Historische Archäologie an einem Ort des Protests des 20. Jahrhunderts nahe Gorleben

Von Attila Dézsi

Archäologische Forschung wie Denkmalpflege beschäftigt sich zunehmend mit den materiellen Überresten des 20. und 21. Jahrhunderts. Ein Fokus liegt auf der Aufklärung und Vermittlung von ‚unbequemen Denkmälern‘ und Orten des nationalsozialistischen Terrors. Wenig Beachtung fanden bisher jene Fundorte, an denen sich die Zivilgesellschaft gegen Krieg und Umweltzerstörung einsetzte. Diese können als signifikante Orte der Erinnerungsarbeit und als kulturelles Erbe unserer Zeit betrachtet und archäologisch untersucht werden. Die Freie Republik Wendland, ein Protestcamp im Jahr 1980 nahe Gorleben, ist ein solcher Ort. Sie entstand als Reaktion auf die Salzstockerkundung für die Lagerung hochradioaktiver Abfallstoffe. Neben Anti-Atom-Dörfern in Whyl und Wackersdorf war sie eine der maßgebenden Ereignisse der grünen Bewegung. Im Wendland ist die Freie Republik noch immer Teil der Erinnerungs- und Protestkultur, wo sich AnwohnerInnen und LandwirtInnen bis heute gegen ein nukleares Endlager engagieren.

Das Protestdorf, mit einer Fläche von etwa einem Hektar und ca. 120 Gebäuden, bot einen Raum für alternative Ansätze. Mit Solar- und Windenergie, einem Rätesystem und gemeinschaftlichen Einrichtungen, wie Küchen und Versammlungsorten, versuchten die AktivistInnen nicht nur die Bohrung auf dem Gelände zu verhindern, sondern auch Perspektiven alternativen Lebens ohne Atomenergie aufzuzeigen. Nach 33 Tagen wurde dieses soziale und technologische Experiment durch ein Großaufgebot der Polizei beendet. Der Platz wurde geräumt und für die Tiefbohrung eingeebnet. Die Bohranlage mit Sicherheitsmauern wurde später abgebaut und das Areal aufgeforstet, sodass heute auf dem ersten Blick kaum Überreste der Ereignisse erkennbar sind. Im Zuge des Promotionsprojektes des Autors an der Universität Hamburg wurde das Areal des ehemaligen Camps mit archäologischen Methoden untersucht. Unterstützt u.a. durch die Society for Post-Medieval Archaeology, sowie von ZeitzeugInnen und AnwohnerInnen, konnten 2017 und 2018 drei Feldarbeitsphasen abgeschlossen werden. Mithilfe historischer Luftbilder wurde der Standort des ehemaligen Camps ermittelt und durch Feldbegehungen mit ZeitzeugInnen und ehrenamtlichen Sondengängern bestätigt. Dabei konnten hunderte in die Zeit der Besetzung datierbare Metallobjekte (Getränke- und Konservendosen) und auch Überreste der Bohranlage dokumentiert werden, welche nur einen kleinen Teil des Camps versiegelte. Mehr als 60 Gruben auf der Verdachtsfläche deuteten auf Überreste und Zerfallsprozesse der ehemaligen Baustrukturen des Camps hin. Einige der Gruben stimmten mit Gebäudestandorten in den Luftbildern überein und wurden stichprobenartig in den Ausgrabungen untersucht.

Die Grabungsschnitte gaben Einblicke in die Alltagswelt der Freien Republik. In einem Schnitt wurden Befunde  eines Grubenhauses dokumentiert, darunter Teile von Inneneinrichtungen und diverse Alltagsgegenstände. Viele der Funde sind persönliche Objekte und können mit Nahrungsversorgung und Freizeitaktivitäten auf dem Camp assoziiert werden. Auch Details zur Baustruktur und Einrichtung, wie Wände, Pfostenlöcher und Matratzen wurden dokumentiert. Diese Befunde zeugen vom Willen der DorfbewohnerInnen, den entlegenen Ort für ihr Anliegen umzugestalten und sich für ein dauerhaftes Wohnen einzurichten. Erstaunlich sind die Abwesenheit von spezifischer materieller Kultur des Protests aber auch die Sichtbarkeit des gemeinsamen Teilens von Nahrungsmitteln (Vorratsgefäße, große Töpfe) sowie der Zeitvertreibung. Im Zuge der Räumung zerstörten Bulldozer die obertägigen Bestandteile des Camps und verfüllten auch das von uns dokumentierte Grubenhaus. Mehrere hundert Glas-, Dachpappenfragmente und verbogene Nägel waren den bis zu 60 cm hohen Versiegelungshorizonten beigemengt. Ein weiterer Schnitt legte eine Deponierung mit hunderten gleichartigen Objekten frei: Plastikgeschirr, Getränke- und Konservendosen, welche in die Zeit der Platzbesetzung datieren. Auffällig war der hohe Anteil von Objekten, die mit Nahrungsmittelkonsum in Verbindung stehen – dabei handelt es sich im Gegensatz zu den Funden aus der Hütte um Einweggeschirr  sowie Mahlzeiten für Einzelpersonen. Die Assemblage beinhaltete aber auch Atemschutzfilter und  Plastikfesseln. So ist es möglich, den Ort als Entsorgungsstelle der Einsatzkräfte zu interpretieren, welche während der Räumung über einen Tag lang versorgt werden mussten.

Im Sinne der Vorgehensweise der historischen Archäologie werden auch weitere Quellengattungen herangezogen, wie historische Fotos und mündliche Überlieferung. Diese neuen Perspektiven ermöglichen eine weitergehende Interpretation der Befunde, sowie die Erschließung immaterieller Aspekte des Dorfs. Mehrere Veranstaltungen im Wendland ermöglichten der Öffentlichkeit sich über das Projekt und Beteiligungsmöglichkeiten zu informieren. In einer abschließenden Veranstaltung im Februar 2019 wurden die Grabungsergebnisse und vorläufigen Interpretationen in einer interaktiven Ausstellung zur Diskussion gestellt. Ein Podium mit Vertretern des Denkmalamtes (M. Pahlow), der Forschung (R. Bernbeck), der lokalen Bürgerinitiative (W. Ehmke) und der AustellungskuratorInnen (M. Schlingmann; A. Dézsi) diskutierte den gesellschaftlichen Stellenwert, die Schutzwürdigkeit und Zukunft des Fundortes. Eine Archäologie der Zeitgeschichte förderte hier nicht nur die Erinnerung an ein historisches Ereignis der Demokratiegeschichte, sondern vergegenwärtigt auch einen fortwährenden Konflikt. Die Untersuchungen in Gorleben weckten großes öffentliches Interesse und rufen ein globales Problem der Moderne in Erinnerung: Wie gehen wir mit unserem radioaktiven Industrieabfall zukünftig um?


Der Text wurde erstmals veröffentlicht in den Berichten zur Denkmalpflege in Niedersachsen, 40. Jg. (2020), Heft 1, S. 39-41.

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