Die Wiederherstellung der St.-Petri-Kirche in Buxtehude im 19. Jahrhundert: Neogotische Entwurfs- und Restaurierungskonzepte in Backstein

Von Judith Ley

„Ihre Kirche ist einen sehr merkwürdige und interessante, und gehört eine Familie an, welche einem gewissen District Deutschlands eigenthümlich ist. Sie verdient um ihrer selbst willen sorgfältige Erhaltung und ihre Wiederherstellung sollte ausgeführt werden in genauer Uebereinstimmung mit den Ueberlieferungen (wenn ich so sagen darf) der Familie von Kirchen derer Glied sie ist, …“

Georg Gilbert Scott, Gutachten über die Kirche in Buxtehude, London 23. Dezember 1853

Der englische Architekt Georg Gilbert Scott (1811 – 1878) richtete diesen Satz in seinem Gutachten über den kritischen statischen Zustand der gotischen Backsteinbasilika St. Petri in Buxtehude an den Vorstand der evangelischen-lutherischen Kirchengemeinde. Scott hatte sich bereits in England als Vertreter neogotischer Architektur vor allem für den Bau und die Renovierung von Kirchen einen international bekannten Namen gemacht. Als 1842 bei dem verheerenden Stadtbrand Hamburgs auch die Hauptkirche St. Nikolai zerstörte wurde, lobte der dortige Kirchenvorstand einen Wettbewerb zu deren Wiederaufbau aus, woraufhin ab 1846 Scotts neogotischer Entwurf realisiert wurde. Im Jahr 1853 war Scott auf die andere Elbseite nach Buxtehude gerufen worden, weil der Westturm von St. Petri infolge eines Blitzschlags abgebrannt war. Scott begutachtete bei seinem Besuch außer dem Turmstumpf auch die Außenmauern des Langhauses, zu denen er schrieb: „ich erinnere mich in der That nicht, jemals so ungemein starke Ausweichungen gesehen zu haben.“

Die dreischiffige gotische Backsteinbasilika war etwa um 1300 auf einer Sandinsel in der nur wenige Jahre zuvor im Marschgebiet der Elbe gegründeten mittelalterlichen Planstadt Buxtehude errichtet worden. Um einen lichten Innenraum zu schaffen, sparten die mittelalterlichen Baumeister der Kirche nicht an Höhe jedoch wegen des unsicheren Untergrundes an Gewicht. Die Außenmauern der Kirche sind daher auf nur etwa 2,5m hohen Fundament aus gemauerten Bögen gegründet worden und der Schub der Mittelschiffgewölbe wurde allein durch Zuganker abgefangen, die im Innenraum als Holzbalken sichtbare waren. Dieses statische Wagnis war im Lauf der Jahrhunderte immer mehr aus dem Gleichgewicht gekommen.

Um einen Einsturz der Kirche zu vermeiden, wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei große Wiederherstellungsmaßnahmen vorgenommen. Ihre Geschichte soll hier exemplarisch belegen, wie sich die Entwurfs- und Restaurierungskonzepte neogotischer Backsteinarchitektur in diesem Zeitraum veränderten.

Der Wiederaufbau des Westturms 1853 bis 1859

Anstelle des abgebrannten oktogonalen Turmoberbaus mit barocker Welschen Haube entwarf der sonst unbekannte Hamburger Architekt J. Wimmel einen achteckigen neogotischen Turm mit Strebepfeilern, lanzettförmigen Schallluken, Wimpergen und einem hohem Spitzhelm. Er wurde von 1853 bis 1859 aus den modernen Baumaterialen seiner Zeit errichtet: genormten Industrieziegeln, zementhaltigem Mörtel und gusseisernen Industriefenstern. Heute nicht mehr erhaltene Wimperge leiteten optisch vom breiten mittelalterlichen Turmunterbau zum neuen Turmoberbau über. Auf der Westseite betonte der Wimperg zusammen mit einem neuen hohen Maßwerkfenster und einem Archivoltenportal die vom Flett der Stadt sichtbare Mittelachse des Turms.

Scotts bereits 1846 begonnener und 1874 mit dem damals höchsten Turm der Welt vollendeter Bau der Nikolaikirche in Hamburg zeichnet sich durch seine filigrane gotische Formensprache und die verwendeten Materialien aus: gelber Backstein, Sandstein und Marmor. Er hat jedoch nichts mit der norddeutschen Backsteinarchitektur gemein. Wimmel entwarf nun – den Hinweisen Scotts folgend – einen gotischen Turm aus roten Backsteinen. Er ahmte aber weder die Backsteinbauweise des Mittelalters nach, noch orientierte er sich an Baubefunden. Er entwickelte vielmehr die gotischen Formen aus der industriellen Bauweise seiner Zeit neu. Die Firmen hierfür waren infolge des Wiederaufbaus Hamburgs auch in der unmittelbaren Nähe von Buxtehude vorhanden.

