Baugewerkschulen in Niedersachsen

Von Jan Lubitz

In der Geschichte der Hochschullandschaft von Niedersachsen nehmen die fünf Baugewerkschulen in Holzminden, Nienburg an der Weser, Buxtehude, Varel und Hildesheim eine wichtige Rolle ein. Bei den Baugewerkschulen handelt es sich um ein neuartiges Schulmodell des 19. Jahrhunderts. Sie dienten der Weiterbildung von Bauhandwerkern durch die Vermittlung theoretischer Grundlagen. Als erste Einrichtung dieser Art wurde 1821 die Königliche Baugewerkschule in München ins Leben gerufen, weitere folgten 1823 in Nürnberg, 1829 in Weimar, 1830 in Trier sowie 1830 in Holzminden und 1831 in Nienburg an der Weser, die somit zu den frühesten Baugewerkschulen in Deutschland zählen. Bis zum Ersten Weltkrieg entstanden 67 solcher Baugewerkschulen im Deutschen Kaiserreich.

Die Baugewerkschulen zeichneten sich durch einen fachschulartigen Charakter aus, der sie von dem zur gleichen Zeit entstandenen Schulmodell der Technischen Hochschulen mit ihrem akademischen Bildungsanspruch unterschied. Die Fokussierung auf handwerkliche Kenntnisse spiegelte sich schon in ihrer Bezeichnung wider, in der die Baugewerke – unter denen man die unterschiedlichen Leistungen im Bauwesen wie Maurer- Zimmerer- oder Dachdeckerarbeiten versteht – im Vordergrund stehen. Gelehrt wurde an den Baugewerkschulen ursprünglich nur im Winterhalbjahr, da die Schüler in den Sommermonaten als Lehrlinge auf Baustellen arbeiteten. Erst mit den Reformen des staatlichen Hochschulwesens im Deutschen Kaiserreich wurde der Unterricht auch auf das Sommerhalbjahr ausgedehnt und die parallele Berufspraxis aufgegeben.

Das Schulmodell der Baugewerkschulen entwickelte sich im Umfeld der aufkeimenden Industriellen Revolution, einer Zeit des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft, als infolge der Aufhebung mittelalterlicher Zunftschranken eine zunehmende Anzahl von Menschen in die Bauberufe drängte. Insofern dienten Baugewerkschulen auch der Gewerbeförderung, da sie das Berufsbild selbstständiger Baumeister zum Ziel hatten, die Bauwerke vom Entwurf bis zur Ausführung errichten können. Im Zuge des Wachstums der Städte im 19. Jahrhundert erhöhte sich der Bedarf an solchen Baumeistern enorm. Somit konkurrierten die Baugewerkschulen zur Jahrhundertwende unmittelbar mit den Technischen Hochschulen, an denen akademisch geschulte Architekten ausgebildet wurden. Die 1903 gegründete Standesvertretung Bund Deutscher Architekten (BDA) beklagte damals, dass nur 10 % der Bauaufgaben von Architekten, aber 90 % von Baumeistern und somit Absolventen von Baugewerkschulen ausgeführt wurden – was den Erfolg dieses Schulmodells illustriert.

Die Schulgründungen des 19. Jahrhunderts

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden im heutigen Niedersachsen sechs Baugewerkschulen. Diese Vielzahl spiegelt noch die damalige politische Gliederung in mehrere eigenständige Staaten wider, die erst 1946 mit Gründung des Landes Niedersachsen in ein gemeinsames Staatsgebilde überführt wurden.

Als erste Baugewerkschule wurde 1830 im damals Braunschweigischen Holzminden eine sogenannte Winter-Bauschule gegründet. Ihr Gründer und erster Leiter bis 1864, Friedrich Ludwig Haarmann, war seit 1824 als Baukondukteur des Herzogtums Braunschweig in der damaligen Enklave Holzminden tätig. Da die 1821 in Kraft getretene neue Gildenordnung des Herzogtums eine Meisterprüfung für Bauhandwerker vorsah, begann Haarmann 1830 damit, Privatunterricht in den Fächern Zeichnen und Mathematik zu geben. Zum Winter 1830/31 mit sieben Schülern gestartet, wurden bereits 1832 zwei weitere Lehrkräfte angestellt. Ab 1838 diente das Davin’sche Haus als neues Domizil der Schule, deren Lehrtätigkeit 1861 auf das ganze Jahr ausgedehnt wurde. Nachdem der Schulbetrieb 1896 vom Herzogtum an die Stadt Holzminden übergeben worden war, konnte die Schule 1902 mit einem repräsentativen Neubau am nach dem Schulgründer benannten Haarmannplatz ein eigenes Schulgebäude beziehen.

