Über das Projekt "Jüdische Topographie Niedersachsen"
Auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsen gab es bis zur Zerstörung und Vernichtung durch antisemitische Deutsche in der Zeit des Nationalsozialismus rund 130 jüdische Gemeinschaften mit einer Vielzahl religiöser, sozialer und kultureller Einrichtungen. Die meisten ihrer Synagogen, Betsäle, Ritualbäder und Religionsschulen sind heute verloren oder oft entstellend umgebaut, und auch auf den überwiegend erhaltenen Friedhöfen sind Schändungen und Zerstörungen unübersehbar. Wenige ehemalige Synagogen wurden in den zurückliegenden Jahrzehnten als Lern- oder Gedenkorte öffentlich zugänglich gemacht, recht früh zum Beispiel die barocke Synagoge in Celle (wieder eingeweiht 1974), oder die Synagoge in Dornum von 1841, deren Straßenfassade bis 1992 rekonstruiert wurde, zuletzt in Einbeck und Stadthagen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gründeten Überlebende des Holocausts einige jüdische Gemeinden neu. In Hannover und Osnabrück wurden in den 1960er Jahren moderne Gemeindezentren errichtet, die Bauten in Hannover stehen als Zeugnisse der Nachkriegsmoderne bereits unter Denkmalschutz. Seit den 1990er Jahren erlebten die jüdischen Gemeinschaften auch in Niedersachsen einen Mitgliederzuwachs. Er führte zur Einrichtung neuer Gemeindezentren, Synagogen und Betsäle.
2020 starteten das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege, die Bet Tfila – Forschungsstelle für jüdische Architektur an der Technischen Universität Braunschweig und das Center for Jewish Art an der Hebrew University of Jerusalem das Projekt „Niedersachsen – Eine jüdische Topographie“. Die „Jüdische Topographie Niedersachsen“ stellt Informationen über die Bauten und Einrichtungen jüdischer Gemeinschaften im Denkmalatlas Niedersachsen online zur Verfügung. Beginnend mit den rund 220 jüdischen Friedhöfen und den baulich erhalten gebliebenen Synagogen (online ab März 2022), werden nach und nach die vielen weiteren Einrichtungen und Gebäude jüdischer Gemeinschaften in den Denkmalatlas und damit in die Jüdische Topographie Niedersachsen eingearbeitet.
Ziel ist es, die Orte und Objekte jüdischer Kultur und Geschichte im Kontext der gesamten Kultur- und Denkmallandschaft unseres Bundeslandes sichtbar zu machen: sowohl die erhaltenen bzw. wiederhergestellten Zeugnisse als auch jene, die zerstört und verloren sind. Nicht alle diese Orte und Objekte sind als Denkmale im Sinne des Niedersächsischen Denkmalschutzgesetzes in das Verzeichnis der Kulturdenkmale eingetragen, doch erst in der Gesamtschau ergibt sich ein – historisch bedingt – lückenhafter Überblick, der durch zukünftige Forschung und durch eine Vernetzung mit anderen Informationsquellen immer weiter verdichtet werden kann.
Gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur aus Mitteln der Förderlinie PRO*Niedersachsen „Kulturelles Erbe – Sammlungen und Objekte“ legen die Projektpartner NLD, Bet Tfila – Forschungsstelle der TU Braunschweig und Center for Jewish Art der Hebrew University of Jerusalem im auf zweieinhalb Jahre angelegten Projekt die Basis für weitere Forschungen, aber auch für eine breite Nutzung des gesammelten Wissens in der Vermittlungs- und Gedenkarbeit. Die heutige Bet Tfila – Forschungsstelle für jüdische Architektur und das Center for Jewish Art haben bereits Mitte der 1990er Jahre mit Studierenden der Architektur der TU Braunschweig begonnen, ehemalige Synagogen und andere jüdische Objekte in Niedersachsen systematisch zu dokumentieren. Die im NLD gesammelten Informationen reichen teilweise bis in die 1970er Jahre zurück. Dieses umfassende Wissen wird mit dem Projekt nun aktualisiert und veröffentlicht. Neu ist der Ansatz einer Online-Publikation in einer auf Karten basierenden Datenbank, dem Denkmalatlas Niedersachsen, der die jüdischen Orte und Objekte neben jene der allgemeinen Kultur und Geschichte stellt: Räumliche und historische Bezüge zwischen Mehrheit und Minderheit werden damit in einer bislang nicht bekannten Weise unmittelbar anschaulich.
