Die Siedlung Kornstraße in Osnabrück – Sozialer Wohnungsbau eines modernen Jungarchitekten in den 1920er Jahren
„Wo Sachlichkeit und Sauberkeit herrschen, kann sich auch der verwöhnteste Mensch aufhalten. Wo Licht, Luft, Bewegungsfreiheit, Ordnung, künstlerisch einwandfreie Raumgestaltung herrschen, da ist’s gut sein; da kann der Mensch gedeihen; da ist „Sozial“ gebaut worden.“
So lehrte es der Osnabrücker Architekt Justus Haarmann (1884 - 1968) in einem Vortrag vor Jungsozialisten und der Arbeiterjugend im Gewerkschaftshaus Osnabrück zu Beginn des Jahres 1928. Die 1920er Jahre waren eine Zeit, die einen grundsätzlichen Wandel in den Köpfen der Menschen und damit einhergehende neue Ansprüche an Wohnen, Leben und Arbeiten hervorbrachte. Doch nicht nur in Osnabrück, sondern landesweit waren die Folgen des Ersten Weltkrieges noch zu spüren und es wurde sich nach Veränderung und Erneuerung gesehnt, allem voran eine allgemeine Verbesserung der Lebens- und Wohnqualität. Der Wohnungsmarkt war erschöpft, Unterkünfte und Wohnkonzepte mussten neu entworfen und gedacht werden. Den Bedarf an Sozialwohnungen, den Wunsch nach erschwinglichen Mieten und auf die Bewohner optimal zugeschnittene Wohnverhältnisse, galt es in breiter Masse zu erfüllen. Die Idee des sozialen Wohnungsbaus erlebte einen Höhepunkt und festigte sich als zentrale Aufgabe der Architekten und Baugenossenschaften ab den 1920er Jahren. Bundesweit wurden Quartiere gestaltet und Wohnhauskomplexe entwickelt, Arbeiterviertel errichtet und sozial schwächere Bevölkerungsgruppen mit spezifischen Wohnansprüchen in den Fokus gerückt, die bis dato eher seltener als Zielgruppen für Bewohner neuer Siedlungen präsent waren.
„1) Bauherr: Dipl. Ing. Paul Thor, Osnabrück 2) Eigentümer: Der Bauherr 3) Entwurf und Bauleitung: Architekturbüro Dipl. Ing. Paul Thor, Osnabrück. 4) Ausführung: Baugeschäft Dipl. Ing. Paul Thor, Osnabrück.“ heißt es in der Baubeschreibung des Siedlungsbaus an der Kornstraße, niedergeschrieben in den Archivalien der Stadt Osnabrück. Dies gibt Hinweis darauf, wer für die Idee, Planung und Ausführung der Siedlung alleine verantwortlich zu sein scheint - der damals 28jährige Architekt Paul Thor.
Paul Friedrich Edouard Thor wurde am 17. Oktober 1901 (- 1982) in Osnabrück als eines von zehn Kindern in eine Familie hineingeboren, deren männliche Familienmitglieder sich vorrangig dem Bauhandwerk verschrieben hatten. Über seine Kindheit und Jugend sind kaum Informationen überliefert. Es liegen Vermutungen nahe, dass ihn insbesondere sein Vater Robert Thor in seiner Berufsauswahl sehr prägte, da dieser regional als Bauunternehmer bekannt war und das innenstädtische Stadtbild Osnabrücks unter anderem durch den „Thor’schen Durchbruch“ Am Jürgensort mitgestaltete. Erhoffte Folgeaufträge blieben aus, sodass Robert Thor später eher eine Nebenrolle bei dem Schaffen seines Sohnes zukam. Dieser verließ Osnabrück nachweislich als junger Erwachsener für einen temporären Zeitraum. Passakten im Landesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung Staatsarchiv Ludwigsburg, zeigen, dass er sich 1923 und 1926 in Stuttgart aufhielt. Über den Zweck seines Aufenthalts lassen sich nur Vermutungen anstellen. Möglich wäre, dass er entweder zuvor anderswo Architektur studiert hat und sich in Stuttgart für seine persönliche sowie berufliche Weiterbildung aufhielt – oder aber, dass er sein Architekturstudium in Stuttgart absolvierte und anschließend nach Osnabrück zurückkehrte. Ob als Studienort oder zur Weiterbildung – nachweislich ist, dass Paul Thor voller neuer Eindrücke durch seine Berührungspunkte mit der Moderne, die in Stuttgart wesentlich präsenter Einzug hielt als in seiner Heimat Osnabrück, und mit großer Energie und Motivation zurückkehrte. Bis heute gilt der Architekt Paul Thor als einer der „jungen Wilden“[1], einer Gruppe von (Jung-)Architekten, die couragiert neue Wohnkonzepte und insbesondere im Gestalterischen einen radikalen Umbruch im Siedlungs- und Privatwohnungsbau wagten.
