Jean Robert Charton - Zum hundertjährigen Dienstjubiläum

Von Elke Onnen

Jean Robert Charton (1881-1963) wirkte in Oldenburg i.O. von 1922 bis 1937 als Stadtbaurat sowie von 1945 bis 1949 als Geschäftsführer der Gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft (GSG). Bis zu seinem Tod engagierte er sich für die kulturellen Belange Oldenburgs. Jean Robert Charton, der aus einer Berliner Hugenottenfamilie stammte, schloss seine Ausbildung an der Technischen Hochschule Berlin sowie verschiedenen Stationen in den Stadtverwaltungen von Berlin und Charlottenburg 1908 mit der Prüfung zum Regierungsbaumeister ab. Im selben Jahr trat er seine erste Stelle beim Kaiserlichen Kanalamt in Kiel an, wo er für die Dienst- und Wohngebäude am Kaiser-Wilhelm-Kanal, dem heutigen Nord-Ostsee-Kanal zuständig war.[1] 1912 wechselt Charton als Magistratsbaurat nach Frankfurt am Main, wo er für Schulen, Wohnsiedlungen und Bebauungspläne zuständig war. Zehn Jahre später bewirbt er sich erfolgreich auf die Stelle eines Stadtbaurats in Oldenburg, die er am 11. April 1922 mit 41 Jahren antritt. Jean Robert Charton pflegte schon in seiner Kieler und Frankfurter Zeit ein reges Vereinsleben. An allen drei Wohnorten war er ein aktives Chormitglied und engagierte sich in zahlreichen Vereinen – so im Verein für Heimatschutz in Kiel oder Frankfurter Künstler-Verein.[2] In den 1930er Jahren hatten sich die politische Lage und damit auch das Klima in der Stadtverwaltung geändert und so geriet Charton – Freimaurer und Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei – 1933 ins Visier der Nationalsozialisten. Als 1938 der Vertrag des erfahrenen Stadtbaumeisters nicht verlängert wurde, nahm er eine Stelle bei der mecklenburgischen Dynamit AG an, für die er während des 2. Weltkriegs in Bromberg, Westpreußen (heute Bydogszcz in Polen), arbeitete. Im Frühjahr 1945 kehrte Charton in seine alte Stelle als Stadtbaurat nach Oldenburg zurück und wechselte nach wenigen Monaten als Geschäftsführer zur GSG, mit der er schon zuvor erfolgreich zusammengearbeitet hatte. Nach seiner Pensionierung 1949 bis zu seinem Tod 1963 lebte Charton in Oldenburg.

Jean Robert Charton sah sich als Stadtbaurat von Oldenburg i.O. vor dieselben Probleme wie seine Kollegen in anderen Städten gestellt. Als Charton 1922 seine Stelle antrat, herrschten Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot. Vorherrschende Bauaufgaben waren der Bau von Siedlungen und neuen Schulen, die nicht nur die gestiegenen Schülerzahlen aufnahmen, sondern auch den zeitgemäßen Anforderungen an ein Schulgebäude Rechnung trugen. Durch den 1. Weltkrieg und die anschließende Inflationszeit fehlten die nötigen Mittel und es kam – wie man heute sagen würde – zu einem Investitionsstau.

[1] Ewald Klatt: Die Wohnhäuser am Kaiser-Wilhelm-Kanal, in: Zentralblatt der Bauverwaltung, 36. Jahrgang, Nr. 91 und 93.

[2] siehe Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Oldenburg, Rep 980, Best. 351 Nr. 101697.

Die Stadt Oldenburg besaß 1919 um die 32.500 Einwohner, Mitte der 1920er Jahre waren es bereits 55.700. Die Einwohnerzahl Oldenburgs wuchs zum einen durch den Zuzug von Veteranen und Vertriebenen aus Oberschlesien und Westpreußen – deren Heimat durch den Versailler Vertrag an Polen fiel – und zum anderen durch die Eingemeindungen von Osternburg (1922) und Eversten (1924). Um die Wohnungsnot zu lindern, wurde 1921 die Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft Oldenburg (GSG) gegründet.[1] Bis in die 1930er Jahre war der Bau von Siedlungen ein wichtiges Thema. Während die Planung der Anlagen in der Regel in den Händen des Stadtbaurates blieb, stammen die Entwürfe der Häuser von verschiedenen Architekten, unter anderem von Charton selbst. Gesamtplanung und Hausentwurf mussten also nicht in einer Hand liegen wie das Beispiel der Siedlung Melkbrink zeigt. Hier zeichnete Charton einen „knochenförmigen“ Siedlungsgrundriss. Die Schmalseiten werden von Einzelhäusern an den Straßen Melkbrink und Nedderend gebildet, wobei beide Straßen durch die Rüthningstraße verbunden sind. Hier stehen von Paul Tantzen, dem Leiter der GSG, entworfene Doppelhäuser. Die mittleren sind zurückgesetzt, sodass eine optische Aufweitung des Straßenraums erfolgt.

In Oldenburg ist traditionell eine Bebauung mit Einfamilienhäusern vorherrschend. Für die Stadterweiterungen während der Gründerzeit sind die sogenannten „Oldenburger Hundehütten“ straßenbildprägend. Sie zeichnen sich durch ein- oder eineinhalbgeschossiges Giebelhäuser aus und besitzen verschiedenen Variationen was die Geschosshöhe, -anzahl sowie Dekorationsformen betrifft. Mehrgeschossige Mietskasernen sucht man in Oldenburg allerdings vergeblich. So ist es nur natürlich, dass auch die Siedlungen in den 1920er und 1930er Jahren aus Einfamilienhäusern oder kleinen Mehrfamilienhäusern bestehen. Für die Selbstversorgung gab es hierzu immer ein eigenes Gartengrundstück. Seltene Ausnahmen sind Reihenhäuser, die nie mehr als zwei Geschosse besitzen.