Jüdische Gemeinden in Niedersachsen
Quellen belegen die Existenz jüdischer Gemeinden im heutigen Niedersachsen bereits für das Mittelalter. Durch Pogrome im ausgehenden Mittelalter lassen sich jedoch kaum Kontinuitäten bis in die Neuzeit nachweisen. Im 17. und 18. Jahrhundert kam es wieder vermehrt zum Zuzug von zunächst einzelnen jüdischen Familien, die sich in den darauffolgenden Jahrzehnten durch Ansiedlung weiterer Jüdinnen und Juden zu Gemeinden entwickelten. Sie sorgten nach und nach für eine religiöse und kulturelle „Infrastruktur“, wobei die Anlage von Begräbnisplätzen zu den dringendsten Aufgaben gehörte. Andere mit der Religionsausübung zusammenhängende Einrichtungen wie Mikwen (Ritualbäder) und Synagogenbauten waren nachrangig. Für einen Gottesdienst bedarf es zehn im Religionssinn erwachsener Männer (bei liberalen Gemeinden auch Frauen), die sich in einem entsprechenden Raum versammeln können – aber keines eigenen Gebäudes. Als erste Synagogen wurden daher meist Räume in von Juden bewohnten Häusern genutzt – die Belege hierfür sind seit dem 17. Jahrhundert zahlreich, bauliche Spuren aber nur selten zu finden. Mit dem Anwachsen der jüdischen Gemeinden wuchsen die Komplexität und die Ansprüche an ihre sozialen, kulturellen und religiösen Institutionen. Vielerorts entstanden ab dem 19. Jahrhundert zunächst Gemeindebauten, die Schule, Lehrerwohnung und Synagoge in einem Gebäude vereinigten. Auch wo Synagogen als eigenständige Bauwerke errichtet wurden, waren sie im Straßenbild kaum sichtbar. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden etliche solche unscheinbaren, hinter Vorderhäusern verborgene Synagogen, von denen manche baulich noch erhalten sind.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts, als die jüdische Aufklärung (Haskala) sich in weiten Kreisen verbreitet hatte und die rechtliche Gleichstellung der Juden nach und nach erreicht wurde, setzte ein Prozess der „Verbürgerlichung“ ein. Dies wirkte sich auch auf die Bauten und Einrichtungen aus: Synagogen wurden zu einer Standard-Bauaufgabe für Architekten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahren des 20. entstanden beachtliche städtische Synagogen, zum Beispiel in Hannover, Braunschweig, Osnabrück, Oldenburg und Göttingen. Stilistisch unterschiedlich eingekleidet, waren sie integrale Bestandteile des Stadtbilds und zeugten sichtbar vom Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe. In den ländlichen Regionen schrumpften viele Gemeinden durch Abwanderung, weshalb hier kaum noch Neubauten entstanden und manche ältere Synagoge aufgegeben wurde.
Besonders im Laufe des 19. Jahrhunderts wandelten sich innerhalb der Gemeinden die Auffassungen von Religion und kultureller Identität. Mit dem Bau des Jacobstempels in Seesen, eingeweiht 1810, entstand auf Initiative des Bankiers und Braunschweiger Landrabbiners Israel Jacobson (1768–1828) ein Bauwerk, auf das sich die weitere weltweite Entwicklung der jüdischen Reformbewegung und ihrer Synagogen beziehen sollte. Neben einer Reform des Gottesdienstes verfolgte Jacobson mit seinen Mitstreitern auch das Ziel einer Bildungsreform: Die Seesener Jacobsonschule war ein weit ausstrahlendes Institut bürgerlich-jüdischer Bildung, in dem neben jüdischen auch christliche Schüler unterrichtet wurden.
Gegen die Tendenzen einer als zu stark empfundenen Anpassung an die christliche Kultur und Religionsausübung richteten sich die Vertreter einer theologisch fundierten Neo-Orthodoxie. Der Oldenburger Landrabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) gehörte zum Beispiel zu ihren Verfechtern. So gab es bis in die Zeit des Nationalsozialismus auf dem heutigen Gebiet Niedersachsens neben reformorientierten, liberalen Gemeinden auch viele orthodoxe bzw. neo-orthodoxe Gemeinden.
Mit dem Anwachsen der antisemitischen Anfeindungen, nicht erst seit der Zeit des Nationalsozialismus, verlagerte sich die Bautätigkeit von prächtigen Synagogenbauten hin zu sozialen, Bildungs- und Wohlfahrtseinrichtungen der jüdischen Gemeinden. Die Enteignungen jüdischen Eigentums in der NS-Zeit und schließlich die Zerstörungen der Pogromnacht im November 1938 führten zu einem unwiederbringlichen Verlust dieses einst reichen jüdischen Kulturerbes. Erhalten blieben nur wenige Objekte, die nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit nicht als bedeutend betrachtet wurden, so dass es zu weiteren entstellenden Umgestaltungen und Abrissen kam. Nur wenige ehemalige Synagogen sind heute museal oder als Gedenkorte der Öffentlichkeit zugänglich.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des Holocaust fanden die wenigen aus den Lagern befreiten Jüdinnen und Juden, die als so genannte Displaced Persons (DPs) teils wieder in Lagern leben mussten, keine nutzbaren religiösen Einrichtungen vor. In Celle, Goslar und Diepholz erreichten die jüdischen DPs immerhin, dass die verwüsteten Synagogen hergerichtet wurden, andernorts nutzten sie provisorisch eingerichtete Räume. Die meisten jüdischen DPs strebten die Auswanderung aus dem „Land der Täter“ an, ihre Gemeinden lösten sich bis 1950 auf – die Synagogen von Diepholz und Goslar wurden später abgerissen.