[1] Artikel in der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 17.02.2015 „Zwei Häuser im Bauhaus-Stil am Westerberg“
Nach den Aufenthalten in Stuttgart an seinem Heimatort zurückgekehrt, errichtete Paul Thor vor der Siedlung in der Kornstraße zwei Villen am Westerberg, eine davon als Wohnhaus für die eigene Familie. Die Architektur der beiden Wohnhäuser weisen klare Merkmale des Neuen Bauens auf und stechen damit in Osnabrück beispielhaft hervor. Sie zeigen sich als weiße kubische Baukörper mit Flachdach in Hanglage, mit Backsteindekor, Übereckfenstern und Fensterbändern sowie unsymmetrischen Fassadengestaltungen mit Öffnungsgrößen je nach Funktion und Lage der Innenräume. Die Gebäude wirken straßenseitig verschlossen und monumental, in Richtung des Hanges öffnet sich der Wohnraum merklich und schafft mithilfe von Terrassen und diversen Abstufungen der Baukörper einen fließenden Übergang zwischen Innen- und Außenraum. Kleine bleiverglaste Fenster erinnern mit ihrer Farbgebung in den Primärfarben blau, gelb, rot (und weiß) an die Sachlichkeit des Rationalismus der niederländischen Künstlergruppe De Stijl. Beide Villen wurden auf Basis gleicher Gestaltmerkmale des Neuen Bauens errichtet, sind jedoch in ihrer Ausführung differenziert ausgebildet und damit einzigartig im Osnabrücker Stadtbild.
Mit Beginn des Jahres 1929, direkt anschließend an der Bau der Villen am Westerberg, wurden von Paul Thor erste Entwurfsplanungen eines städtebaulichen Quartiers in der Kornstraße entwickelt. Es begann ein zäher Genehmigungsprozess, in dem der verantwortliche Architekt sich als ein junger, konsequenter und sehr selbstbewusster Charakter behauptete, der zahlreichen Widerständen trotzte und an seinen modernen Entwurf glaubte. Die Gestaltung und Anordnung der Baukörper, die Gebäudehöhe, die Ausbildung von Flachdächern – all das schien dem Magistrat der Stadt Osnabrück ein Dorn im Auge. Es entsprach nicht dem seinerzeit üblichen Stadtbild und auch nicht der „baupolizeilichen Ordnung“, die beispielsweise die Anzahl und Höhen von Geschossen bei Neubauten zu dieser Zeit regelte und eine Verwendung von Flachdächern im Wohnungsbau nicht vorsah.
Thor erhielt abschließend dennoch die Baugenehmigung und plante die Errichtung des Siedlungskomplexes, den er zu großen Teilen aus seiner eigenen Tasche mit finanzieller Unterstützung seines Vaters, aufgestockt durch öffentliche Förderungen, bezahlen wollte. Umgesetzt wurde ein Quartier mit 45 Wohneinheiten, das sowohl aus städtebaulichen wie auch gestalterischen Gesichtspunkten seit seiner Erbauungszeit einzigartig und beispielhaft in Osnabrück ist. Die Siedlung ist als Gruppe baulicher Anlagen gemäß § 3 Abs. 3 S. 1 NDschG geschützt und seit 1985 im Denkmalverzeichnis eingetragen.