Generell sind die Oldenburger Siedlungen verhältnismäßig klein. Dies liegt zum einen daran, dass sie häufig aus Kleinstwohnhäusern wie im Schramperweg bestehen, und zum anderen weil oft nur wenige Häuser einen Straßenzug oder eine Häuserzeile bilden. Die Haustypen sind traditionelle Bauten mit Sattel- oder Walmdächern. Die frühen Siedlungshäuser waren in der Regel verputzt, teilweise mit Baudekor in Ziegeln. Für die Nutzung wurden die Einfamilienhäuser teilweise verkauft, die Wohnungen in den Doppelhäusern dagegen vermietet. In den Siedlungen lebten hauptsächlich Handwerker und Angestellte.

[1] GSG Oldenburg (Hg.): GSG Direkt. Das Magazin der GSG Oldenburg. Magazin 2.2020.

Mit dem Anstieg der Bevölkerung und der damit stark angewachsenen Schülerzahl war der Bau von Schulen eine wichtige Aufgabe der Stadtverwaltung. Charton verband in seinen Entwürfen den Heimatschutzgedanken des traditionellen Bauens mit den zeitgemäßen Anforderungen. So besaßen laut einer Aufstellung der städtischen Schulen,[1] nur die Neubauten von Charton elektrisches Licht, Wasserspülung und Zentralheizung.

Die Entwürfe von Jean Robert Charton in den 1920er und 1930er Jahren sind dem Nordwestdeutschen „Klinkerexpressionismus“ nach Fritz Höger (1877-1949) oder Fritz Schumacher (1869-1947) zuzuordnen. Im Auftrage der Stadt reiste Charton mehrmals in die Niederlande, die in den 1920er Jahre als „Mekka“ der modernen Architektur und als Vorbild speziell für den Siedlungsbau galten, in das viele namhafte Architekten, wie Le Corbusier (1887-1965), pilgerten. In den Niederlanden lassen sich zwei Hauptrichtungen nennen: “De Stijl“ und die „Amsterdamer Schule“. Letztere bevorzugte den traditionellen Backstein als Baumaterial und verwendete ihn für expressionistische Bauten. Als Vertreter sind hier unter anderem Michel de Klerk (1884-1923) und Pieter Lodewijk Kramer (1881-1961) zu nennen. Jean Robert Charton konnte sich auf verschiedenen Dienstreisen zwischen 1928 und 1930 die Bauten vor Ort ansehen und sich mit den Mitarbeitern der städtischen Behörden und den Architekten austauschen[2].

1922 hatte die Stadt mit Oberbürgermeister Theodor Goerlitz, Museumsdirektor Walter Müller-Wulckow und Stadtbaurat Charton drei Protagonisten, die landesweit sehr gut vernetzt waren. Hier vor allem in die damaligen Architekturzentren der Weimarer Republik Berlin, Breslau und Frankfurt am Main. Alle drei begannen fast gleichzeitig ihre Tätigkeit in der Stadt. In Theodor Goerlitz, der 1921 zum Oberbürgermeister Oldenburgs gewählt worden war, fand Charton einen Vorgesetzten, der nicht nur die aktuellen Probleme wie den sozialen Wohnungsbau und den Bau moderner Schulen anging, sondern der auch aufgeschlossen für die Moderne war. Jean Robert Charton gewonnenen Kontakte während seiner Arbeit in Frankfurt begleitete ihn auch nach Oldenburg. Hier konnte er zum Beispiel durch den Kunsthistoriker und Publizisten Walter Müller-Wulckow (1886-1964) namhafte Architekten nach Oldenburg einladen. Als Mitglied und durch seine aktive Arbeit bei der Vereinigung für Neue Kunst, konnte er sich so mit Architekten seiner Zeit, wie Erich Mendelsohn (1887-1953), Walter Gropius (1883-1967) und Bruno Taut (1880-1938) in Oldenburg austauschen. Auch nach 100 Jahre nach Jean Robert Chartons Dienstbeginn als Stadtbaurat in Oldenburg, sind seine Entwürfe und Bauten im Stadtbild präsent. Der gut vernetzte und gesellschaftlich engagierte Charton war als Architekt an der Peripherie Deutschlands tätig, aber auf der Höhe der Zeit.

 

Zum Weiterlesen:

Böker, Doris [Hrsg.]: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland: Baudenkmale in Niedersachsen (Band 31): Stadt Oldenburg (Oldenburg). Braunschweig, 1993.

Charton, Jean Robert: Neue Stadtbaukunst. Oldenburg in Oldenburg. Oldenburg, 1929.

Charton, Jean Robert: Oldenburgs Stadtbild unter dem Einfluß des Klassizismus im Herzogtum Oldenburg. In Niedersachsen 37. 1932. S. 461-472.

Görlitz, Theodor (Hrsg.): Die Landeshauptstadt Oldenburg. Berlin, 1927.

Schrape, Joachim: Charton, Jean Robert. In Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg. Oldenburg, 1992. S. 124-125.

Köpnick, Gloria: Avantgarde in der Provinz. Die Vereinigung für junge Kunst Oldenburg (1922-1933). Petersberg, 2021.

 

[1] Kohl, Dietrich (Hg): Vom Schulwesen der Stadt Oldenburg in Vergangenheit und Gegenwart, Oldenburg i.O. 1929.

[2] Genaue Ziele und Gesprächspartner sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht bekannt. Die Tatsache als solche ist durch den Entnazifizierungsbogen bekannt. (Vgl. Anm. 2)

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