Alvar Aalto – ein Finne baut moderne Architektur in Niedersachsen
„Baukunst – ihr wirkliches Wesen – ist nur zu finden, wenn der Mensch im Mittelpunkt steht“
Alvar Aalto (1898–1976) gehört zu den international bedeutendsten Architekten einer organischen Moderne in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Mit seinen drei Projekten in Wolfsburg, einem Kulturhaus und zwei Kirchenzentren, weist Niedersachsen ein deutschlandweit einzigartiges Ensemble von Werken des Finnen auf.
Aalto vereinte in seinen Bauten Elemente der funktionalistischen Moderne mit gleichsam gewachsenen, individuellen Formen. Er strebte danach, seine Bauten und Ensembles wirkungsvoll in die Umgebung – Landschaft, Stadtbild – einzubinden. Dafür griff er topografische und städtebauliche Situationen als wesentliche Anregungen für sein Entwerfen auf. Eine ausdrucksstarke Gestaltung der funktionalen Anforderungen prägt seine Projekte, die bis ins Detail der Oberflächen und der Ausstattung (mit eigens von ihm entworfenen Möbeln) alle Aspekte eines Bauwerks umfasst.
Nachdem Aalto in den 1930er Jahren mit seinen Projekten für Bibliotheken, Kirchen, kulturellen Zentren und sozialen Bauten, aber auch mit Geschäftshäusern und Industriearchitektur zu einem der führenden Architekten Finnlands geworden war, feierte er seit den 1950er Jahren auch Erfolge in anderen Ländern. In Deutschland beteiligte sich Aalto an mehreren Wettbewerben. Zwischen 1959 und 1968 entstanden sechs Bauwerke, die zu den zentralen Werken seiner späten Schaffensphase gehören.
Als man in der Bundesrepublik in der Phase der Neuorientierung der Architektur nach dem Nationalsozialismus und beim Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes den Anschluss an die internationalen Entwicklungen suchte, fiel der Blick einerseits auf die USA, wo emigrierte Architekten wie Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe zu den Protagonisten der internationalen Moderne geworden waren. Andererseits orientierte man sich nach Skandinavien. Dort hatte sich eine Richtung der Moderne entwickelt, die sich auf menschliches Maß und schlichte Gediegenheit in Architektur und Design konzentrierte.
Die Internationale Bauausstellung „Interbau“ in Berlin 1957 führte diese und weitere Positionen der Moderne wie diejenigen Le Corbusiers oder Oscar Niemeyers erstmals in Deutschland zusammen. Alvar Aaltos geschwungenes Zeilenwohnhaus gehörte zu den viel beachteten Bauwerken des neuen Hansaviertels, das zu besichtigen zum „Muss“ für alle innovativ denkenden deutschen Stadtplaner und Architekten der 1950er Jahre wurde.
Anders als in Berlin, wo für die Interbau ein stark kriegszerstörtes gründerzeitliches Viertel planiert wurde, stellte sich in der seinerzeit rasch wachsenden Industrie- und Autostadt Wolfsburg eine andere Frage: Wie wollte man auf der sprichwörtlichen „grünen Wiese“, aber im Umfeld der unter den Nationalsozialisten seit 1938 als NS-Mustersiedlung angelegten Stadt ein modernes, der demokratischen Gesellschaft dienendes Zentrum aufbauen? Mit dem Rathaus (Architekt: Titus Taeschner, fertiggestellt 1958) war an der zentralen Wolfsburger Straßenachse, der Porschestraße, ein erster öffentlicher Bau entstanden. Auf der Südseite des Marktplatzes vor dem Rathaus wollte man ein multifunktionales kulturelles Zentrum errichten. Nach der Besichtigung des Aalto-Hauses in Berlin luden die Verantwortlichen der Stadt Wolfsburg neben dem Berliner Architekten Paul Baumgarten, ebenfalls prominent auf der Interbau vertreten, auch Alvar Aalto zu einem Entwurf für das Kulturzentrum ein. Verschiedene Funktionen wie die einer Stadtbücherei, einer Volkshochschule und eines Jugendzentrums sollten der noch jungen Stadt Wolfsburg ein lebendiges Zentrum geben.
Aalto gewann 1958 den Wettbewerb mit einem Entwurf, dessen prägnante Gestalt sich selbstbewusst in die Umgebung einfügt: Die fünf fächerförmig angeordneten, sich zum Hochhaus des Rathauses steigernden polygonalen Hörsäle im Obergeschoss bilden den expressiven „Kopf“ des Kulturzentrums zum nördlichen Marktplatz, während ein schlichter, zweigeschossiger Trakt auf der Westseite die damals vierspurig befahrene Porschestraße begleitet. Eine Kolonnade bindet das Kulturzentrum mit einer Ladenzeile zur Straße und dem Foyer zum Markt in die Wege der Fußgänger ein. Die Bibliothek mit ihrem introvertierten, nur von Oberlichtern beleuchteten Lesesaal befindet sich auf der ruhigen Ostseite des Gebäudes, im Süden sind die Werkstätten der Volkshochschule angeordnet. Im Obergeschoss bietet ein offener Dachgarten einen Raum zum Austausch unter freiem Himmel.
Trotz mancher Veränderungen ist das 1963 eröffnete und heute Alvar Aalto-Kulturhaus genannte Kulturzentrum bis in die Details der Ausstattung und Möblierung erhalten. Wie ein Gesamtkunstwerk vermittelt es den Gestaltungsanspruch des Architekten, einen kommunikativen, sozialen Ort zu schaffen. Menschliches Maß und menschliche Wahrnehmung – nicht nur räumlich-optisch, sondern mit angenehmen Oberflächen auch haptisch – stehen über dem Gedanken bloßer Repräsentation.
