Die Aula Academica der Technischen Universität Clausthal und ihr Architekt Leopold Rother

Von Ulrich Knufinke und Cordula Reulecke
Am 12. Mai 2022 wurde die Aula Academica der TU Clausthal feierlich wiedereröffnet. Die mehrjährigen Baumaßnahmen umfassten Anpassungen an Brandschutzerfordernisse, Herstellung von Barrierefreiheit, die Grundinstandsetzung der Außen-Freitreppe und der Fassaden, aber auch die Wiederherstellung der expressiven Farbigkeit des Kuppelsaals. Das Herzstück der Aula konnte in seinem ursprünglichen Gesamtraumeindruck nach detaillierten restauratorischen Befunduntersuchungen und Archivalienrecherchen, bei denen auch die originalen Bauzeichnungen wieder auftauchten, wiedergewonnen werden, intensiv begleitet durch die Mitarbeiter*innen der Amtsrestaurierung und der praktischen Denkmalpflege des NLD. Lediglich der Fußbodenbelag konnte aus Gründen der hohen Ansprüche an moderne Raumakustik nicht wieder in Linoleum hergestellt werden. Ein auf dem Dachboden gefundenes Original eines Fensters der oberen Kuppelbelichtung war Vorbild für den Nachbau. Stühle der Ursprungsmöblierung fanden sich dort ebenfalls, so dass das Gesamtkonzept nicht nur durch die überkommenen schwarz-weiß-Fotos, sondern auch durch Exponate erhalten ist.

Die Restaurierung der Aula Academica ist zweifellos eine bedeutende Leistung, die nur durch das offene konstruktive Zusammenwirken von Planerinnen und Planern, Handwerkerinnen und Handwerkern, Denkmalpflegerinnen und Denkmalpflegern und natürlich den Nutzerinnen und Nutzern, also der Technischen Universität Clausthal, möglich wurde. Dabei ist ein Raum wiedererstanden, dessen besonderer Wirkung sich wohl kaum jemand von uns entziehen kann – und den seit rund 90 Jahren niemand mehr in seiner ursprünglichen, ausdrucksstarken Farbigkeit erlebt hat.

Vieles an der Aula Academica ist ungewöhnlich, ja außergewöhnlich. Ein Zeitgenosse schilderte seinen Eindruck in einem Artikel zur Einweihung am 9. November 1927 im Amtlichen Kreisblatt für den Kreis Zellerfeld:

„Sechzehn gewaltige Pfeiler laufen oben zusammen, und in ihrem Mittelpunkt befindet sich […] ein Beleuchtungskörper, dessen Schein die Kuppel beleuchtet. Der Stil des Baues ist bis ins kleinste modern. Scharf gehaltene Kanten der Säulen und der Fenster […] geben dem Raume einen außerordentlich strengen, sachlichen, deshalb aber gerade so überwältigenden Ausdruck.“

Am Rand der historischen Bergstadt Clausthal ein Gebäude von Ausmaßen und Gestalt eines Schlosses zu finden, erwartet wohl kaum jemand. Eine von zwei Reihenhäusern flankierte Straße führt uns von der Stadt auf die Mittelachse der Aula zu, die in Grünanlagen eingebettet ist. Der lagernde Baukörper mit Walmdach ist in der Art des Barocks und des Klassizismus durch Pilaster gegliedert, zwischen denen hohe, schlanke Fenster angeordnet sind. Die Mitte der Langseiten springt vor, sodass die zwischen Doppelpilastern liegenden Eingangsportale betont werden. Soweit könnte der Bau auch aus dem 18. oder frühen 19. Jahrhundert stammen – doch bei näherem Hinsehen erkennen wir, dass die Gliederungsformen keineswegs völlig „klassisch“ sind.

Die leichte Irritation, die wir außen auch erstmal übersehen könnten, wird innen schon in Foyer und Treppenhaus größer: Die Dekorationsformen, zum Beispiel die Treppengeländer, zeigen andere, gezackte Formen, die wir dem Art Déco zuschreiben können – dem beliebtesten Dekorationsstil der 20er Jahre. Vom Foyer gelangt man in eine Sporthalle. Sie nimmt größeren, westlichen Teil des Hauptgeschosses ein. Der Funktion entsprechend eher schlicht gestaltet, wird hier auf barocken Pomp verzichtet. Vollkommen außergewöhnlich ist aber der Kuppelsaal. In die außen barock anmutende Schale ist eine Kuppel eingebunden, deren zugespitzt-parabolische Bögen und gefaltete Rippen mit einem ausgefeiltem Farb- und Lichtkonzept zu einem quasi-sakralen Raum, zum Allerheiligsten der Universität werden.

Aber nicht nur die Kontraste in der Gestaltung mögen überraschen, auch die Konstruktion der Aula ist bemerkenswert. Der Dachstuhl besteht nicht, wie man im Harz erwarten könnte, aus Holzbalken, sondern aus einer hochmodernen Eisenkonstruktion. Und die Kuppel ist nicht in mittelalterlicher Weise gemauert, sondern eine von Eisenträgern abgehängte, nur wenige Zentimeter dicke Putzschale. Die Aula Acacemica ist damit ein Kind ihrer Zeit, aus der heraus wir ihre Architektur verstehen und interpretieren sollten. Das neobarocke Äußere, die funktionale Sporthalle, der expressive Kuppelsaal, die moderne Dachkonstruktion – Widersprüchliches wird nicht zusammengewürfelt, sondern in eigentümlicher Weise vereint. Unabhängig von der Gestaltung war der Bau der Aula Academica ein Zeichen des Aufbruchs für die damalige Bergakademie Clausthal, die in der zweiten Hälfte der 20er Jahre einen immensen Ausbau erfuhr. Die Aula war als das räumliche, kulturelle und soziale Herz der Hochschule, ja der ganzen Stadtgesellschaft Clausthals konzipiert.

