Die Bethlehemkirche in Hannover-Linden
Von Frank Achhammer
Mit ihrem charakteristischen, weithin sichtbaren Turm gehört die Bethlehemkirche mit Pfarrhof zu den prägenden Bauten im hannoverschen Stadtteil Linden-Nord. Der auf dem Kirchplatz nahe des Schnellwegs gelegene Sakralbau ist eine dreischiffige Emporenbasilika mit Querhaus unter Satteldach, die im Osten einen rechteckig geschlossenen Chor mit eingeschossig angebautem Altarumgang und zwei Anbauten im Norden und Süden besitzt. Zwischen den Anbauten und den Querhausflügeln befindet sich jeweils ein Treppenturm mit Pyramidendach zur Erschließung der Emporen. Im Westen erhebt sich riegelartig die Turmfassade mit drei schlanken kupfergedeckten Dächern; das um ein Geschoss erhöhte mittlere Dach trägt an der 71 m hohen Spitze einen sternförmigen Leuchtkörper aus Schmiedeeisen und Glas. An das südliche Querhaus angebaut ist ein eingeschossiger Gemeindesaalbau, an den sich südlich ein dreigeschossiges Pfarrhaus anschließt. Die massiv in Sichtmauerwerk aus Naturstein errichteten Gebäudeabschnitte Sakralbau, Gemeindesaal und Pfarrhaus bilden einen Pfarrhof, der nach Westen durch eine Mauer geschlossen ist. Über ein vorhallenartig gestaltetes Hauptportal mit Säulenstellung, drei Bronzetüren und einem Glasmosaik (Anbetung der Könige) im Tympanon gelangt man in den aufwändig farbig gefassten Kirchenraum, dessen bauzeitliche Ausstattung fast vollständig erhalten ist. In der Ostwand über dem goldgefassten Altar befindet sich eine Fensterrose mit der Majestas Domini, gerahmt von zwölf kleinen Rundfenstern mit Tierkreiszeichen. Die Vierung beherrscht ein das Himmlische Jerusalem darstellender Messingradleuchter von ca. 5 m Durchmesser, er ist ebenso wie der Altar und der „Stern von Bethlehem“ auf der Turmspitze von Beginn an elektrisch beleuchtet. Aus der Bauzeit stammen auch die große Kanzel aus Eichenholz und das Taufbecken aus Sollingsandstein.
Die bis 1920 noch selbständige Stadt Linden hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Industriestandort entwickelt, dessen Bevölkerungszahlen explodierten und die Gründung neuer Kirchengemeinden erforderten. Die 1892 gegründete ev.-luth. Bethlehemgemeinde wurde schnell zu einer der größten in der Landeskirche Hannovers und benötigte dringend ein Kirchengebäude. 1899 trat man deshalb an den Hochschulprofessor Karl Mohrmann (1857-1927) heran, der das Amt des Konsistorialbaumeisters kurz zuvor von seinem Lehrmeister Conrad Wilhelm Hase übernommen hatte. Kurz darauf wurde Mohrmann beauftragt, den Bau nach seinen Plänen auszuführen. Wie Hase orientierte er sich dabei in der Gestaltung an Stilformen des Mittelalters und an den Vorgaben des 1861 als Richtlinien für den protestantischen Kirchenbau veröffentlichen „Eisenacher Regulativs“. Statt der von Hase jahrzehntelang bevorzugten Gotik wählte er jedoch eine überwiegend an der Romanik orientierte Formensprache. Erklärend hierfür sollte das zusammen mit seinem Schüler und Kollegen Ferdinand Eichwede (1878-1909), unter dem Titel „Germanische Frühkunst“, 1905-1907 veröffentlichte großformatige Vorlagenwerk sein. Es enthält kommentierte Zeichnungen von vorwiegend mittelalterlichen Beispielen der Architektur und Skulptur in Mitteleuropa, die von beiden Architekten in ihren Werken zitiert wurden. Neben der Anwendung einer Sonderform der Neuromanik in Verbindung mit elektrischer Beleuchtung gehört die klosterähnliche Anlage des Pfarrhofs zu den architekturgeschichtlich bedeutenden Eigenschaften des Denkmals. Die bauliche Gruppierung der Kirch- und Gemeindebauten wurde im deutsch-protestantischen Raum seit Ende des 19. Jahrhunderts vielfach erörtert und gefordert, architektonisch konsequent umgesetzt wurde sie im Bereich der hannoverschen Landeskirche erstmals von Mohrmann mit der Planung der Bethlehemkirchenanlage. Während der Sakralbau bereits 1906 nach etwa dreijähriger Bauzeit eingeweiht wurde, konnte mit der Ausführung des Pfarrhauses aufgrund von anfänglichen Bedenken des Kirchenvorstands und des Lindener Magistrats erst 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, begonnen werden. Ein erhaltenes Gipsmodell von 1903 zeigt jedoch bereits die vollständige Anlage, die 1915 mit Fertigstellung des Pfarrhauses ausgeführt war. Das städtebauliche Konzept, nach dem der Kirchplatz Mittelpunkt eines neuen Stadtteils mit rasterförmig zusammenlaufenden Straßen werden sollte, ist kriegsbedingt nur im östlichen Bereich verwirklicht worden.
Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs überstand die Anlage im Vergleich zu anderen Gebäuden in der Stadt ohne größere Verluste. Schäden am Dach hatten allerdings zur Folge, dass man Putzflächen erneuern und die schon zuvor beeinträchtigte Innenausmalung zugunsten eines monochromen Anstrichs aufgeben musste. Mittel für die durchaus gewünschte Erhaltung der farbigen Raumgestaltung waren damals nicht aufzubringen. Nach der Tochtergründung der Gerhard-Uhlhorn-Gemeinde führte der Wunsch nach einer kleineren Kirche zugunsten von mehr Gemeinderaum zu einer Abtrennung des nördlichen Chornebenraums und der Querhaushälften. Um 1990 war man mit den Veränderungen des Kircheninneren nicht mehr glücklich und beschloss eine Wiederherstellung der Farbigkeit, die zunächst in kleinen Probeflächen wieder freigelegt wurde. Erst ab 2008 konnten Mittel des Landes, des Bundes, der Landeskirche und privater Stiftungen bereitgestellt werden, die es ermöglichten, die Wandmalereien vollständig wiederherzustellen und gleichzeitig die nachträglichen Raumabtrennungen einschließlich des Toiletteneinbaus zu entfernen; darüber hinaus ist der Altarumgang nun wieder als Teil des liturgischen Raums erkennbar. Radleuchter, Altar, Kanzel und später das Bronzeportal wurden aufwändig restauriert. Seit Abschluss der Maßnahmen ist deutlich, dass die Bethlehemkirche zu den wenigen Sakralbauten Hannovers gehört, die trotz Kriegseinwirkung in hohem Maße authentisch überkommen sind. Aufgrund der auf Fernwirkung gestalteten Turmfassade, die aus den damals zahlreich benachbarten Fabrikschornsteinen heraustreten sollte, gehört sie zu den baulichen Anlagen, die wesentlich das Bild der Landeshauptstadt prägen. Gestalterisch steht sie in der Tradition der durch Conrad Wilhelm Hase geprägten Hannoverschen Schule und des am Eisenacher Regulativ orientierten protestantischen Kirchenbaus, gleichzeitig ist sie beispielhaft für die Rezeption mittelalterlicher Baukunst in der Epoche Wilhelms II. Mit der konsequenten und im hannoverschen Einflussgebiet einzigartigen Umsetzung der baulichen Verbindung von Sakral- und Gemeindebauten sowie dem Einsatz der Elektrizität im liturgischen Raum zeigt sie darüber hinaus fortschrittliche Entwicklungen der Zeit um 1900. Nicht zuletzt dank der umfassenden Restaurierung und des jahrzehntelangen Engagements der Gemeinde besitzt die Bethlehemkirche gegenwärtig einen ungewöhnlich hohen Überlieferungswert für die Bau- und Kunstgeschichte und ist ein herausragendes Beispiel für die erfolgreiche Rückführung in einen nicht profanierten Andachtsraum.
Hier kommen Sie zum den Drohnenflugaufnahmen der Bethlehemkirche.
Zum Weiterlesen:
Achhammer, Frank: Hannover-Linden. Bethlehemkirche mit Pfarrhof. Passau, 2014.
Fendel, Vera; Achhammer, Christina; Achhammer, Frank: Die Restaurierung des Messingradleuchters in der Bethlehemkirche in Hannover-Linden. In: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen 3/2009, S. 66-70.
Lieb, Stefanie; Amt, Stefan: Neuromanik in Hannover und ihre mittelalterlichen Vorbilder. Die Bethlehemkirche mit Pfarrhof von Karl Mohrmann. In: Form und Stil. Festschrift für Günther Binding zum 65. Geburtstag., Darmstadt 2001, S. 298-317.