewitter (1820-1864) und August Reichensperger (1808-1895) sowie im Jahr 1842 durch die Wiederaufnahme der Bauarbeiten am Kölner Dom nach rund 300-jähriger Pause bekommen, dennoch blieb sie umstritten. Das zeigte sich drastisch am Wettbewerb zum Wiederaufbau der Nikolaikirche in Hamburg, wo Gegner und Befürworter eine umfangreiche öffentliche Auseinandersetzung führten. Schließlich wurde ein Entwurf in dogmatisch stilreiner Gotik von George Gilbert Scott (1811-1878) durchgesetzt, der ab 1846 zur Ausführung kam. Der Einfluss protestantischer Strömungen wie der Erweckungsbewegung oder des Neuluthertums, die eine romantisch-mittelalterlich orientierte Kunst förderten, führten auch in Hannover bei Kirchenvertretern zu einer Ablehnung der als „Hörsäle für theologische Vorlesungen“ kritisierten klassizistischen Bauten, wie die des damaligen Konsistorialbaumeisters Ludwig Hellner (1791-1862).

Hase stand seit 1848 durch die Restaurierung des Klosters Loccum in engem Kontakt zur hannoverschen Landeskirche und entwickelte sich zum Fachberater in Kirchenbaufragen, der das Vertrauen der Obrigkeit hatte. Nach Hellners Tod wurde ihm das Amt des Konsistorialbaumeisters übergeben. Als in den 1850er Jahren hochrangige Vertreter einiger evangelischen Landeskirchen an Richtlinien für den Bau protestantischer Kirchen arbeiteten, gehörte Hase zu einem kleinen Kreis von Sachverständigen, die einbezogen wurden. Das Ergebnis wurde 1861 als „Eisenacher Regulativ“ veröffentlicht; es empfahl ausdrücklich einen mittelalterlichen, vorzugsweise gotischen Stil. Eine vermutlich von seiner Wanderschaft nach München und dem dortigen Studium bei Friedrich Gärtner mitgebrachte handwerkliche Kenntnis im Anfertigen gotischer Zierelemente in Backstein hatte Hase bereits 1842 am von Georg Ludwig Friedrich Laves (1788-1864) entworfenen Mausoleum für Carl von Alten im Sundern demonstrieren dürfen. Weitere Anerkennungen mit dem am architekturtheoretischen Wahrheitsbegriff („Putz ist Lüge“) orientierten „Backsteinrohbau“ sammelte Hase in seiner Verantwortlichkeit für mehrere Bahnhofsbauten und schließlich mit seinen noch dem Rundbogenstil verpflichteten Entwürfen zum Museum für Kunst und Wissenschaft sowie der St. Markus-Kirche in Wettmar. Beim Bau der Christuskirche verwendete Hase nur wenige glasierte Steine zur Gestaltung der Fassaden und verzichtete auf den bis dahin üblichen Einsatz von hellen oder gelben Backsteinen. Entgegen dieser puristischen Tendenz und anders als beim Mausoleum im Sundern zog er es jedoch vor, aufwändige Schmuckelemente in Sandstein ausführen zu lassen, wovon er sich später distanzierte. Als Gründungsbau für die Architektur der von Hase geprägten Hannoverschen Schule demonstriert die Christuskirche eine dogmatische Umsetzung der Gotik in konstruktiver und stilistischer Hinsicht und steht damit im Gegensatz zu vorhergehenden Bauten in klassizistisch geprägter „Schinkel-Gotik“. Gleichzeitig passte Hase den Bau dem protestantischen Ritus an, in der Weise, wie sie von Kirchenvertretern der Eisenacher Kirchenkonferenz gefordert wurde. Damit unterschied sie sich von z. B. der Nikolaikirche in Hamburg, die von einer katholischen Kirche kaum zu unterscheiden war. Besonders originell ist die Gestaltung des Chors, der einen Chorumgang nach mittelalterlichem Vorbild für die protestantische Liturgie umwandelt. Dabei übernahmen die mittleren Abschnitte die Funktion des Altarumgangs für die damals noch übliche Wandelkommunion, während die äußeren Kapellräume als Zugang für die Loge der Königsfamilie und als Sakristei abgetrennt wurden. Die Verbindung mittelalterlicher Bautradition („Festhalten am Alten“) mit kreativer Anpassung des Baukörpers an zeitgenössische Bedürfnisse wurde zum Erkennungsmerkmal der Architektur Hases und seiner Schüler, ebenso wie der später zu virtuoser Perfektion geführte Umgang mit Backstein. Parallel zum Bau der Christuskirche demonstrierte Hase Prinzipien seines Schaffens auch an Profanbauten, wie dem 1860-1861 für sich selbst entworfenen Wohnhaus und der kurze Zeit später vollendeten Villa Strauß in Bückeburg.

Nach der preußischen Annexion Hannovers 1866 blieb die Christuskirche unter dem Patronat des Welfenhauses, zunächst stillschweigend, später wieder offiziell und bis heute bestehend. Die Bombardierung Hannovers 1943 hinterließ auch an der Christuskirche starke Schäden, deren Beseitigung einen hohen Aufwand verursacht hat und in einigen Bereichen noch nicht abgeschlossen ist. Besonders im Innenraum sind die Folgen der Zerstörung sichtbar, neben dem Verlust der farbigen Fenster fiel auch die erst 1910 aufgestellte Orgel mitsamt der Westempore den Brandbomben zum Opfer. Die mit Blick auf die anderen kriegsbedingten Verluste in der Stadt Hannover und nicht zuletzt aufgrund der Anstrengungen der vergangenen Jahrzehnte mit weitgehend hohem Überlieferungswert erhaltene Christuskirche ist einer der Gründungsbauten der neugotischen Hannoverschen Schule, die durch die intensive Bautätigkeit Hases und seiner Schüler im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt sowie für die Architektur seiner Zeitgenossen und darüber hinaus in großem Umfang mitprägend war. Gleichzeitig ist sie anerkanntes Musterbeispiel für den protestantischen Kirchenbau insbesondere der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert und darf somit als Baudenkmal gesehen werden, dessen Bedeutung über die Landesgrenzen hinaus reicht.


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