Ebenfalls als private Zeichenschule wurde im Königreich Hannover 1831 in Nienburg an der Weser vom Architekten Bruno Emanuel Quaet-Faslem eine Realschule für das Bauwesen gegründet. Erst nach dessen Tod 1853 wurde sie in eine staatliche Baugewerkschule überführt und bezog einen eigens errichteten Neubau. Die Schülerzahlen wuchsen beständig, 1902 wurde eine Tiefbauabteilung eingerichtet und 1908 ein nördlich angrenzender Erweiterungsbau eingeweiht.

Unmittelbar nach Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 wurden zahlreiche neue Schulen ins Leben gerufen. So entstand 1875 in Buxtehude eine Technische Fachschule, die 1890 zur Baugewerkschule umbenannt wurde. Von nur kurzer Dauer war ein 1874 in Bad Münder gegründetes Technikum, das 1876 nach Rinteln verlegt, dort aber bereits 1883 wieder geschlossen wurde. Ebenfalls eine bewegte Geschichte weist die Baugewerkschule im damaligen Großherzogtum Oldenburg auf, die ursprünglich 1877 in Aumund-Vegesack eröffnet wurde. 1882 erfolgte eine erste Verlegung nach Oldenburg, 1895 eine zweite nach Varel, wo auch ein repräsentativer Neubau entstand. 1928 kam es zur Rückverlegung nach Oldenburg, wo die nun in „Hindenburg Polytechnikum“ umbenannte Schule das ehemalige Garnisonslazarett in der Willersstraße bezog. Jüngste der niedersächsischen Baugewerkschulen ist die Schule in Hildesheim die 1899 gegründet wurde und 1900 den Schulbetrieb aufnahm. 1901 bezog sie einen eigenen Neubau.

Von der Baugewerkschule über die Fachhochschule in die Gegenwart

Im 20. Jahrhundert wandelte sich das Profil der Baugewerkschulen beständig. Nach Ende des Kaiserreichs 1918 erfolgte im Umfeld neuer politischer Rahmenbedingungen in der Weimarer Republik zunächst Umbenennungen in Technische Lehranstalten, wie sie 1930 in Hildesheim und 1931 in Oldenburg vollzogen wurde. Das Lehrangebot wurde weiter ausgebaut und in verschiedene Disziplinen, insbesondere mit der Unterscheidung zwischen Hoch- und Tiefbau, aufgegliedert. Im Dritten Reich erhielten die ehemaligen Baugewerkschulen eine neue Bezeichnung als Staatsbauschulen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Epoche des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders, erfolgte schließlich 1959 eine erneute Umbenennung der fünf Einrichtungen als Staatliche Ingenieurschulen.

Die bundesrepublikanischen Bildungsreformen ab Mitte der 1960er Jahre führten zu einer Restrukturierung der gesamten Hochschullandschaft. Die Ingenieurschulen, denen ihr immer noch schulartiger Charakter schon im Namen eingeschrieben war, erweiterten sowohl ihre Lehrangebote als auch ihre Lehrkapazitäten. Als Konsequenz dieser Entwicklungen kam es 1971 zur landesweiten Einrichtung von Fachhochschulen, die ihren gewachsenen Ausbildungsanspruch nun auch namentlich zu erkennen gaben. Dazu fusionierten etliche Ingenieurschulen. Die beiden ehemaligen Baugewerkschulen in Hildesheim und Holzminden gingen, zusammen mit der Hildesheimer Fachschule für Sozialpädagogik, in der Fachhochschule Hildesheim/Holzminden auf. Die ehemalige Baugewerkschule in Nienburg fusionierte mit der Werkkunstschule Hannover zur Fachhochschule Hannover. Die ehemalige Baugewerkschule in Buxtehude wurde mit der Ingenieurakademie für Wasserwirtschaft, der vormaligen Wiesenbauschule Suderburg, zur Fachhochschule Nordostniedersachsen zusammengelegt. Und die ehemalige Baugewerkschule in Oldenburg schloss sich mit der Seefahrtschule in Elsfleth zur Fachhochschule Oldenburg/Elsfleth zusammen. In gleichartiger Weise entstanden 1971 darüber hinaus auch noch die Fachhochschulen Braunschweig/Wolfenbüttel, Wilhelmshaven, Osnabrück und Ostfriesland.