Die Stärke von Wimmels Entwurf liegt in der konsequenten abstrakten Umsetzung und Vereinfachung der bekannten Formen gotischer Türme in die Backsteinbauweise seiner Zeit. Das schöpferische Entwerfen zur Wiederherstellung eines idealisierten Gesamtbildes war in der Frühphase der Denkmalpflege ein gängiges Prinzip. Der Turmbau in Buxtehude gehört somit als Beispiel mit zu den Anfängen des neogotischen Bauens in Backstein.

Die Wiederherstellung des Langhauses 1888 bis 1899

In den folgenden Jahrzehnten wurden die Entwurfskonzepte für neogotische Kirchenbauten zusammen mit neuen denkmalpflegerischen Vorstellungen durch die zahlreichen Vertreter der Hannoversche Architekturschule im norddeutschen Raum bis zur Perfektion ausgebildet und in vielen Facetten ausgeführt. Der Begründer der Architekturschule, der Architekt Conrad Wilhelm Hase (1818 – 1902), war ab 1863 auch Konsistorialbaumeister der Hannoverschen Landeskirche.

Er selbst stellte 1866 in einem Gutachten fest, dass die Seitenschiffe der St.-Petri-Kirche in Buxtehude abgebrochen werden müssten, das Mittelschiff aber stehen blieben kann. Die Wiederherstellungsarbeiten leitet schließlich der Architekt Karl Börgemann (1851 – 1938). Als ein Schüler und späterer Büromitarbeiter und Bauleiter von Hase besaß Börgemann fundierte Kenntnisse über gotische Backsteinarchitektur und erstklassige Erfahrungen im Kirchenbau. Auf ihnen gründete sein mehrfach ausgezeichnetes Werk als selbständiger Architekt.

Er ließ die statisch gefährdeten Wände der St. Petri-Kirche 1898 bis 1899 bis auf die Fundamente abgetragen und wiedererrichten. Es handelt sich hierbei um den gesamten Chor, beide Seitenschiffe, die Sakristei und das Brauthaus. Eine Reihe von erhaltenen Skizzen und Bauzeichnungen aus den Jahren 1888 bis 1897, geben Auskünfte darüber, wie die Planung dieser Maßnahme von Börgemann durchgeführt wurde. Sie zeigen, dass 1888 auf der Grundlage eines erneuten Gutachtens über die zu ergreifenden Maßnahmen zur Sicherung der Statik diskutiert wurde. Realisiert wurde Variante B, die Fortnahme der Verankerung aus dem Kirchenraum und die Sicherung durch eine zusätzliche Eisenkonstruktion oberhalb der Gewölbe. Die Variante A, der Bau von Strebebögen, wurde verworfen.

1891 erfolgte ein genaues Aufmaß der Kirche, das uns ihren ursprünglichen Zustand sehr detailliert überliefert. Auf dieser Grundlage wurde im selben Jahr ein erster Entwurf für eine Wiederherstellung der Kirche entwickelt. Er orientierte sich für die Seitenschiffe und den Chor so genau an der alten Bausubstanz, dass heute kaum auffällt, dass die Außenmauern der Kirche nicht mehr mittelalterlich sind. Nur die aus verschiedenen Zeiten stammenden Anbauten, das Brauthaus, die Sakristei und das Heizungshaus wurden in gotischen Formen neu entworfen, zum Teil in Anlehnung an historische Abbildungen, um sie an das mittelalterliche Erscheinungsbild der Kirche anzupassen.

1893 wurden die Detaillierungen geplant. Das Klosterformat der mittelalterlichen Backsteine wurde übernommen, um daraus die neuen Formsteine zu entwickeln, die Reste der Fenster dokumentiert, um das verlorene Maßwerk zu rekonstruieren und die Portale nach altem Schema neu entworfen. 1897 ist der Entwurf der Kirche noch einmal modifiziert worden, u.a wurde der Dachreiter eingespart. Auch die Arbeiterbude wurde gekürzt, wie ausradierte Linien auf der Zeichnung belegen. Gebaut wurde 1898 bis 1899.

Auch bei den Entwürfen für den Innenraum der Kirche orientierte sich Börgemann an der vorhandenen historischen Ausstattung. Aus dem zu einem großen Teil aus dem 16. Jahrhundert stammenden Kastengestühl hatte er nach altem Muster eine gleichmäßige Bankordnung entwickelt. Der barocke Hochaltar und die Kanzel waren belassen worden, auch wenn letztere neben den Chorraum versetzt werden sollte.

Börgemann folgte in seinem Vorgehen für die Wiederherstellung der Petri-Kirche Vorstellungen, die sich in einer um 1900 national geführten fachlichen Denkmalpflege-Diskussion immer mehr durchsetzten: Auf der Grundlage einer eingehenden Dokumentation in seinem Entwurf das Alte zu erhalten und alle Zeitschichten zu achten, d.h. außer der Gotik auch die Renaissance- und Barockausstattung. Er bewahrte damit, was bis heute den Charakter und den Charm der die St.-Petri-Kirche ausmacht: Die Ablesbarkeit ihrer langen Geschichte, die von der Gemeinde durch die Nutzung des Kirchenraums weitergetragen und gelebt wird.