Drei seriell angeordnete L-förmige Mehrfamilienhäuser orientieren sich kopfseitig zur Kornstraße. Ein vierter rechteckiger Gebäuderiegel komplettiert die Siedlung im Westen. Alle Baukörper sind verputzte Kuben unter Flachdächern. Sie weisen eine schlichte zwei- bis dreigeschossige Fassadengestaltung mit regelmäßigen Fensteröffnungen und optisch hervorgehobenen Treppenhäusern als Risalite mit vertikalen Fensterbändern auf. Diese sind zum Teil in warmen Brauntönen verglast und mit Abbildungen der deutschen Flora und Fauna gestaltet, was als Vermittlung zwischen dem regional vorherrschenden Jugendstil und der ansonsten so streng verfolgten Gestaltweise des Neuen Bauens verstanden werden kann. Eingeschossige Zwischenbauten mit Ladengeschäften bieten eine fußläufige Versorgung der Bewohner und schotten die durch die Baukörperform ausgebildeten Grün- und Freiflächen zwischen den Gebäuden gleichzeitig von dem öffentlichen Straßenraum ab. Alle Aufenthaltsräume sind in Richtung der Freiflächen und dem natürlichen Lichteinfall folgend nach Süden und Westen orientiert. Die Funktionsräume befinden sich an den Nord- und Ostseiten. Große Dachterrassen nach Westen sollten den Fokus des Architekten auf seine zielgruppenorientierte Bauweise stärken. Weitere bauliche Besonderheiten, wie Übereckfenster mit filigranen Eckpfeilern wurden bereits während des Entwurfsprozesses verworfen. Das rege Eingreifen des Magistrats in den Entwurfsprozess legt nahe, dass die „abgemilderte Variante“ zweier sich nahe der Gebäudeecke befindlichen Fenster (statt einer Überecklösung) einer der vielen gefundenen Kompromisse war, die Thor eingehen musste. Hätte er freie Hand bei der Gestaltung gehabt, würde sich die Siedlung an der Kornstraße heute vermutlich in einem Erscheinungsbild zeigen, dass noch weitaus differenziertere Gestaltmittel des Neuen Bauens innehätte.
Die Planungen der Siedlung Kornstraße in Osnabrück sind ein herausragendes Beispiel für eine Architektur, die den Leitprinzipien des sozialen Wohnungsbaus folgt und dabei bereits in der Planungs- und Entwurfsphase eine spezielle Zielgruppe ins Auge gefasst hat, deren Bedürfnisse bei der Standortwahl, Ausrichtung und Ausgestaltung der Architektur die entscheidende Grundlage bildeten. Kinderreiche Familien und Tuberkuloseerkrankte sollten dort leben. Hierzu benötigte es „grosse[r] [sic] Grünflächen zwischen den einzelnen Baublöcken […], um den einzelnen Wohnungen viel Luft und Licht zu sichern“, so Thor in dem Schriftverkehr mit dem Magistrat. Resultat ist eine ruhige, gut belichtete und belüftete Wohnsituation eines jeden Bewohners. Thor verpasste dem Entwurf - als Erstlingssiedlung seiner Karriere - gleichzeitig seine eigene moderne Handschrift. Dies verschafft der Siedlung Kornstraße, in Bezug auf städtebauliche und soziale Lösungen, ein Alleinstellungsmerkmal in Osnabrück. So konnte das Wohnungselend wenn nicht gleich behoben, doch zumindest gemindert werden und Osnabrück erhielt ein Zeugnis moderner Architektur, das es zu bewahren gilt.