Hollerlandschaft Altes Land

Von Alexandra Kruse, Susanne Höft-Schorpp und Silvia Hotopp-Prigge

Das Alte Land repräsentiert eine einzigartige im 12. und 13. Jahrhundert planmäßig durch holländische Siedler gestaltete, lineare Kulturlandschaft. Wir sprechen von einer Hollerkolonie, da sie maßgeblich durch niederländische Wasserbauexperten geschaffen worden ist. Hollerkolonien sind Zeugnis eines historischen Vorgangs, der seit dem Hochmittelalter bis in die Neuzeit in vielen europäischen Feuchtgebieten, insbesondere an Flüssen und Küsten, stattfand. Dementsprechend finden wir diesen Landschaftstyp in vielen Gebieten in Deutschland, z.B. an der Weser, im Oderbruch oder eben in den Elbeniederungen, daneben aber auch in Frankreich, Südostengland, Polen, Dänemark und natürlich in den niederländischen Ursprungsgebieten.

Das Alte Land im Landkreis Stade liegt im Urstromtal der Elbe mit überwiegend natürlichen Grenzen: im Norden die Elbe, im Süden ein Moorgürtel und die hohe Geestkante, im Westen die Schwinge sowie im Osten die Süderelbe und die Moorwettern bei Hamburg-Moorburg. Die Flüsse Lühe und Este gliedern das Alte Land in drei Bezirke, die im Zuge der Hollerkolonisation jeder für sich von einem Deichring aus Elbdeich, Fluss- und Hinterdeichen umschlossen wurden und welche seitdem als die Drei Meilen bezeichnet werden.

Die Kulturlandschaft Altes Land ist geprägt durch das ursprüngliche Entwässerungssystem aus Gräben, Wettern und Fleeten, Sielen, Schleusen und Schöpfwerken sowie der Streifenparzellierung der Deich- und Marschhufen.

Holländische Wasserbauingenieure formen eine europäische Landschaft

Im 11. und 12. Jahrhundert fanden in der Kulturgeschichte Europas verschiedene technische und gesellschaftliche Innovationen ihren Anfang. Diese beziehen sich unter anderem auf die Architektur, vor allem jedoch auf Kultivierungstechniken, also die Gewinnung von nutzbarem Land für Siedlungs- und Landwirtschaftszwecke. Im Gebiet der heutigen niederländischen Provinzen Zuid-Holland und Utrecht entwickelte sich eine ganz spezielle holländische Wasserbautechnik, mit der neue Flächen erschlossen werden konnten. Im Alten Land nahm die Hollerkolonisation ihren Anfang mit einem Vertrag, den Erzbischof Friedrich von Hamburg-Bremen um 1113 mit sechs Holländern, angeführt von einem Lokatoren, schloss. Die holländischen Siedler kamen, weil ihnen persönliche Freiheit und vererbbarer Landbesitz vertraglich zugesichert wurde. Im Zuge der Hollerkolonisation wurde diese Form der Plansiedlung, die in Holland „Cope“ (daher stammen die Ortsnamen auf -kop) genannt wurde, seit Anfang des 12. Jahrhunderts auf die Weser- und Elbmarschen übertragen. Die Kolonisation begann in den 1130er Jahren östlich von Stade in Hollern, welches früher Ditkerskop hieß und erreichte um 1140 die Lühe. 1197 ist von „den Holländern an der Este” die Rede und bis 1236 war schließlich auch die Dritte Meile erschlossen. Bis heute bewahren z.B. Flur- und Siedlungsnamen das sprachliche Erbe der niederländischen Kolonisten, insbesondere Namen, die auf –cop enden (Nincop, Ladekop), aber auch Hollern leitet sich von den „Holländern“ ab.