Die Neugestaltung des Innenraums 1899-1901

Als die Baumaßnahmen bereits im Gang waren, wurde der Entwurf für die Innenausstattung der Kirche 1899 und 1900 von dem unbekannten Aachener Architekten W. Becker jedoch noch einmal überarbeitet. Von ihr ist heute nichts mehr erhalten. Sein Entwurf kann aber anhand der überlieferten Zeichnungen und Fotos nachvollzogen werden.

Im Gegensatz zu Börgemann sah Becker eine reiche dekorative Ausschmückung vor. Er entwarf neue, freistehende Kirchenbänke und eine florale Ausmalung, die Wände und Gewölbe überzog. Die barocke Kanzel und der Hochaltar blieben weiterhin erhalten, wurden aber weiß gestrichen, damit sie sich von der ebenfalls kleinteiligen und bunten Umgebung absetzten. Zusätzlich wurden von der Firma Lauterbach und Schröder aus Hannover neue Buntglasfenster geschaffen. Baulich war der massivste Eingriff der Einbau einer großen, aus Backsteinen gemauerten Sängerempore. Sie lagerte auf einem flachen Bogen auf, der zwischen den Pfeilern des westlichen Jochs des Kirchenschiffs eingespannt war. Die handwerkliche Ausführung und die der Gotik entlehnten Ornamentik dieses neuen Innenraumdesigns erinnern an die Ideen der aus England stammende Arts and Crafts Bewegung. Diese forderte als Gegenreaktion auf die industrielle Massenproduktion eine Erneuerung des Kunsthandwerks, u.a. in gesellschaftlicher Anlehnung an die Kunsthandwerkergilden des Mittelalters.

Warum es zu dieser Neuplanung für den Innenraum kam, ist nicht bekannt. Möglicherweise entsprach das eher nüchtern-bewahrende Konzept Börgemanns nicht den Vorstellungen der Buxtehuder von einer angemessenen sakralen Atmosphäre für ihren Kirchenraum. Wie der Entwurf Börgemanns folgte aber auch der Entwurf Beckers den Empfehlungen des Eisenacher Regulativ. In diesem waren 1861 auf der in Eisenach stattfindenden Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz von Theologen und Bauräten Regularien zur Gestaltung evangelischer Kirchen festgehalten worden. Zu diesen gehörte u.a. auch die Errichtung einer Westempore für Sängerchöre. Die dort empfohlene Anlehnung an mittelalterliche Baustile verhalf der Neogotik zu ihrem großen Siegeszug

Nachbetrachtung

Durch die neogotischen Wiederherstellungsmaßnahmen erhielt die St.-Petri-Kirche in Buxtehude weitere Zeitschichten, die sie zusätzlich zu einem Zeugnis für die Bau- und Restaurierungsgeschichte des 19. Jahrhunderts machen. Wie gezeigt werden konnte, beruht die Qualität vieler Baumaßnahmen aus dieser Zeit auf genauen Beobachtungen, eingehend durchdachten Entwürfen und wertbeständigem handwerklichem Können. Die Bedeutung der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bauten und Bauschichten wird jedoch noch heute häufig verkannt. Dieser Artikel soll zum näheren Hinschauen anregen, um deren Werte auch an anderen Kirchenbauten zu erkennen und bewusst zu bewahren.

Weiterhin übernehmen auch heute noch Kirchenvorstände in zeitaufwendiger ehrenamtlicher Arbeit die Verantwortung für den Erhalt der Kirchenbauten: Sie holen Gutachten ein, entscheiden zusammen mit den zuständigen Ämtern über die zu treffenden Maßnahmen, kümmern sich um die Finanzierung und vertreten die jeweilige Kirchengemeinde auf der Baustelle. In einer Zeit, in der die Mittel für diese Aufgabe immer geringer werden, gilt es nun neue Ideen für Konzepte und Synergien zu finden, um sie in angemessener Qualität fortführen zu können – und dies nicht allein um der bemerkenswerten und interessanten Kirchenbauten selbst willen, sondern um sie als Zeugnisse unserer Kultur, als Orte geistiger Besinnung und als Zentren sozialen Zusammenhalts zu erhalten.



Literatur:
Bernd Utermöhlen, Susanne Mayerhofer, Judith Ley: St.-Petri-Kirche Buxtehude, 2. neu bearbeitete Auflage 2019.
Carl-Wilhelm Clasen, Dieter Graßmann, Gottfried Kiesow, Reinhard Wortmann, Hans Wohltmann: Die Kunstdenkmale des Landeskreises Stade, München 1965, S. 166 – 205.
Georg Gilbert Scott: Gutachten über die Kirche in Buxtehude, abgedruckt mit einem Kommentar von Jürgen Michler in: Heimatliches Buxtehude, Bd. III, 1965, S. 131 – 137.


Fotos aus dem Kirchenarchiv der St.-Petri-Kirchengemeinde Buxtehude

Die bisher unpublizierten Bauzeichnungen der St.-Petri-Kirche Buxtehude aus den Jahren 1888 bis 1900 wurden jüngst im Kirchenarchiv der St.-Petri-Kirchengemeinde Buxtehude und im Archiv des Amtes für Bau- und Kunstpflege in Bremerhaven wiederentdeckt.

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