Nachkriegskirchen in Hannover
Direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sah sich die Mehrzahl der Kirchengemeinden in Hannover mit dem Problem konfrontiert, dass viele der alten Kirchenstandorte aufgrund der Zerstörungen des Bombenkrieges zunächst nicht mehr für sakrale oder gemeindliche Zwecke zu nutzen waren. Die Vielschichtigkeit der damaligen, katastrophalen Notlage lässt sich aus heutiger Sicht rückblickend nur annähernd begreifen und beschreiben. Einerseits war die notdürftige Herstellung oder Wiederherstellung von Wohnraum verständlicherweise vordringlichste gesellschaftliche Aufgabe der Nachkriegszeit. Hierfür waren die wenigen materiellen und die vorhandenen kraftmäßigen Ressourcen gebündelt einzusetzen. Andererseits wuchsen aber mit der hohen Zahl der in die zerstörte Stadt zurückkehrenden Bewohner und mit dem gleichzeitigen Zuzug geflüchteter und vertriebener Menschen aus den ehemaligen deutschen Gebieten im Osten (in Hannover fanden besonders viele Schlesier eine neues Zuhause) die Gemeindemitgliederzahlen extrem an. Dies betraf nicht nur die evangelisch-lutherischen, sondern auch die katholischen Gemeinden. Der Bevölkerungszuzug aus anderen Regionen hatte zur Folge, dass es im Gebiet der Stadt Hannover, das seit der Reformation hinsichtlich der vorherrschenden Konfession überwiegend protestantisch geprägt war, nun einen signifikanten Zuwachs an katholischen Christen gab. Die Stadt war, aufgrund ihrer Lage am östlichen Rand der britischen und in relativer Nähe zur sowjetischen Besatzungszone, besonders von den damaligen Zuwanderungsbewegungen betroffen. Das zum Bistum Hildesheim gehörende Dekanat Hannover konnte beispielsweise seine Gemeindemitgliederzahl bis 1957 im Vergleich zu 1940 verdoppeln. Es herrschte also ein akuter Mangel an Räumen für den Gottesdienst, die gemeindliche Versammlung und für die kirchliche Arbeit.
Ein „sprechendes“ Dokument dieser Zeit der Not ist der vom damaligen Stadtsuperintendenten Gerhard Kunze herausgegebene Band zur 1946 stattgefundenen ersten Evangelischen Kirchenbautagung in Hannover: „Evangelischer Kirchbau vor neuen Aufgaben“. Damals hatte das Landeskirchenamt der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers alle Landeskirchen in der Britischen Besatzungszone und die Evangelische Kirche in Deutschland nach Hannover eingeladen. In seinem im Tagungsbericht abgedruckten Redebeitrag „Was sollen wir denn tun?“, der den Abschluss der öffentlichen Abendvorträge der Tagung bildete, schilderte er die damalige Situation: „Schauen wir uns doch um! Unsere schöne und gepflegte Stadt, wie ist sie verwüstet! Und neben ihr hunderte anderer deutscher Städte! Sie bluten aus klaffenden Wunden, die schon der Schorf des Schuttunkrautes überwuchert. Mitten zwischen den Ruinen der Wohngebäude ragen die Reste der Kirchen. Meist ist der Turm in seinem Mauerwerk bis hoch hinauf erhalten, sind aber die Dächer auseinandergerissen, die Gewölbe eingestürzt, die Räume ausgebrannt. Hier in Hannover sind im Umkreis eines Halbmessers von wenig mehr als einem Kilometer um den Mittelpunkt der Marktkirche alle Kirchen zerstört: Markt-, Ägidien-, Kreuz-, Neustädter-, Christus-, Garnisons-, Schloß-, Gartenkirche, die Kirche des Henriettenstiftes, die reformierte Kirche. Die Innerstädtischen Kirchen sind jetzt Dreifaltigkeits-, Markus-, Apostel-, Erlöserkirche. Weiter hinaus stoßen wir auf die völlig zerstörten Lister-, Petri-, Lukas-, Martins-, Pauluskirche, die von Döhren und Wülfel und Vahrenwald. Das ist das Bild, das sich seit etwa zwei Jahren bietet. Wie lange noch?“. Rückblickend erscheinen in dieser schwierigen Zeit Überlegungen zur Gestaltung neuer Kirchen eher als Randthema. Zunächst war – neben den damit verbundenen Kostenfragen – vordringlich die Frage, ob ein Wiederaufbau oder ein Neubau an den zerstörten Standorten ratsam wäre, zu klären. Allerdings klingen bereits in den späten 1940er Jahren seitens der kirchlichen Verantwortungsträger Entwicklungen an, die die Notwendigkeit eines Wandels im Aussehen der Kirchen nahelegen. Notgedrungen rückt kosten- und aufwandbedingt das schnelle, einfache und wirtschaftliche Bauen in der Traditionslinie der Klassischen Moderne bzw. des Neuen Bauens vor 1933 in den Vordergrund. Die Wiederaufnahme dieser, nicht durch die Nationalsozialisten baupolitisch vorbelasteten, baukulturellen Traditionslinie des Bauens in der Weimarer Republik wird aus der damaligen Sicht als geeignet angesehen, um ein deutliches Zeichen für einen gesellschaftlichen wie kirchlichen Neuanfang in einer neuen, demokratischen Gesellschaft zu setzen.