Entwerfender Architekt der Aula war der 1894 in Breslau geborene Leopold Rother. Sein Werk ist heute in der deutschen Architekturgeschichte wenig geläufig. Rother machte in der schlesischen Metropole Breslau Abitur – ein Ort, der genau zu dieser Zeit, vielleicht noch vor Berlin, zum „Hotspot“ der frühen Moderne geworden war. Rother begann sein Architekturstudium an der Hochschule in Karlsruhe. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde er zum Kriegsdienst eingezogen. Nach Kriegsende studierte Rother an der Technischen Hochschule Charlottenburg in Berlin weiter Architektur. Rother wählte einen vergleichsweise unspektakulären Weg in das Berufsfeld Architekt. Wie viele seiner Zeitgenossen setzte er seine Ausbildung in der staatlichen Bauverwaltung fort und erlangte den Titel „Regierungsbaumeister“.

1923 erhielt Rother eine erste Anstellung im Preußischen Staatsdienst in Kiel, nach mehreren Stationen kam er 1926 nach Clausthal. Die Hochschulbauten unterstanden Regierungsbaurat Erich Meffert im Preußischen Finanzministerium. Offenbar hatte Meffert Anteil an der Planung der Aula, doch dürfte Rother die architektonische Gestaltung entworfen haben. Rother und seine Auftraggeber standen vor den großen architektonischen Fragen der Zeit: Wollten sie einen auf reine Funktionalität ausgerichtete Architektur aus industriellen Materialien in entsprechenden Konstruktionen, oder sollte die Architektur Ortsgebundenheit und historische Einbindung aus traditionellen Materialien in überlieferten Konstruktionsweisen ausdrücken? Die Aula tat beides, ist ein Amalgam.

Ortsgebundenheit und lokale Tradition mögen sich in der Gesamtanlage spiegeln. Unverkennbar ist zum Beispiel das Vorbild des Oberbergamts in Clausthal, einen allerdings schlichten, ebenfalls palais-artigen Bau mit einer Fassade aus dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, der das Zentrum der Stadt prägt. Dessen Formen zu adaptieren bedeutete zugleich, die Geschichte und Bedeutung Clausthals als Bergbau-Stadt wieder aufzugreifen. Die Vereinfachung historischer Formen und eine Tendenz zur Monumentalisierung zeigen die Bauten von Rothers Lehrer German Bestelmeyer. Mit der Kuppelhalle stellte sich Rother aber in eine andere Reihe der modernen Architektur. Der Zentralraum als Idealbild des quasi-sakralen Raums eines „Neuen Menschen“ ist besonders in den utopischen Entwürfen des Expressionismus formuliert worden.

Sakralisierte und sakrale Räume als Räume einer neuen Gemeinschaft waren Ausdruck der Suche nach neuer Gemeinschaft. Eine neue Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden schwebte wohl auch den Initiatoren der Aula wohl auch vor. Es liegt nahe, sie als einen Raum der Überhöhung der Hochschulgesellschaft zur Hochschulgemeinschaft zu verstehen – und damit in der Folge der expressionistischen „Häuser der Gemeinschaft“, in denen sich der „Neue Mensch“ herausbilden – und nicht nur ausbilden – sollte.

Rother entwarf für die Bergakademie noch einige weitere Gebäude, die allerdings weniger spektakulär waren – und sein sollten. Zum Komplex der Aula gehört und mit ihr unterirdisch verbunden ist eine Schwimmhalle von 1928. Rothers Bauten der Bergakademie blieben bei einer dezent konservativen, ab und zu mit harzer Lokalkolorit gefärbten Architektursprache, die sich vom kühlen Funktionalismus der weißen Moderne jener Jahre fernhielt. Ein nicht erhaltenes, eher modernes Sportgebäude von 1930 ist wahrscheinlich Rothers letztes Projekt in Clausthal, in diesem Jahr wechselte er nach Brandenburg. Als 1933 die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, setzten sie ihre rassistische und antisemitische Politik mit dem Ausschluss von Menschen mit jüdischer Herkunft aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben sehr schnell um. Rother, der sich, soweit bekannt, weder der jüdischen Religion noch einer jüdischen Kultur zugehörig fühlte, aber aus einer jüdischen Familie stammte, wurde 1935 wie alle nun als jüdisch gebrandmarkten Beamten aus dem Staatsdienst entlassen. 1936 emigrierte Rother nach Kolumbien. Dort erhielt er bald eine Anstellung im Bauministerium. Sein bedeutendstes Projekt war die Planung der neuen Universität in der Hauptstadt Bogotá. Rothers Entwürfe in Kolumbien lassen historische Stilzitate wie am Äußeren der Aula hinter sich, auch das expressionistische, sakrale Pathos der Kuppelhalle gibt es dort nicht mehr. Rother war zu einem jener Emigranten-Architekten geworden, die die Moderne international verbreiteten und ihren „Siegeszug“ in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vorbereiteten. Rother starb 1978 in seiner neuen Heimat Kolumbien. Dort sind sein Werk und sein Wirken unvergessen, das Architekturmuseum in der Universitätsstadt in Bogotà trägt den Namen „Museo Architectura Leopold Rother“.

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