Sparkasse Karmarschstraße: Architektur der Spätmoderne in Hannover

von Sonja Olschner

Das 1972–73 von der Architektengemeinschaft Hiltmann-Piper-Bollmann realisierte und 2004 vom Architekturbüro schulze & partner teilsanierte Sparkassengebäude besetzt die Platzfläche nördlich der Markthalle an der Ecke Karmarsch - und Marktstraße. Es markiert die Schnittstelle zwischen der eingeschossigen Markthalle und der niedrigzonierten Straßenrandbebauung entlang der in der Wiederaufbauzeit verbreiterten Karmarschstraße.

Durch das leichte Zurücktreten des Sparkassengebäudes aus der Straßenflucht wird dessen Solitärwirkung unterstrichen. Der freistehende Baukörper entwickelt sich über einem annähernd quadratischen Grundriss, dessen Ecken durch Rundungen entschärft sind. Die horizontale und in allen Geschossen variierende Fassadengliederung erhält durch den an der Nordfassade vorgezogenen und an der Ostfassade integrierten Treppenhauskern vertikale Gegenbewegungen. Lichtfuge und Fensterband an den beiden Treppenhäusern betonen jeweils die aufstrebende Wirkung. Über dem deutlich zurückspringenden Erdgeschoss, das die Stützen des Stahlbetonskelettbaus freistellt, sind die in offenem Grundriss gestalteten Obergeschosse stufenweise auskragend angeordnet. Die vertikalen Tragelemente werden im ersten Obergeschoss als kantige Wandschwerter zu einem plastischen Bestandteil der Fassade. Dem Flachdach, auf das das nördliche Treppenhaus übergreift, sind deutlich hinter die Dachkante zurücktretende Aufbauten aufgesattelt, die Technikräume, Aufzugsüberfahrten und eine Hausmeisterwohnung mit Dachterrasse beherbergen. Sämtliche Dachaufbauten liegen hinter sorgfältig ausgearbeiteten Wandbekleidungen aus Strukturbeton und braun eloxiertem Leichtmetall.

Das Gebäude weist nach dem ursprünglichen Entwurf eine zunehmende Verringerung der Fensterflächen mit steigender Geschosszahl auf. Dieser Gestaltungsaspekt entwickelt sich vom raumhoch verglasten Erdgeschoss über die lang gestreckten Fensterbänder im ersten und bauzeitlich vertikale Fensterschlitze im zweiten Obergeschoss bis zu den fensterlosen Umhüllungen der Technikaufbauten auf dem Dach.

Die horizontale Fassadenlinie erinnert im Zusammenwirken mit der additiven Baukörpergestaltung an Architekturmotive der Klassischen Moderne, insbesondere an die 1928–31 von Le Corbusier erbaute Villa Savoye in Poissy bei Paris. Das französische Villengebäude stellt ein gebautes Manifest der von Le Corbusier 1927 im Rahmen der Bauhaus-Ausstellung der Weißenhofsiedlung postulierten Fünf Punkte zu einer neuen Architektur dar (Le Corbusier, S. 6–7). Die funktionelle und konstruktive Trennung der Bauteile ermöglicht eine freie Grundrissgestaltung, die Freistellung der Stützen (Pilotis) im Sockel, neue Öffnungsmöglichkeiten der Fassaden mit Langfenstern und eine freie Fassadengestaltung. Ein wesentliches Motiv ist der Dachgarten und damit die Ausbildung des Daches als fünfte Fassade.

 

Die der Funktion folgende, klare Form der französischen Vorkriegsmoderne mutiert bei dem Sparkassenbau in Hannover jedoch zu einer skulpturalen Körperlichkeit mit besonderer Betonung des zweiten Obergeschosses als überdimensionierte Attika. Das klassisch moderne Motiv des historischen Referenzgebäudes ist hier von der neuen Zeitschicht der Spätmoderne überschrieben, die durch die großflächige Anwendung zeittypischer Strukturbetonoberflächen erlebbar wird. Die groben, sandgestrahlten Riffelbetonstrukturen definieren die Fassadenflächen des zweiten Obergeschosses und der beiden Treppenhäuser. Die expressive Bildhaftigkeit erfährt eine Steigerung durch die komplementär glatten und hellen Oberflächen von Stützen, Pfeilern und Brüstungen im Erd- und Obergeschoss.

Das solitäre Bankgebäude, das auch in der Tradition des Spätwerks Le Corbusiers steht – insbesondere der Regierungsbauten in Chandigarh (1952–62) – provoziert in seiner kubischen Form Vergleiche mit der 1968 vom amerikanischen Architekten Philip Johnson erbauten Kunsthalle in Bielefeld, dem einzigen Kulturbau Johnsons in Deutschland. Die Verwandtschaft beider Bauten wird, trotz andersartigem Fassadenmaterial, durch die Solitärstellung, die klare Geometrie, die räumlichen Rücksprünge in den unteren Geschossen und das hohe, auf Pilotis ruhende Obergeschoss deutlich. Die formale Verbindung liegt in den gemeinsamen Wurzeln begründet, die sich aus dem Werk Le Corbusiers einerseits und den zeitgenössischen Projekten des amerikanischen Architekten Paul Rudolph andererseits speisen.

Der Text wurde erstmals veröffentlicht in den Berichten zur Denkmalpflege in Niedersachsen, 36. Jg. (2016), Heft 2, S. 137–141.

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