Die Geschichte der Zeit der späten 1940er Jahre erzählen im besonderen Maße – neben der als Ruine und somit als Mahnmal belassenen Aegidienkirche – im Grunde genommen heute noch drei Kirchenstandorte in Hannover. Mit Hilfe von ausländischen Spendengeldern wurden damals deutschlandweit behelfsmäßig einige Notkirchen errichtet. Die sogenannten Bartning’schen Notkirchen wurden im Rahmen eines 1945 vom Evangelischen Hilfswerk ins Leben gerufenen Kirchenbauhilfsprogramms ausgeführt. Auf Grundlage des vom Architekten Otto Bartning entwickelten Konstruktionsprinzips sollte dem kriegsbedingten Mangel an Räumen für den Gottesdienst abgeholfen werden. Bartning hatte für das Hilfsprogramm ein einfaches, materialsparendes Modulsystem aus tragenden Holzbindern entwickelt, das andernorts vorgefertigt, an den Einsatzort transportiert und dort in kurzer Zeit montiert werden konnte. Die nichttragenden Außenwände konnten aus vor Ort vorhandenen Materialien oder Trümmerziegeln aufgebaut werden. Mit der bekannten Ev.-luth. Petrikirche in Hannover-Döhren aus dem Jahr 1949 ist ein seltenes Exemplar dieser Kirchen überliefert, das als Behelfsbau an Stelle des kriegszerstörten Saals neben dem erhalten geblieben mittelalterlichen Turm der Kirche ausgeführt worden ist. Weniger bekannt ist, dass in der Ev.-luth. Zachäuskirche in Hannover-Burg, erbaut in den Jahren 1966-1967, die Holzbinder einer alten Notkirche in Zweitverwendung bei der Errichtung des neuen Kirchsaals genutzt wurden. Die Zachäuskirche weist wohl als einziger Bau in Deutschland diese Besonderheit auf. Die Architekten Johannes Brockes und Klaus Doerr integrierten hier nämlich Teile der Notkirche vom Standort der Matthäuskirche (Lister Kirche) in Hannover-List, die dort 1949 aufgestellt worden war. Sie stand dort als Provisorium bis zu ihrer Demontage im Jahre 1967 an der Stelle des alten, kriegszerstörten Kirchsaals zwischen erhalten gebliebenem Chor und Turm. Das heutige Aussehen der Matthäuskirche ist in seiner Vielschichtigkeit kaum zu überbieten: Zwischen den genannten historischen Bauteilen Eduard Wendebourgs Kirche von 1906 wurde in den Jahren 1971-1972 ein blockartiger, geschlossener Sakralbau der Architekten Gudrun und Klaus Vogel ausgeführt. Der Bau der 1970er Jahre schließt die Wiederaufbauzeit der Kirchen in Hannover ab: hier erfolgte die letzte Neubautätigkeit an einer vormals kriegszerstörten Kirche. Die Besonderheit ist hier das massive, monolithische Aussehen der Außenfassade des Saals. Die Wände wurden vor Ort als Leichtbeton mit Zuschlagstoffen wie Blähschiefer, Hüttensand und Schmelzkammergranulat gegossen und nach dem Ausschalen maschinell abgespitzt. 2006-2007 erfolgte dann die bauliche Erweiterung der Gemeinderäume seitens der Architekten Carola Woelk und Matthias Wilkens in wiederum zeitgenössischer Architektursprache der 2000er Jahre.