Die aus den heutigen Niederlanden stammenden Kolonisten (Wasserbauingenieure, Arbeiter und Landwirte) haben über Jahrhunderte eine besondere Kulturlandschaft mit holländischem Recht, Traditionen und gesellschaftlichen Herausstellungsmerkmalen geschaffen. Die Siedler schufen innerhalb von 100 Jahren in akribischer Handarbeit eine hochproduktive, bis heute funktionale Deich- und Marschhufenlandschaft. Nur mit den technischen Mitteln des Mittelalters entstand ein bis heute im Wesentlichen erhaltenes 12.000 km langes Grabennetzwerk mit berechnetem Gefälle, ausgefeilten Entwässerungsstrukturen, regelmäßig vermessenen Flurstücken mit Hofstätten, Deichen und Siedlungen. Die Anlage von Haupt- und Seitenkanälen zusammen mit den natürlich vorhandenen Füssen Lühe, Este und Schwinge, haben die Landschaft nutzbar gemacht und geben dem Alten Land außerdem eine wichtige Transportstellung im Hinterland von Hamburg. Prächtige Altländer Höfe, Kulminationspunkt in der Entwicklung des Norddeutschen Fachhallenhauses, zeichnen sich durch ihre prunkvolle Architektur und ihre längliche Hofanlage aus, in welcher die Gebäude hintereinander liegen, der Landschaftsstruktur folgend.

Hollerkolonie – ein europäischer Landschaftstyp

Während die niederländischen Hollerkolonien als Mutterlandschaften bezeichnet werden, nennt man die später entstandenen Tochterlandschaften. Das Alte Land nimmt eine besondere Stellung unter den Tochterlandschaften ein, weil hier die Kulturleistung besonders gut bewahrt ist. Die mittelalterlichen Strukturen sind hier bis heute, z.T. unverändert erhalten, in Nutzung und im Landschaftsbild ablesbar, was insbesondere im Luftbild gut erkennbar ist. Gleichzeitig hat es sich in eine hochproduktive, moderne Landschaft weiterentwickelt, die von jeher geprägt ist durch den Umgang des Menschen mit den spezifischen Gegebenheiten einer Flussmarsch. Heute beherbergt das Alte Land das größte geschlossene Obstanbaugebiet Deutschlands. Rund 90% der niedersächsischen Äpfel werden hier erzeugt. Der Obstbau blickt auf eine lange Tradition zurück. Aus den Stader Stadtbüchern wird für den 25. März 1312 ein Obstgarten (pomarium) erwähnt, was als urkundlicher Anfang des Obstbaus genommen wird. Nach dem Rektifikations-Protokoll umfasste der Obstbau im Jahre 1657 schon 743 Obsthöfe mit 202 ha und 11,5 Ar.

Hollerkolonien sind als europäischer, historisch bedeutsamer Landschaftstyp wie folgt charakterisiert:
  • Es sind Landschaften, die im Zuge der sogenannten inneren Kolonisation entstanden sind. Sie sind ein europäisches kulturelles Erbe und Zeugnis einer Epoche, die mit den Vorgängen an der Niederelbe im 12. Jahrhundert ihren Anfang nahm.
  • Hinter diesen Kultivierungslandschaften stecken Ideen und Wissen. Hierbei handelt es sich um immaterielles Kulturerbe, welches über Generationen weitergegeben worden ist.
  • Das Alte Land ist die wahrscheinlich besterhaltene europäische Tochterlandschaft, ein besonders gut erhaltenes Beispiel einer „Hollerkolonisation“, also einer inneren Kolonisation, die immer von „Holländern“ ausging. Demzufolge sind diese Landschaften kulturgeschichtlich miteinander vernetzt und Teil unseres europäischen kulturellen Erbes.
  • Kultivierungslandschaften in Feuchtgebieten lassen sich weltweit finden. Die zugrunde liegenden Prinzipien sind universell. Die holländische Wasserbautechnik mit regionalen Lösungen ist jedoch wiederum einzigartig und in Europa über Jahrhunderte bis heute überliefert.