In wenigen niedersächsischen Städten entwickelten sich wieder dauerhaft jüdische Gemeinden. In Hannover und Osnabrück wurden in den 1960er Jahren neue Synagogen und Gemeindezentren errichtet, in Braunschweig das Gemeindehaus des 19. Jahrhunderts ausgebaut. Einen Schub erhielt die jüdische Bautätigkeit, als nach 1990 Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. Dies sorgt für einen kleinen „Boom“ im Synagogenbau: Neue Einrichtungen entstanden zum Beispiel in Hannover, Hameln oder Oldenburg, andere Gemeinden, wie in Braunschweig, erweiterten ihre Synagogen.
Jüdische Topographie im Kontext
Die jüdische Topographie Niedersachsens machen jedoch nicht nur religiös geprägte Bauten (Synagogen, Betsäle) und Begräbnisplätze aus. Auch die Erinnerungskultur hat Orte baulich besetzt, die in diesen Kontext gehören. Mit der Aufarbeitung der Gräueltaten des NS-Regimes spätestens seit dem Ende der 1960er Jahre entstanden vielerorts Gedenkstätten und Mahnmale an Orten, die ehemals in jüdischem Besitz waren. Und auch heute noch setzen Bürgerinnen und Bürger, Initiativen und Kommunen neue Erinnerungszeichen wie etwa Gedenk- und Informationstafeln oder die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig.
Die historischen „jüdischen Orte“ Niedersachsens stehen nicht allein für sich. Vielmehr sollten sie auch im Kontext der allgemeinen Kulturgeschichte betrachtet werden – in „Nachbarschaft“ mit den Kirchen, Rathäusern, Schlössern und anderen Denkmalen unseres Landes. Der Denkmalatlas Niedersachsen ist für eine solche „vernetzte“ Darstellung bestens geeignet: Hier sind Informationen zu den Standorten, Einrichtungen und Bauwerken abrufbar, aktuelle Fotos vermitteln ein Bild der Objekte. Im März 2022 startet die Publikation der Jüdischen Topographie Niedersachsen mit Informationen zu jüdischen Friedhöfen und zu den baulich noch erhaltenen bzw. heute von jüdischen Gemeinden genutzten Synagogen. Weitere Objekte werden nach und nach folgen: die Standorte der zerstörten Synagogen, die Ritualbäder und die sozialen sowie die Bildungseinrichtungen jüdischer Gemeinden. Nicht alle Objekte der Jüdischen Topographie Niedersachsen sind eingetragene Denkmale im Sinne des Niedersächsischen Denkmalschutzgesetzes, daher werden sie in der denkmal.recherche des Denkmalatlas nicht aufgeführt.
Die Orte und Objekte der Jüdischen Topographie Niedersachsen werden mit anderen Datenbeständen in Museen und Sammlungen verknüpft: Links zum Beispiel zum Kulturerbeportal Niedersachsen, zu Digitalisaten des Niedersächsischen Landesarchivs, zum Bezalel Narkiss Index of Jewish Art der Hebrew University of Jerusalem oder zur Grabinschriften-Datenbank Epidat des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts, Essen, führen zu weitergehenden, auch über Niedersachsen hinausweisenden Informationen. So wird die jüdische Topographie Niedersachsens immer mehr zum – eigentlich selbstverständlichen – Teil unserer Geschichte und jenes „Erbes“, für dessen Erforschung und Bewahrung zu arbeiten die Denkmalpflege und die universitäre Forschung im besonderen Maße verpflichtet sind.
Zum Weiterlesen:
- Meiners, Werner/Obenaus, Herbert (Hrsg.): Juden in Niedersachsen auf dem Weg in die bürgerliche Gesellschaft. Wallstein-Verl, 2014.
- Wagener-Fimpel, Silke (Bearb.): Quellen Zur Geschichte Der Juden in Schaumburg. Ein sachthematisches Inventar zu den Beständen im Niedersächsischen Landesarchiv, Staatsarchiv Bückeburg. Vandenhoeck & Ruprecht, 2006.
- Obenaus, Herbert (Hrsg.) Landjuden in Nordwestdeutschland. Hahnsche Buchh, 2005.
- Düselder, Heike/Klausch, Hans-Peter/Eckhardt, Albrecht (Bearb.): Quellen Zur Geschichte und Kultur des Judentums im westlichen Niedersachsen vom 16. Jahrhundert bis 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, 2002.
- Obenaus, Herbert/Banḳir, Daṿid/Fraenkel, Daniel (Hrsg.): Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen. Wallstein-Verl, 2005.
- Ries, Rotraud: Jüdisches Leben in Niedersachsen im 15. und 16. Jahrhundert. Hahn, 1994.
- Asaria, Zvi: Die Juden in Niedersachsen. Rautenberg, 1979