Blicken wir nun wieder zurück in die Zeit des Wiederaufbaus. Bereits in den 1950er Jahren stabilisierte sich die gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage in den drei westlichen Besatzungszonen. Mit dem Einsetzen des Marshallplans, der Währungsreform und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland waren neben anderen Aspekten viele Grundlagen für eine Situation des stetigen Wirtschaftswachstums und des neuen gesellschaftlichen Wohlstands geschaffen worden, die bis in die frühen 1970er Jahre anhielt und heute als „Wirtschaftswunder“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Als wahres „Kirchbauwunder“ der Zeit hat sich in Hannover-Linden die Ev.-luth. St. Martinskirche überliefert. Am Ort der alten, im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kirche wurden die ruinösen Reste zum Zwecke eines Kirchenneubaus abgetragen, nur der alte, campanileartig freigestellte Turm wurde in die Wiederaufbauplanungen miteinbezogen. In den Jahren 1955-1957 entstand durch den Architekten Dieter Oesterlen ein für den Nachkriegskirchenbau in der Bundesrepublik Deutschland wegweisender Kirchsaal. Hier manifestierten sich die Forderungen der Nachkriegsgeneration von Theologen und Gestaltern nach einer Neuausrichtung im Kirchenbau. Vieles, was in Nachfolge der vier ersten Evangelischen Kirchenbautagungen in Hannover, Bielefeld, Berlin-Spandau und Lübeck besprochen und erarbeitet worden ist, floss in die auf der Kirchenbautagung in Rummelsberg (Mittelfranken) 1951 formulierten „Grundsätze für die Gestaltung des gottesdienstlichen Raumes der evangelischen Kirchen“ ein. Aspekte wie die der gottesdienstlichen Besinnung, der sich von der inneren „Idee“ und vom Grundriss her entwickelnden Baugestalt, der Errichtung nicht allzu großer Kirchen, der Abschwächung städtebaulicher Prämissen und Aussagen, der Beziehungen von Kanzel, Lesepult und Altar sowie Taufe zueinander, der Nutzung der Kunst im Dienste der Verkündigung, wurden im sogenannten „Rummelsberger Programm“ als hilfreiche „Leitlinien“ zusammengeführt. Am Bau der Martinskirche in Linden sind einige dieser genannten Punkte deutlich ablesbar. So bestehen die Seitenwände der Kirche, die ihre Kraft aus ihrer inneren Wirkung schöpft, aus auf Lücke gesetzten Betonsteinen (mit transluzenter Festverglasung zwischen den Steinen) mit Zuschlägen aus Werksteinsplitt. Die Ständer der Kirchendachkonstruktion, zwischen denen die Betonsteinfassade liegt, sind aus Stahlbeton gefertigt und an den Seitenwänden von innen und außen sichtbar. Die stirnseitigen Wände der Kirche sind fensterlos, im Grundriss leicht winkelartig ausgebildet und bestehen aus roten Backsteinen. Die Dachkonstruktion des Saalbaus hat die konstruktiven Möglichkeiten des Stahlbetonbaus der 1950er Jahre in unvergleichlicher Art und Weise ausgereizt. Es liegt ein sehr dünnes Traggerippe aus einem System von Dreigelenkrahmen aus Stahlbeton vor. Durch die Gestaltung und das statische System entsteht in der Deckenuntersicht ein netzartiges System aus Dreiecken und Rauten. Zu beiden Seiten des Altars sind die Seitenwandflächen der Kirche komplett „aufgeglast“. Die St. Martinskirche ist eine der ersten Kirchen in Deutschland, die das Konzept der "klassischen" Wegekirche – einem in all seinen Elementen streng auf den Altar und das Licht ausgerichtetem, meist längsaxialem Sakralbau – verlässt und auf eine Gestaltung der Zone hinter dem Altar mittels Chorausbildung und Chorfenster verzichtet. Die Altarwand stand somit nicht mehr nur alleine für Glaskunst, sondern für andere, großflächige Gestaltungen zur Verfügung. Bereits im Rahmen einer der ersten fachlichen Gesamtbetrachtungen der Nachkriegszeit wird Oesterlens Beitrag zum Kirchenbau hochgelobt. Aus der Publikation von Hugo Schnell „Der Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in Deutschland“ aus dem Jahre 1973 sei hier (eine Stelle auf Seite 136) zitiert: „[Die ausgereifteste ev. Kirche im Rheinland schuf Dieter Oesterlen: die Christuskirche in Bochum 1957/59]; vorangegangen war im Bereich der ev.-luth. Landeskirche Hannover [sic] die Martinskirche in Hannover-Linden, ein Bau von befreiender Raumweite, der von liturgischen und stilistischen Neuerungen geprägt wurde.“ Die Architektur nimmt daneben auch durch die – aus dem Werk Oesterlens wohlbekannte – kontextuelle Bezugnahme der Neubauten auf historische Bestandteile der alten Stadt eine Sonderstellung ein. Vom Künstler Claus Arnold stammt die großformatige künstlerische Ausstattung der Kirche: die Buntglasfenster seitlich des Altars, die Altarwand (handwerklich gemauerte Reliefwand mit Darstellung der zwölf Tore des himmlischen Jerusalems) und Emporenbrüstung mit Relieffries in Betonguss (Szenen aus der Heilsgeschichte). Das Relief an der Chorwand gilt, nach Hugo Schnell, als eine der ersten groß angelegten Kompositionen dieser Zeit.