Historische Beetgrabenstruktur
Das Altes Land ist geprägt durch seine längliche, gleichgroße, parallele Feldflur, welche von parallelen Gräben (Haupt- und Nebengräben) durchzogen ist. Die Flurmaße der mittelalterlichen Landvermessung sind bis heute erkennbar und entsprechen den Maßen der holländischen Mutterlandschaften. Zeitgleich mit den ersten Deichen erfolgte die planmäßige Parzellierung und die Anlage der Entwässerungsgräben. Im Abstand von 15 bis 20 m verliefen sie senkrecht zum Deich in eine parallel zum Deich verlaufende Wettern, die das Wasser per Siel durch den Deich in den Fluss leitet. Nach der Kultivierung verfügten die Kolonisten über gleich große, standardisierte streifenförmige Hufen.

Die Entwässerung
Das Entwässerungssystem im Alten Land ist eine beeindruckende Ingenieurleistung der frühen Hollerkolonisation und bis heute in Funktion. Die Herausforderung bestand darin, das Binnenwasser von den tiefliegenden Bereichen im Sietland durch das Hochland und durch die Deichkörper abzuführen. Dabei wurden die natürlichen Priele und Bäche in das Entwässerungssystem – bis heute erkennbar an der Bezeichnung Fleet – ebenso genutzt wie die künstlich angelegten Wettern. Von dort wurde das Wasser in die Flüsse durch tief in den Deichen liegende Siele und Schleusen abgeleitet. Diese öffneten und schlossen sich selbsttätig durch den wechselnden Wasserdruck bei Ebbe und Flut. Durch das Absinken des Grundwasserspiegels im Zuge der Entwässerung, wurden in der Frühen Neuzeit erste kleinere Siele aufgehoben und durch größere Schleusen ersetzt. Mitte des 20. Jahrhunderts begann man Gräben zwischen den schmalen Stücken durch Rohrleitungen zu ersetzen und die sehr tiefliegenden Flächen nahe der Moore über motorisierte Pumpen zu entwässern. Inzwischen dienen die Entwässerungsstrukturen auch der Bewässerung und die rein mechanischen Siele und Schleusen wurden vielerorts durch Pumpwerke und motorisierte Schöpfwerke ersetzt, um den Wasserstand gezeitenunabhängig regulieren zu können. Trotzdem ist auch heute noch an der Wasserfahne eines Grabens erkennbar, ob gerade Ebbe oder Flut herrscht.

Die Rechte der Holländer
Die Kolonisten brachten nicht nur ihr wasserbauliches Wissen mit, ihnen wurde auch gestattet, nach ihren eigenen Regeln zu leben. Sie waren freie Bauern auf eigenem Land. Das war zu dieser Zeit etwas Besonderes. Dass sie Eigentümer waren, bedeutete auch, dass sie vererben durften. Das Zusammenleben dieser holländisch geprägten Gesellschaft wurde grundlegend durch das Deichgesetz bestimmt. Die „Reformatio des Landrechts von 1517", um 1580 niedergeschrieben, enthält Rechtsbelehrungen des Landgräftings an die Untergerichte.
Ohne Deich kein Land. Von Beginn an begleitet die Altländer die Angst vor Sturmfluten. Bracks zeugen von Flutkatastrophen und dem Kampf der Altländer um ihre kostbare Kulturlandschaft. Wer seiner Deichpflicht nicht nachkam, dem drohte die Enteignung. Bis nach der Sturmflutkatastrophe 1962 die Kommunionsdeichung eingeführt wurde, galt das Prinzip der Kabeldeichung, d.h. jedes Stück Deich war dem jeweils anliegenden Grundeigentümer zugeteilt. Zu den Rechten, die die holländischen Siedler mitbrachten, gehörten u.a. Jüngstenerbrecht, Frauenrechte und Näherecht. Sie alle dienten dazu, die Höfe zu stärken. Es herrschte eheliche Gütergemeinschaft und ein besonderes Erbrecht. Ein gemeinsam verfasstes Testament konnte nicht einseitig zum Nachteil des anderen verändert werden. Verstarb einer der Eheleute, so musste der Überlebende die Hälfte aller Güter mit den nächsten Erben teilen, außer den Immobilien – diese verblieben ungeteilt bei einer einzigen Person. Denn nur ein Hof, der ausreichend groß war, garantierte ausreichenden Wohlstand, um der Deichpflicht nach zu kommen. Auch eine Tochter konnte den Hof erben, weshalb Bildung für beide Geschlechter eine große Rolle spielte. Jeder Grunderwerb unterlag der Bestätigung durch den zuständigen Deichverband. Kauf- und Übergabeverträge regelten die Hofübergabe und das Altenteil.
Die Deichverfassung wird als Grundlage für die autonome Landesgemeinde Altes Land angesehen. Bereits im 14. Jahrhundert wurde sie durch gewählte Hauptleute und den gewählten Oberbürgermeister nach außen vertreten. Der Adelseinfluss war hier eher gering, weil viele Adelsfamilien im 12. Jahrhundert nach Osten abwanderten. Die Altländer bewahrten immer ihr Recht auf Selbstverwaltung. Die seit dem Mittelalter praktizierte Trennung von Verwaltung und Gerichtsbarkeit in der Landesgemeinde nahm vorweg, was erst ab 1852 unter hannoverscher Herrschaft einheitlich eingeführt wurde. Die Verwaltungseinheit endete 1937 mit dem Groß-Hamburg-Gesetz. Seitdem verläuft die Landesgrenze zwischen Hamburg und Niedersachsen durch die Dritte Meile des Alten Landes und gliedert das Alte Land somit in einen niedersächsischen und einen Hamburger Teil.