Während der Bauarbeiten am Kulturzentrum erhielt Aalto den Auftrag für ein zweites Projekt in Wolfsburg, die Kirche und das Gemeindezentrum der ev.-luth. Heilig-Geist-Gemeinde. Das Wohngebiet südlich des Klieversbergs spiegelt mit seinen geschwungenen Straßen und den weiträumig verteilten Wohnzeilen und Einfamilienhäusern das zeitgenössische Ideal der aufgelockerten und durchgrünten Stadt. Neben dem kleinen Einkaufszentrum an der Haupterschließungsstraße gelegen, akzentuiert die Gebäudegruppe der Kirchengemeinde das räumliche und ideelle Zentrum der Siedlung. Aalto entwarf ein Ensemble aus mehreren Bauteilen, die 1962 bzw. 1965 fertiggestellt wurden. Das geschwungene Dach des Kirchenbaus wächst auf der Ostseite aus dem Boden, mit seinen Portalen und einer Glaswand öffnet der Bau sich zu einem intimen Vorplatz im Westen. Gegenüber steht das Gemeindezentrum, dessen polygonale Säle wie beim Kulturzentrum in der für Aalto charakteristischen Fächerform angeordnet sind. Ein an der Straße freistehender Glockenturm bildet im Norden den weithin sichtbaren Hochpunkt des Ensembles. Auf der Südseite des Grundstücks, in einen Hang hineingebaut, bildet das gestreckte Pfarrhaus den schlichten Hintergrund für die expressiven Baukörper der Kirche, des Turms und des Gemeindezentrums. Westlich schließt sich der 1965 fertiggestellte Kindergarten an, den ein geschwungenes Vordach zur Straßenseite akzentuiert. Die Gruppenräume, angeordnet um ein intimes Foyer, formen einen Fächer, er öffnet sich in den Garten auf der Südseite.
Wie beim Kulturhaus gelingt es Aalto beim Heilig-Geist-Ensemble, durch differenzierte Bauformen, aber einheitliche Materialien und durch ein umfassendes Detail-Design bis in die Elemente der Ausstattung eine funktionierende Architektur-Skulptur zu entwerfen, die weitgehend unverändert erhalten ist.
Das letzte Projekt Aaltos in Wolfsburg ist erneut ein evangelisches Gemeindezentrum. Der von Paul Baumgarten konzipierte südliche Stadtteil Detmerode ist ein „Kind“ der Stadtplanung und Architektur der 1960er Jahre: Er ist aufgelockert und durchgrünt, doch sind die diversen Wohnhäuser für 15.000 Einwohner strikt rechtwinklig angeordnet, so dass eine strenge Einheitlichkeit entsteht. Ein Einkaufszentrum bildet das Zentrum des Stadtteils. Hier, auf der Nordseite des Marktplatzes, sollte das Kirchenzentrum der ev.-luth. Stephanus-Gemeinde entstehen. Es wurde 1968 eingeweiht. Anders als beim Heilig-Geist-Zentrum sind die Baukörper der Kirche, des Turms und des Gemeindehauses stark verdichtet. Die Rechtwinkligkeit des Stadtteils prägt die verschachtelten Baumassen aus weiß gestrichenem Klinker, lediglich der Kirchenraum auf trapezförmigem Grundriss weicht von diesem Schema ab. Nicht verwirklicht wurde ein nach Norden abgewinkelter Flügel für Wohnungen; der Turm aus neun schlanken Betonpfeilern blieb im Rohbau stehen. Strenger und weniger „organisch“ als die beiden anderen Wolfsburger Bauten, zeigt aber auch dieser Entwurf Aaltos Konzept der städtebaulich-landschaftlichen Einordnung und der gleichzeitigen baukünstlerischen Individualisierung, die räumliche Identifikation für einen ganzen Stadtteil ermöglicht.
In deutschen Städten war Aalto seit den 1950er Jahren mehrfach tätig: Nach dem genannten Wohnhaus für die Interbau in Berlin (1957) konnte er noch ein Wohnhochhaus in Bremen (1959) und das Opernhaus in Essen realisieren (Wettbewerb 1959, postum fertiggestellt als „Aalto-Theater“ 1988). Entwürfe für neue Stadtzentren in Leverkusen (1962) und Castrop-Rauxel (1965) blieben unausgeführt, ebenso Aaltos Wettbewerbsbeitrag für das Theater in Wolfsburg (1965), das schließlich von Hans Scharoun gebaut wurde (1973 eröffnet).
In keiner anderen deutschen Stadt hat Aalto ein derart dichtes architektonisches Erbe hinterlassen wie in Wolfsburg, das zu entdecken und bis ins Detail zu studieren bis heute lohnt.
Zum Weiterlesen:
- Aalto, Elissa, und Karl Fleig (Hg.): Alvar Aalto. Basel, Boston, Berlin 1978 (4. Aufl. 1999).
- Brülls, Holger: Alvar Aaltos Kirchen. Braunschweig 1999.
- Froberg, Nicole, Susanne Kreykenbohm und Ulrich Knufinke: Wolfsburg – der Architekturführer. Salenstein 2011.
- Knufinke, Ulrich, und Norbert H. Funke (Hg.): Achtung modern! Architektur zwischen 1960 und 1980. Petersberg 2017.
- Müller, Susanne: Aalto und Wolfsburg. Ein skandinavischer Beitrag zur deutschen Architektur der Nachkriegszeit. Weimar 2008.