Mit der katholischen St. Adalbertkirche in Hannover-Leinhausen hat sich ein seltener und eigentümlicher Bau der 1950er Jahre erhalten. Die wohl erste skulptural durchgeformte Kirche Hannovers wurde auf ellipsoidem Grundriss aus vor Ort gegossenem Stahlbeton errichtet. Es handelt sich um eine zentralbauartige Wegekirche, die vom Architekten Paul Wolters in den Jahren 1957-1958 erbaut worden ist. Der stützenfreie Kirchsaal wird von einer innen glatt verkleideten Stahlrohrfachwerkdecke überspannt, die statisch nur auf wenigen Punkten ablastet und somit Lichtöffnungen zwischen den Außenwandoberkanten und der Deckenunterseite ermöglicht. Auch hier wurde auf eine Befensterung der Altarwand verzichtet und ein großformatiges Sgraffito von Hans Kuhn nimmt den prominenten Platz ein. Im Äußeren erinnert der Bau entfernt an Le Corbusiers weltbekannte Wallfahrtskapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp im Osten Frankreichs, erbaut in den Jahren 1950-1955.
Gab es in den 1950er Jahren nur vereinzelt Kirchen, an denen in liturgischer und gestalterischer Hinsicht wirklich Neues ausprobiert worden ist, so ändert sich die Situation ab 1960. In diesem Zusammenhang dürfen die Nachwirkungen der damaligen Liturgiereform in der römisch-katholischen Kirche, die vom Namen her in Verbindung mit dem Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils 1963 bekannt geworden sind, nicht außer Acht gelassen werden. Ohne Geschichte und Wirkung der übrigens auch seitens der evangelischen Kirchen sehr intensiv wahrgenommenen Reform an dieser Stelle in ihrer ganzen Bandbreite darstellen zu können, muss auf einige liturgiebezogene Änderungen im katholischen Kirchenbau hingewiesen werden: die Stellung des Altars sollte so abgeändert werden, dass ein Umschreiten des Altars möglich gemacht und die Messe seitens des Priesters auch „mit dem Gesicht zur Gemeinde“ abgehalten werden kann, auf Seitenaltäre sollte möglichst verzichtet werden und in Neubauten sollten diese vorwiegend in separaten Seitenkapellen positioniert werden. Alle Änderungen gründen in der Absicht, der Gemeinde eine stärkere Teilnahme an der Liturgie zu ermöglichen. Diese, in ihrer Wirkung als eine Art „Hierarchieabbau“ und „Demokratisierung“ der Kirche wahrgenommene Reform, lässt sich baulich gut in der katholischen Kirche St. Michael in Hannover-Wülfel des Architekten Franz-Otto Lutz aus den Jahren 1968-1969 ablesen.