Die Altländer Architektur
Im Alten Land gab es keine Zunftpflicht. Zusammen mit dem Wohlstand der Altländer Bauern, Händler und Schiffer, führte dies zu einer besonders hohen Handwerkerdichte. Die kunstvollen Prunkgiebel mit verzierten Knaggen und aufwendig ornamentiertem Buntmauerwerk weisen im Vergleich mit Fachhallenhäusern anderer Regionen einen außergewöhnlichen Formenreichtum des Goldenen Schnitts auf. Die prächtigen Höfe mit Brauttüren, Giebelschwänen, Prunkpforten und vielen anderen architektonischen Besonderheiten werden bis heute erhalten. Holz und Steine waren in der Flussmarsch selten, weshalb das Baumaterial von den Obsthändlern per Schiff als Rückfracht eingeführt wurde. Um Denkmale bei Straßenverbreiterungen oder Umnutzung der Gebäude nicht abzureißen, wurde eine Technik genutzt, um gesamte Gebäude zu verschieben oder zu drehen. Hervorzuheben sind ebenfalls die Altländer Kirchen und die außergewöhnliche Orgeldichte. St. Mauritius in Hollern, mit einer von sieben Arp Schnitger Orgeln im Alten Land, stammt aus dem 11./12. Jahrhundert ist das einzig erhaltene Bauwerk aus der Hollerzeit.


Zum Weiterlesen:

  • Glossar der Fachbegriffe zum Alten Land
  • Horst Dippel & Claus Ropers (Hrsg.) (2018): „Das Alte Land von A bis Z, Lexikon einer Elbmarsch“ in Zusammenarbeit mit Robert Gahde und Susanne Höft-Schorpp. Husum Druck- und Verlagsgesellschaft mbH u. Co.KG, Husum, herausgegeben von der Kulturstiftung Altes Land.
  • "Länderübergreifende Kulturlandschaftsanalyse Altes Land“ von 2007 durch Dr. Klaus-Dieter Kleefeld M.A., Drs. Peter Burggraaff, Beate Lange M.A. im Auftrag der Behörde für Stadtentwicklung Hamburg und dem Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege
  • Weitere Informationen über die Norddeutsche Orgelkultur im Denkmalatlas Niedersachsen


Autorinnen:

Dr. Alexandra Kruse, insitu World Heritage consulting

Susanne Höft-Schorpp und Silvia Hotopp-Prigge, Verein für die Anerkennung des Alten Landes zum Welterbe der UNESCO e.V.

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