Zur Jahrtausendwende erlebte die Hochschullandschaft eine weitere Phase des Umbruchs. Durch neue fachliche Fokussierungen, Privatisierungsmaßnahmen sowie die Aufgabe einzelner Standorte sollte das staatliche Bildungswesen schlanker und flexibler gestaltet werden. Mit der Aufgabe des recht trockenen Begriffs der Fachhochschule zugunsten neuer, wohlklingender Eigennamen entwickelte sich zudem eine neue Form der Selbstdarstellung. Im Nordwesten Niedersachsens fusionierten im Jahr 2000 die drei Fachhochschulen Oldenburg/Elsfleth, Wilhelmshaven und Ostfriesland. Die derart neu gebildete Einrichtung, in der unter anderem die ehemalige Baugewerkschule in Varel und Oldenburg aufgegangen ist, nahm 2009 den Namen Jade Hochschule an. Die Fachhochschule Hildesheim/Holzminden, die sich auf die beiden ehemaligen Baugewerkschulen jener Städte zurückführt, nahm 2003 den Namenszusatz HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft an, der seitdem als Markenzeichen dieser Hochschule fungiert. Die Fachhochschule Hannover entschloss sich 2003 dazu, den Standort der ehemaligen Baugewerkschule in Nienburg aufzugeben. Nach der Schließung des dortigen Fachbereichs zum Ende des Wintersemesters 2008/09 wurde das Gebäude von der Polizeiakademie Niedersachsen übernommen, sodass diese Bildungsstätte weiterhin Teil der Niedersächsischen Hochschullandschaft ist. Auch der Standort der ehemaligen Baugewerkschule in Buxtehude wurde 2005 geschlossen, als die Fachhochschule Nordostniedersachsen mit der Universität Lüneburg fusionierte. Die Schule wird seitdem jedoch als im selben Jahr neu gegründete Hochschule in privater Trägerschaft fortgeführt, die seitdem als Hochschule 21 firmiert. So sind die fünf im 19. Jahrhundert gegründeten Baugewerkschulen bis heute in der Hochschullandschaft von Niedersachsen präsent.

Literatur:

Jürgen Lecour: Bauschulen, Baugewerkschulen, Polytechniken. In: Ralph Johannes (Hg.): Entwerfen. Architektenausbildung in Europa von Vitruv bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Hamburg, 2009

Ulrich Pfammatter: Die Erfindung des modernen Architekten. Ursprung und Entwicklung seiner wissenschaftlich-industriellen Ausbildung. Basel, 1997

Staatsbauschule Nienburg (Hrsg.): 100 Jahre Staatsbauschule Nienburg-Weser 1853-1953. Nienburg (Weser), 1953

Staatsbauschule Holzminden (Hrsg.): 125 Jahre Staatsbauschule Holzminden. Festschrift der Staatsbauschule und der Altherrenvereinigung der Staatsbauschule Holzminden. Holzminden, 1956

Altherrenverband der Staatsbauschule Hildesheim (Hrsg.): Festschrift zur 50-Jahrfeier der Staatsbauschule Hildesheim 1900 – 1950. Hildesheim 1950

Dr.-Ing. Kaftan: Die Staatliche Baugewerkschule Buxtehude, in: H. P. Siemens (Hrsg.): Buxtehude und das Alte Land. Kiel 1929, S. 14-18

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.