Die Jahre des gesellschaftlichen Wandels brachten nicht nur inhaltliche Neuerungen sondern – verbunden mit der Bezeichnung „Bauboom“ – auch extreme quantitative Entwicklungen im Kirchenbau hervor. Mit zunehmendem Bautempo – beispielsweise wurden von den 33 Ev.-luth. Kirchen der Bauzeit 1949-1979 alleine 22 in der Zeit zwischen 1960-1969 errichtet – ging eine zeittypische Technikbegeisterung und baukonstruktive Experimentierfreude einher. Zur Erfüllung der zahlreichen Bauaufgaben wurde auf viele unterschiedliche, teilweise auch überregional tätige Architekturbüros zurückgegriffen. In Summe wurden in Hannover formal und konzeptionell diverse Wege eingeschlagen.
Im Stadtteil Mittelfeld ist ein ganz besonderer „Kirchbauschatz“ der Nachkriegszeit überliefert. Hier wurden im Zeitraum nach 1949 im Zusammenhang mit der Baumesse Constructa (1951) sehr viele Wohnungsbauten für Geflüchtete aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, vor allem für aus Schlesien stammende Flüchtlingsfamilien, errichtet. Weil es sich bei mehr als einem Drittel der Heimatvertriebenen in Niedersachsen um Schlesier handelte, übernahm das Bundesland ab 1950 die Patenschaft für die Landsmannschaft. In den folgenden Jahren fanden die „Schlesiertreffen“ mit mehreren hunderttausend Teilnehmern auf dem südlich benachbarten Messegelände statt. Der Bereich um die in Hannover-Mittelfeld gelegene Ev.-luth. Gnadenkirche zum Heiligen Kreuz wird heute noch durch zahlreiche, schlichte Wohnungsbauten der Nachkriegszeit geprägt. Die Entstehung des heutigen Kirchbaus ist damit auch hier eng mit den Einflüssen des Zweiten Weltkriegs auf die Stadt und die Bevölkerung und mit den durch Flucht und Vertreibung stark ansteigenden Gemeindegliederzahlen verbunden. In Folge der Kriegseinwirkungen waren viele alte Kirchen in der Umgebung beschädigt worden. Am nahe gelegenen Rübezahlplatz entstanden 1951 als kirchliche Einrichtungen ein Kindergarten und ein Mitarbeiterwohnhaus mit Kirchsaal. Da die bisherigen, provisorisch genutzten Räumlichkeiten für die gemeindliche Arbeit nicht mehr ausreichten, wurde 1959 am Lehrter Platz der Grundstein für den Neubau eines Gemeindehauses und einer Kirche gelegt. Kirche und Turm wurden 1959-1962 zusammen mit dem Gemeindehaus errichtet. Als Architekten zeichneten der Stadtkirchenbaumeister Gerhard Stade in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Lorey und Karl Hett verantwortlich. Stade war in seiner Funktion als Stadtkirchenbaumeister eine für den evangelisch lutherischen Nachkriegskirchenbau in Hannover prägende Figur und maßgeblich am Wiederaufbau bedeutender Kirchen und an der Abwicklung vieler kirchlicher Neubaumaßnahmen beteiligt. Die reich ausgestattete Gnadenkirche zum Heiligen Kreuz bezieht sich namentlich auf die Kirche im schlesischen Militsch, dem heutigen Milicz in Polen, und die Tradition der sogenannten Gnadenkirchen in jener Region. Mit der evangelischen Gemeinde in Militsch gab es eine langjährige Partnerschaft und bis in die 1990er Jahre hinein zudem regelmäßige "Heimatgottesdienste" mit Bezug zur schlesischen Liturgie. Unter den vielen bekannten Künstlern, die an der Gestaltung der Gnadenkirche beteiligt waren, sind vor allem die Bildhauer, Maler und Glasgestalter Hans-Jürgen Breuste, Werner Brenneisen und Hans Gottfried von Stockhausen, weiterhin auch die Bildhauer und Metallgestalter Fritz Fleer und Friedrich Marby zu nennen. Die Architektur der Kirche ist in vielerlei Hinsicht beispielhaft und Ausdruck einer experimentierfreudigen Zeit um 1960 im gestalterischen Spannungsfeld zwischen Tradition und Erneuerung. Es liegt einerseits ein basilikaler, annähernd geosteter Kirchenbau im Typ einer Wegekirche vor. Die Kirche verfügt über traditionelle Elemente wie Unterkirche, Vorhalle, orthogonal am Mittelgang ausgerichtete Holzbänke und eine symmetrische Emporensituation. Andererseits zeichnet sich das Achsmaß der Konstruktion im Bereich des Obergadens in eher technisch zukunftsweisender Art und Weise ebenso wie die Verwendung moderner Materialien und die Gliederung in Funktionseinheiten deutlich nach außen hin ab. Ebenso "hybrid" stellt sich die Positionierung des Glockenturms dar. Der hochschlanke Betonturm steht leicht abgerückt aber dennoch baulich verbunden an der Nordwestecke des Kirchenbaus. Hinsichtlich der Entwicklung der Kirchbaugeschichte ist hier Anfang der 1960er Jahre die klare Tendenz eines Abrückens der Türme von den Kirchsälen erkennbar. Die Wirkung der liturgische Besonderheiten betonenden Grundrisslösung und der gewählten Bauformen wird durch die sensible Lichtführung und die gefühlvoll eingesetzten Materialitäten effektvoll gesteigert. Auch aufgrund der hochwertigen Ausstattung mit Kunstgut bedeutender Künstler ist die Kirche als einer der wichtigsten Bauten seiner Zeit in Niedersachsen zu bezeichnen.
Bei Betrachtung der künstlerischen Ausstattung der evangelisch-lutherischen Kirchen der 1960er Jahre fallen die Werke einiger vielbeschäftigter Protagonisten besonders auf. Zu nennen sind hier beispielsweise die Arbeiten Fritz Kühns an der Bugenhagenkirche (Hängekreuz, Türgriffe, Portal), das Hängekreuz in der Auferstehungskirche von Siegfried Zimmermann und die dortige großflächige Fenstergestaltung von Gerhard Hausmann, das Hängekreuz von Wolfgang Kreutter in der Gerhard-Uhlhorn-Kirche (heute verhüllt) oder das Hängekreuz der Gnadenkirche zum Heiligen Kreuz von Fritz Fleer. Auf die besondere Bedeutung der Präsenz der Darstellung des gekreuzigten und auferstandenen Christus für die Evangelisch-lutherischen Gemeinden hatte das genannte „Rummelsberger Programm“ bereits 1951 verwiesen.
Neben der damals oft formulierten Freude über viele gelungene Beispiele neuer Kirchen in Hannover lassen sich aber auch deutlich kritische, zeitgenössische Untertöne vernehmen. Angesichts des oben bereits beschriebenen Bautempos – für die Evangelisch-lutherische Kirche in Hannover wird das Baugeschehen zwischen 1960 und 1964 mit 18 (!) in diesem Zeitraum fertiggestellten Neubauten wohl für immer als „rekordträchtig“ anzusehen sein – verwundert die im Rahmen der 13. Evangelischen Kirchenbautagung 1966 in Hannover formulierte Aussage, dass es so in diesem Tempo nicht weitergehen kann und wird, nicht. Hinterfragt wurde im Rahmen der Tagung auch, ob angesichts neuer liturgischer Konzepte – die eine lebendige Kirche und zwar mitten in der Gesellschaft forderten – wie zum Beispiel der „Ladenkirche“ oder in Hinblick auf das damals sehr präsente Schlagwort der „Entsakralisierung“ die Gesellschaft zukünftig überhaupt neue Kirchenbauten nach bewährtem Vorbild als gebaute Architektur benötigen würde? Insofern klangen im Motto der Tagung „Tradition und Aufbruch im evangelischen Kirchenbau“ die damals relevanten Fragestellungen in vielschichtiger Art und Weise an.
Die gesellschaftspolitischen Entwicklungen der späten 1960er Jahre bilden sich auch in der bundesdeutschen Architektur der Zeit ab. Überkommenes wird sehr stark in Frage gestellt, wiederum werden neue gestalterische Ausdrucksmöglichkeiten gesucht. Mit Traditionslinien wird gebrochen. Im Kirchenbau wird selbstbewusst das Material Sichtbeton, oft skulptural-großflächig und schalungsgetreu, pur nach außen hin gezeigt, der Bau von (hohen) Kirchtürmen kommt aus der Mode. Das komplexe Kirchenzentrum bindet gemeindliche Funktionen wie Kirchsaal, Pfarrhaus, Gemeindeverwaltung, Kindergarten, Gemeindesaal, Bibliothek – manchmal sogar unter einem Dach – zusammen. Ein sprechendes Beispiel für die Zeit ist das hannoversche Heilig-Geist-Kirchen-Gemeindezentrum. Auch die Entstehung der Ev.-luth. Heilig-Geist-Kirche in Hannover-Vahrenwald ist natürlich eng mit den Einwirkungen des Zweiten Weltkriegs auf den Stadtteil verbunden. Durch die Nähe zu Industrieanlagen und Bahnlinie waren Vahrenwald und die dortigen alten Kirchen in Folge der Bombardierungen der Alliierten besonders stark beschädigt worden. Dies machte auch hier den Bau einer neuen Kirche notwendig, zumal das städtebauliche Umfeld in den ersten Nachkriegsjahrzehnten überwiegend von neuen Wohngebäuden geprägt wurde und es in der Nachbarschaft keine geeigneten Räumlichkeiten gab, die die merklich größer gewordene Kirchengemeinde für ihre Zwecke nutzen konnte. Verschiedene Einsparungsüberlegungen mündeten in der Konzeptidee, den Kindergarten im Untergeschoss der Kirche unterzubringen und die Baumassen zu stapeln. Es entstand ein flach gedeckter Bau, der mit Teilen des Gemeindezentrums und des im Untergeschoss befindlichen Kindergartens eine bauliche Einheit bildet. Die besondere Gestalt des Baukörpers ist aus den inneren Funktionen heraus entwickelt, die Gebäudeecken sind abgerundet, ein Dach-Deckenelement greift als plastisch geformte „Hand“ in den Raum des Kirchenvorplatzes aus. Die Bauten des Architekten Hans Siegfried Laessig wurden 1976 eingeweiht. Beispielhaft wird hier an den Objekten ein Paradigmenwechsel im Bauschaffen der Zeit um 1970 deutlich: es vollzieht sich ein gestalterisch-konzeptioneller Wandel, weg vom Funktionalismus der 1960er-Jahre und hin zu komplexeren Baukörpern und Grundrissen, der Beton darf zeigen wie er gemacht (nämlich geschalt) worden ist, den Nutzern werden Pfade durch die Objekte angeboten, Rampen und Stufen lassen kontinuierliche Raumnutzungen auf verschiedenen Ebenen zu. Stark farbige Teppichböden und neue Materialitäten wie gebogene Kunststoffteile an der Orgel treten in Erscheinung. Der Bau wird dem damals formulierten Bedarf nach einem vielseitig nutzbaren kirchlichen Raum für verschiedene Arten der gemeindlichen Zusammenkunft gerecht. Neue Materialien und Baukonstruktionen, neue Formen künstlerischen Ausdrucks sollten dem gelebten Glauben in einer neuen demokratischen Gesellschaft Ausdruck verleihen. Der Bildhauer Helmut Rogge schuf Kanzel und Altar sowie die Großplastik an der Altarrückwand aus Metall. Weiterhin auch die Großplastik über der Rampe zum Kircheneingang am Außenbau der Kirche (1989). Das Taufbecken wurde nach einem Entwurf von Laessig gefertigt. In der Entwicklungsgeschichte der niedersächsischen Sakralarchitektur nimmt auch dieser Kirchenbau aufgrund der beispielhaften Ausprägung der Außenfassaden aus Beton und des Innenraums der Kirche (innenräumliches Gesamtkunstwerk im Saal mit verschiedenen Fußbodenebenen und der künstlerischen Gestaltung der Prinzipalstücke von Rogge) sowie der Gesamtformensprache eine Sonderstellung ein. Die Architektur ist nur bedingt mit wenigen zeitgleichen Lösungen in Niedersachsen vergleichbar. Die zeittypischen Tendenzen der (Kirchen-)Zentrumsbildung sind deutlich erkennbar.
Im Rahmen des denkmal.themas „Nachkriegskirchen in Hannover“ werden an dieser Stelle zunächst 13 denkmalgeschützte Bauwerke der Entstehungszeit 1949-1976 vorgestellt. Die präsentierten Kulturdenkmale stellen hinsichtlich der städtebaulichen Einbindung, der Bauformen, der verwendeten Konstruktionen und Materialien, der innen- und außenräumlichen Gestaltungsansätze und der liturgischen Aussagen einen anschaulichen Querschnitt des kirchlichen Bauschaffens der Epoche in der Landeshauptstadt dar.
Anmerkung:
Für den Text muss ergänzt werden, dass es im Rahmen dieser „denkmal.thematischen“ Einleitung nicht möglich ist, alle Aspekte des Nachkriegskirchenbaus in der Landeshauptstadt Hannover umfänglich und ausschöpfend abzuhandeln. Die Betrachtung der Entstehungsgeschichte der verschiedenen neuen Kirchengemeinden, der stadtplanerischen Aspekte und Einflussnahmen, der Arbeit der kirchlichen Bauverwaltungen, der Besonderheiten der Finanzierung der vielen Bauten und deren Ausstattung, der jeweiligen Findung und Beauftragung der Architekt*innen und der für die Ausstattung verantwortlichen Künstler*innen, der zeittypischen liturgischen Neuerungen und Kunstauffassungen sowie der gestalterischen Einflüsse aus dem In- und Ausland wäre nur in einem großen Forschungsprojekt zu bewerkstelligen und innerhalb einer größeren Publikation darzustellen. Auch der (relativ kleine) örtliche Bereich, in dem sich die vorgestellten Kirchen befinden, stimmt nicht mit dem (jeweils viel größerem) Wirkungsbereich der kirchlichen Verwaltungen überein. Wichtige Orte, Bauten und Gestaltungen in der Region Hannover bleiben daher unerwähnt. Schwierig erscheint auch die Eingrenzung auf den Betrachtungszeitraum zwischen 1945 und 1979, denn viele Entwicklungslinien beginnen bereits in der Zeit der 1930er Jahre mit ersten gemeindlichen Überlegungen zu Kirchenneubauten. Alleine die restriktiven gesellschafts- und baupolitischen Voraussetzungen der nationalsozialistischen Diktatur haben einen Neubau mancherorts nicht früher zustande kommen lassen. Weiterhin wirken die kirchbautheoretischen wie liturgischen Grundlagen der früheren Nachkriegszeit sowie der 1960er und 1970er Jahre freilich bis in die 1980er und 1990er Jahre hinein nach (z.B. im Falle der Kirchenzentren). Ein Desiderat bleibt auch die Beschäftigung mit den Nachkriegskirchen und -Kapellen der Krankenhäuser und der Friedhöfe in Hannover. Gleiches gilt natürlich ebenso für die Kirchen der Bauzeit zwischen 1980-2000. Letztlich war eine fachliche Bewertung der Wiederaufbauleistung an den und des denkmalpflegerischen Umgangs mit den kriegsgeschädigten alten Kirchen in Hannover in der Zusammenschau bislang noch nicht darstellbar. Es war also nur möglich, einige Hauptlinien eines weitaus größeren „Bildes“ nachzuzeichnen.
Zum Weiterlesen (chronologisch):
- Gerhard Kunze (Hrsg.): Evangelischen Kirchenbau vor neuen Aufgaben. Bericht über die erste Kirchenbautagung in Hannover. Göttingen 1949
- Hartmut Johnsen (Hrsg.): Tradition und Aufbruch im evangelischen Kirchenbau. Evangelische Kirchenbautagung in Hannover 1966. Hamburg 1967
- Verlag Edgar Hartmann (Hrsg.): Städteforum 1/1970. Hannover. Städtebau. Architektur. Wirtschaft. Osterode am Harz 1970
- Hugo Schnell: Der Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in Deutschland. München, Zürich 1973
- Hermann Boockhoff, Jürgen Knotz (Bearb.): Architektur in Hannover seit 1900. München1981
- Martin Wörner, Ulrich Hägele, Sabine Kirchhof (Bearb.): Architekturführer Hannover. Berlin 2000
- Wolfgang Puschmann (Hrsg.): Hannovers Kirchen. 140 Kirchen in Stadt und Umland. Hannover 2005
- Kerstin Wittmann-Englert: Zelt, Schiff und Wohnung. Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne. Lindenberg im Allgäu 2006
- Helmut Knocke, Hugo Thielen: Hannover. Kunst- und Kulturlexikon. Handbuch und Stadtführer. Springe 2007
- Klaus Mlynek, Waldemar R. Röhrbein (Hrsg.): Stadtlexikon Hannover. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hannover 2009
- Lavesstiftung (Hrsg.): Aufbruch. Architektur in Niedersachsen 1960 bis 1980. Berlin 2017
- Hans-Georg Aschoff, Thomas Scharf-Wrede (Hrsg.): Katholisch in Hannover. Menschen – Geschichten – Lebenswelten. Regensburg 2019